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08.10.2018 11:03
Werte-Kanon und Leitbild zwischen Marketing und Realität  

Es gibt Trends und Organisationsglaube besonders im Führungskreis und in der Personalentwicklung von Unternehmen, die bisweilen in die Irre führen. Professor Uwe P. Kanning erklärt, warum die hochgelobte "DNA" der Unternehmen weniger Nutzen stiftet als angenommen (Teil A). Er ist seit 2009 Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück. Seine Schwerpunkte in Forschung und Praxis: Personaldiagnostik, Evaluation, Soziale Kompetenzen und Personalentwicklung. Anschließend zeige ich auf, wo Kanning wiederum irrt und was zum Besseren einer Organisation getan werden kann (Teil B).

Teil A

„Glauben auch Sie daran, dass Unternehmenswerte der Schlüssel zum Erfolg sind? Haben Sie sich ein Leitbild gegeben, um Mitarbeiter und Führungskräfte daran einzunorden? Vermitteln Sie auf Ihren Internetseiten eine einzigartige DNA Ihres Unternehmens, um aller Welt kund zu tun, wie der Laden bei Ihnen läuft? Gehen Sie davon aus, dass diese jungen verrückten Leute der Generation Y nach Werten nur so gieren und Ihnen dann die Türen einrennen werden, um bei Ihnen arbeiten zu dürfen?

Herzlichen Glückwunsch, dann bewegen auch Sie sich auf der Höhe aktueller Personaltrends! Sie haben alles richtig gemacht, denn wenn man so denkt wie der Rest der Szene, kann man doch eigentlich gar nicht falsch liegen, oder?

Forschung zeigt: Unternehmenswerte werden überschätzt

Ein Blick in die Forschung zeichnet – wie immer – ein sehr viel kritischeres Bild:

1. Studien, die sich mit der Frage beschäftigen, ob jüngere Menschen deutlich andere Arbeitsmotive – und damit auch arbeitsbezogene Werte – in sich tragen als ältere, fördern nur geringfügige Unterschiede zu Tage. Oft gehen die Unterschiede nicht einmal in die erwartetet Richtung. So interessieren sich jüngere Menschen beispielsweise sogar geringfügig stärker für Geld und Macht als ältere Menschen. Dies ist nicht weiter verwunderlich, denn sie müssen erst noch das erreichen, was ihre Eltern schon erreicht haben.

2. Metastudien, die untersuchen, wie stark die Attraktivität eines Arbeitgebers in den Augen von Bewerbern von den kommunizierten Werten des Unternehmens oder den realen Fakten des Arbeitsplatzes abhängen, zeigen zwar, dass Werte durchaus Einfluss nehmen, die Fakten aber wichtiger sind. Wenn der Arbeitsplatz nicht zu den eigenen Kompetenzen passt, ein lausiges Gehalt gezahlt wird oder man nach Bitterfeld ziehen muss, helfen die schönsten Werte nicht weiter.

3. Die Darstellung von Unternehmenswerten hat durchaus einen positiven Effekt auf Bewerber. Dieser Effekt hängt aber maßgeblich davon ab, wie präzise und glaubwürdig die Angaben des Arbeitgebers sind. Wer nur behauptet, dass man sich für Fairness einsetzt, sagt so gut wie nichts. Ebenso könnte man behaupten, dass Automobilherstellern in erster Linie das Wohl ihrer Kunden am Herzen läge. Überzeugender wird die Geschichte, wenn man differenziert erläutert, was der Arbeitgeber unter Fairness versteht und darüber hinaus belastbare Belege für faires Unternehmensverhalten gibt. Viele Bewerber ist mit bloßen Sprüchen nicht so leicht zu beeinflussen wie herkömmliche Kunden durch die Produktwerbung. Wer dies aus dem Blick verliert, zieht zu viele naive Bewerber an.

4. Die Darstellung von Leitbildern beziehungsweise Unternehmenswerten weckt immer auch Erwartungen. Wer diese nicht erfüllen kann, frustriert die (neuen) Mitarbeiter ohne Not. Die Leistungsstarken sind dann schon bald wieder weg. Übrig bleiben diejenigen, die keine andere Wahl haben.

5. Eine Metastudie, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Leitbildern und Unternehmenserfolg beschäftigt, kommt zu sehr ernüchternden Befunden: Die Existenz von Leitbildern korreliert zu lediglich zwei Prozent mit wirtschaftlichen Kennzahlen. Dabei ist nicht einmal klar, was hier die Henne und was das Ei ist. Es könnte sehr gut sein, dass sich wirtschaftlich erfolgreichere Unternehmen auch eher Leitbilder leisten.

6. Die Idee, dass jedes Unternehmen eine einzigartige DNA habe, die sich in acht bis zehn Unternehmenswerten beschreiben ließe, erscheint angesichts der Tatsache, dass in Deutschland etwa 3,6 Millionen Unternehmen existieren, recht gewagt. Die Anzahl positiv besetzter Werte ist überschaubar und negative traut man sich nicht nach außen zu kommunizieren. Wahrscheinlich reflektieren die vorhandenen Leitbilder eher Wünsche und Ziele der Arbeitgeber, wobei sich die Unternehmen im Vergleich untereinander wenig unterscheiden: mitarbeiterorientierte Führung, Teamgeist, Kundenorientierung, Leistungskraft, Innovation, Fairness, Work-Life-Balance, Offenheit, Toleranz, Umweltschutz und dergleichen. Die Unterschiede liegen eher im Wording und der Vermarktung als in den Inhalten.

7. Es ist zumindest fraglich, ob Großunternehmen überhaupt einen sinnvoll zu beschreibenden Wertekanon besitzen können, der mehr ist als nur die Ansammlung von Sprüchen. Tragen nicht die Leute im Presswerk weitgehend andere Werte in sich als ihre Kollegen im Marketing? Und wie sieht es mit den Mitarbeitern der Personalabteilung im Vergleich zum Lager aus?

Unternehmenswerte müssen die Realität widerspiegeln

Alles in allem sprechen die Befunde dafür, dass Unternehmenswerte kein Schlüssel zum Erfolg darstellen und in ihrer Bedeutung eher überschätzt werden. Richtig eingesetzt dürften sie aber einen kleinen Beitrag zum großen Ganzen leisten können. Wichtig erscheint dabei vor allem, dass die Werte nicht nur auf dem Papier stehen, sondern tatsächlich die Realität widerspiegeln“. Soweit Kanning, der richtige Punkte anspricht. Sie werden indes verursacht von Aspekten, die Kanning völlig unterschätzt und nicht sieht. Was er und Viele nicht sehen und nicht beachten, ist der Prozess in einem Unternehmens, sich über die Orientierungswerte und damit die sozialen. Kommunikativen und ethischen Werte zu verständigen und für verbindlich zu erklären. Dieser Prozess, der sich je nach Größe des Unternehmens zwischen 1 und 4 Jahren dauern kann, ist das eigentlich Entscheidende. Und was nach diesem Prozess passiert. Es reicht nicht aus, den Wertekanon nach dem Motto: gelesen, gelacht, gelocht, geheftet zwischen zwei Aktendeckeln verschwinden oder marketingorientiert auf die Website und in Prospekte bringen zu lassen. Entscheidend ist:

a) Der Prozess muss möglichst alle Hierarchieebenen umfassen und sollte weder von unten nach oben und schon gar nicht von oben nach unten gehen. Fatal, wenn sich den Wertekanon sogar eine externe PR-Agentur und eine Unternehmensberatung ausdenkt und dann mit der Führungsspitze von oben nach unten (top down) an die Mitarbeiterschaft vermittelt. Zielführend ist vielmehr ein Erarbeiten jeweils in den Hierarchiestufen und dann ein Matching-Prozess über mehrere Stufen und Schritte. Das wirkt. So hat die Fairness-Stiftung methodisch in Unternehmen und Organisationen mithelfen können, dass aus einer zufälligen Sammlung von Menschen in einem Unternehmen eine weitgehend konsistente und kohärent kommunizierende und agierende Großgruppe entsteht, ein Groß-Team mit gleichem Sprachgebrauch und gleichsinnigem Handeln – das ist für die Kundschaft und für den Ertrag.

b) Der Prozess darf nicht durchgepeitscht werden, sondern muss eher ein Wachsen ein. An guten Pflanzen zu ziehen, beschleunigt weder das Wachstum noch die Qualität und den Ertrag. Es braucht also Phasen des Kommunizierens, Erarbeitens, Nachdenkens, Prüfens und Nachjustierens. Und die müssen dem Arbeitsprozessen im Unternehmen und dem Rhythmus der Teams und Hierarchieebenen angepasst sein. Also braucht es eben dies genannte Zeit und ist nicht im Handumdrehen zu haben. Die Konstruktion einer größeren Maschine, eines neuen Computers, eines komplexen Gebäudes braucht auch mitunter viel Zeit. Also braucht auch der Werte- und Fairness-Prozess richtig Zeit, wenn es gut werden soll. Oft gehen Unternehmen mit dem Zeitfaktor bei einem solchen Prozess sehr restriktiv um, weil er Geld kostet. Doch für Prozesse im administrativen, produktiven oder unternehmenspolitischen Bereich gibt es oft alle Zeit der Welt. Dieses Missverhältnis in der pekuniären Wertschätzung eines Werte- und Fairness-Prozesses ist dann eine Hypothek dafür, dass alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen den angestoßenen Prozess ausreichend ernst nehmen.

c) Der Prozess braucht methodisch versierte externe Begleiter. Sie sollen sich inhaltlich zurückhalten, jedoch mit Impulsen den Prozess mit am Laufen halten, wie ein Gärtner, der seine Pflanzen gießt und ab und zu mit einem Pflanzstab für Stabilität sorgt. Die Begleiter müssen ausreichend Geduld mitbringen, gute reflektieren können, sehr umseitig sein und auch in Teilen ‚leidensfähig‘, wenn es Rückschläge oder Angriffe auf den Prozess oder die Begleitexperten gibt.

d) Der Prozess selbst ist so zu gestalten, dass schon zu Beginn geklärt werden, in welchem Geist, orientiert an welchen Aspekten dieser Prozess selbst gestaltet sein soll. So sollte das Prozessdesign möglichst nahe an der Unternehmensrealität und zugleich an den gewünschten Werten orientiert sein. Dadurch beginnt ein Korrespondenz-Rhythmus zwischen dem Prozess und dem zu erarbeitenden Wertekanon, dem Reglement, dem Leitbild. Zwischen beiden Seiten startet eine konvergente Entwicklung. Wo dies nicht der Fall ist, gibt es Ansätze für Analysen, woran das liegt, die dann wieder in den Prozess eingespeist und dort verarbeitet werden können. Dazu gehören auch Widerstände und Widerstandsgruppen, deren Widerstandskraft und –inhalte im Prozesse konstruktiv aufgegriffen werden können und ihren Platz bekommen, so wie Unkraut heute als Wildkräuter auch in einem Garten zum gepflegten Teil eines Gartens werden können.

e) Der Prozess braucht einen Vor-Prozess und einen Nach-Prozess. Im Vorfeld muss der Auftrag, die Aufgabe des Prozesses sehr gut geklärt, abgestimmt und verlautbart werden, um möglichst alles anzusprechen und mitzunehmen. Einwände können noch aufgenommen werden, um die Prozess kommunikativ abzusichern. Im Nach-Prozess ist zu realisieren, was im Prozess verabredet wurde, um den Prozess abzusichern, wirksam nach vorn zu gestalten und gegebenenfalls auf Störungen oder Versuche, die Ergebnisse zu unterlaufen, um zu deuten oder zu missachten, zu reagieren. Diesen Teil schenken sich viele Organisationen, weil sie das für verplemperte Zeit und rausgeworfenes Geld halten – „das sind dort Werte, die ohnehin jeder lebt oder leben sollte“. Verkennen aber, dass wie bei Einzelpersonen auch Unternehmen nach einer gewissen Zeit das Vereinbarte aus dem Blick verlieren und bei Werte- und Personenkonflikte die Flinte ins Korn werfen. Denn der Prozess einer Orientierung an verbindlichen Werte und an Fairness erweist sich als anstrengend. Und lieber ist ‚man‘ gewohnheitsmäßig in alten Mustern unterwegs und in seiner Komfortzone bequem aufgehoben. Da weiß man, wie’s läuft und muss nicht mit eigener Unsicherheit und ungewohnter Anstrengung kämpfen auf einem Gebiet, das nicht deckungsgleich ist mit der eigenen Profession.

Doch sollten gerade diejenigen, die ständig den Wandel vorantreiben oder auf den Wandel im Markt und auf technische, organisatorische oder politische Veränderungen reagieren müssen, bei Fragen der Wertorientierung und der Wertekommunikation in Unternehmen die Beharrungszone verlassen. Vorangehen heißt die Devise.

Mehr dazu findet sich in meinem Buch „Fairness“, Gütersloh 2010:
"Das Buch 'Fairness' von Norbert Copray"

sowie noch mehr zum Handlung des Thema im Buch meines Kollegen Dr. Ulrich Wiek
"Fairness als Führungskompetenz"

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