Blog nach Monat: Februar 2021

24.02.2021 08:47
Krasse Unfairness gegenüber Steuerzahlern, Regierungen, Natur und klimabewusster Wirtschaft
Ein Vertrag, der verhindert, dass Regierungen dem Klimawandel entgegen wirken, und der Konzerne ermächtigt, extrem viel Steuergeld abzugreifen. Kann es das geben - einen umfassenden korrupten Vertragsskandal? Ja, gibt es, wie Investigative Europe und Buzzfeeds News schreiben:

>>Der kaum bekannte Energiecharta-Vertrag (ECT) könnte die EU-Staaten in den kommenden Jahren hunderte Milliarden Euro kosten und den Kampf gegen die Klimakrise entscheidend verzögern. Das ist das Ergebnis einer monatelangen "Investigate Europe"-Recherche. Unterschrieben haben den Energiecharta-Vertrag Anfang der Neunzigerjahre einst alle EU-Staaten, auch Deutschland.

Einst sollte die Charta Investitionen in neuen Demokratien mit unsicherer Rechtslage schützen. Doch der Vertragstext ist vage formuliert. Deshalb können ihn heute auch Energieunternehmen nutzen, um EU-Staaten vor internationalen Schiedsgerichten auf Milliarden-Entschädigung zu verklagen, wenn Gesetzgeber neue Klimamaßnahmen beschließen. In den kommenden Jahren könnten Europas Staaten Milliarden an Entschädigung zahlen müssen oder aus Angst davor, geplante Klimagesetze aufweichen. Das ist kein fernes Zukunftsszenario. Es hat bereits begonnen.

Die Recherche zeigt,

- dass das Klagepotenzial unter der Energiecharta immens ist. Das berechnete “Investigate Europe” erstmals. Demnach beträgt der Wert der Öl- und Gas-Felder, der Kohlekraftwerke und Kohleminen sowie der Gaskraftwerke, Pipelines und Flüssiggas-Terminals in der EU, Großbritannien sowie der Schweiz, die durch den Energiecharta-Vertrag geschützt werden, 344,6 Milliarden Euro. Je Einwohner entspricht das mehr als 660 Euro.

- dass vor allem der Wert der Ölfelder (126 Milliarden Euro) sowie der Pipelines (148 Milliarden Euro) zu dem hohen Wert fossiler Infrastruktur in Europa beiträgt. Das ist brisant, denn vielerorts in Europa werden momentan neue kostspielige Gas-Pipelines verlegt. Deren Investoren könnten künftig mit Hilfe der Energiecharta klagen, sollten Europas Staate aus dem Gas aussteigen und die Pipelines obsolet werden.

- dass der Energiecharta-Vertrag einseitig ist. Nur Unternehmen können Klagen. Der schwammige Vertragstext legt zudem nicht fest, wie Entschädigungen berechnet werden sollen. Investoren können auch auf entgangene künftige Gewinne klagen. Das kann zu noch höheren Entschädigungsansprüchen führen. Hat ein Schiedsgericht einen Staat verurteilt, kann dieser kaum Einspruch einlegen.

- dass allein die Möglichkeit einer Klage mittels der Energiecharta ausreicht, um von Staaten Entschädigung in Milliardenhöhe zu erhalten. Erst vor wenigen Wochen garantierte die Bundesregierung dem Kohle-Konzern Leag im Rahmen des Kohleausstiegs eine Entschädigung in Milliardenhöhe. Im Gegenzug gab Leag sein Recht auf mit Hilfe der Energiecharta zu klagen.

- dass bereits eine Klagedrohung ausreicht, um die Klimapolitik von Staaten zu beeinflussen. Als die französische Regierung 2017 ein ambitioniertes Ölförderverbot vorbereitete, teilte der kanadische Ölkonzern Vermilion der Regierung mit, dass die Maßnahme gegen die Energiecharta verstoße. Das finale Gesetz enthielt dann deutlich schwächere Regelungen.

- dass mittlerweile in zwei Dritteln der Energiecharta-Fälle Investoren aus der EU gegen EU-Staaten klagen, obwohl der Vertrag einst konstruiert wurde, um Investitionen in Staaten zu schützen mit unsicherer Rechtslage.

- dass EU-Staaten im Umgang mit der Energiecharta uneins. Gemeinsam einigten sie sich zwar darauf, dass eine Vertragsreform notwendig sei und beschlossen Mitte Februar dieses Jahres eine Verhandlungsposition für die EU-Kommission, doch damit sind nicht alle Staaten zufrieden.

- dass Frankreich und Spanien einen Austritt erwägen. Das zeigen Briefe, die Investigate Europe vorliegen.

- dass selbst mit einer gemeinsamen EU-Linie unklar ist, ob eine Reform des Energiecharta-Vertrags gelingt. Denn der müssten alle Vertragsparteien zustimmen. Japan kündigte bereits an, jegliche Änderungen zu blockieren.

- dass ein vollständiger sofortiger Austritt aus der Energiecharta unmöglich ist. Denn laut Vertragstext können Staaten nach Austritt 20 Jahre lang weiter weiter verklagt werden. Italien verließ den Vertrag 2016, wird aber seit 2017 von dem britischen Öl-Konzern Rockhopper verklagt. Die italienische Regierung hatte ein Verbot von küstennaher Ölförderung beschlossen.

- dass an den Schiedsgerichten ein kleiner Zirkel von Anwälten tätig ist, die mitunter in den Verfahren mal als Schiedsrichter und mal als Anwalt fossiler Konzerne arbeiten. Im Gespräch mit “Investigate Europe” nennt ein Schiedsrichter dies unethisch. Die Gehälter der Schiedsrichter sind zudem nahezu unbegrenzt und werden auch aus Steuergeldern bezahlt.

- dass selbst Juristen das System der Schiedsrichter und des Energiecharta-Vertrags längst kritisch sehen. In Gesprächen mit “Investigate Europe” bezeichneten sie dieses als “russisches Roulette” sowie als “historischen Fehler”.

- dass Mitarbeiter in der Verwaltung des Energiecharta-Vertrages, dem sogenannten Sekretariat, enge Verbindungen zu fossilen Konzernen pflegen. Dabei sollen sie im Auftrag der Vertragsstaaten über die Energiecharta wachen, die Modernisierung betreuen sowie um neue Mitgliedsstaaten werben.

- dass die Vertragsstaaten im Dezember 2019 zwar eine “vorübergehende Pause bei der Ausstellung von Einladungen zum Beitritt zum ECT” beschlossen haben, doch unklar ist, ob ein solcher Expansionsstopp tatsächlich erfolgt. Im Budget des Sekretariats für das Jahr 2021 wird weiterhin rund eine halbe Million Euro für Erweiterungspolitik veranschlagt. Momentan befinden sich 13 afrikanische Staaten im Beitrittsprozess. Kritiker warnen, dass sobald diese Staaten Vertragsmitglieder seien, eine “hohe Wahrscheinlichkeit” bestehe, dass sie ebenfalls verklagt werden.<<

Kommentar in der Frankfurter Rundschau von Joachim Wille dazu:

>>Der Eine Anpassung des Vertrags über die Energiecharta an das „Green Deal“-Projekt der EU ist unmöglich. Es ist notwendig, aus dem Vertrag auszusteigen. Energiecharta-Vertrag? Nie gehört. Oder das Kürzel ECT? Auch nicht? So geht es vielen, eigentlich fast allen. Und doch ist der ECT ein großer Stolperstein auf dem Weg in eine klimafreundliche Zukunft der Europäischen Union, der möglichst schnell aus dem Weg geräumt werden muss.
Eigentlich war der Vertrag in den 90ern erfunden worden, um Investitionen westlicher Unternehmen im Ex-Ostblock vor Willkürmaßnahmen dortiger Regierungen zu schützen. Inzwischen nützen Konzerne das Instrument auch, um gegen politische Entscheidungen von EU-Staaten wie Atomausstieg oder Klimaschutz vorzugehen. Bekannteste Beispiele hierzulande: Die Klage von Vattenfall gegen die Abschaltung von zwei AKW und die von RWE gegen den niederländischen Kohleausstieg. Beides potenzielle Milliardengräber - für die Steuerzahler:innen.
Die aktuelle Recherche von Investigate Europe und BuzzFeed News Deutschland zeigt, dass die Bundesregierung offenbar aus Sorge vor einer Energiecharta-Klage eine weit überhöhte Entschädigung an den tschechischen Leag-Konzern zahlt. Das unterstreicht die Notwendigkeit, endlich aus dem ECT auszusteigen. Denn eine Anpassung dieses Vertrags an das „Green Deal“-Projekt der EU ist offensichtlich unmöglich. Der ECT ist ein Black Deal.<<

05.02.2021 08:37
Twitter ist Gift und hat ein krasses Unfairness-Problem
Aus einem Spiegel-Interview von Nicola Abé (Sao Paulo) mit der Philosophin Djamila Ribeiro. Sie ist das Gesicht der schwarzen brasilianischen Frauenbewegung. Warum sie jetzt Twitter verklagt hat, berichtet sie in diesem Ausschnitt:

SPIEGEL: Gemeinsam mit anderen Frauen verklagen Sie nun Twitter, warum?

Ribeiro: Twitter ist in Brasilien das toxischste aller sozialen Medien, besonders für schwarze Frauen. Es ist gewalttätig. Ich habe keinen Account, aber meine Tochter wurde auf Twitter bedroht, deshalb bin ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Polizei gegangen. Dann beschloss ich, Twitter zu verklagen, weil sie Rassismus und Frauenhass finanziell ausnutzen. Die sozialen Medien verdienen sehr viel Geld mit »Trending Topics«, und was hier sehr gut läuft, sind sexistische, rassistische Beiträge. Twitter macht daraus Geld. Doch was sie tun, hat Auswirkungen, die psychologischen Schäden sind groß, und viele Frauen haben sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und aufgegeben. Für mich ist es wichtig, Twitter zur Verantwortung zu ziehen und nicht eine Einzelperson, die Twitter nutzt. Twitter muss seine Regeln und Maßnahmen verändern, um solche Dinge zu verhindern. In diesem Jahr soll es eine Anhörung mit Vertretern von Twitter geben.

SPIEGEL: Zwei Wochen vor Ende der Amtszeit von Donald Trump sperrte Twitter dessen Account – ein Grund zum Feiern?

Ribeiro: Bolsonaro ist nicht gesperrt. Er verbreitet ständig Fake News, hetzt und attackiert. Ebenso seine Unterstützer. Vor einigen Monaten gab es hier den Fall eines Mädchens. Sie war erst zehn Jahre alt, von ihrem Onkel missbraucht worden und schwanger. In Brasilien ist Abtreibung im Falle einer Vergewaltigung erlaubt. Die Familie beschloss, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Bolsonaros Unterstützer starteten eine Kampagne gegen das Mädchen – auf Twitter. Ihr Name, der Name eines minderjährigen Gewaltopfers, wurde auf Twitter veröffentlicht. Eine Masse an Menschen versammelte sich vor dem Krankenhaus, um sie von der Abtreibung abzuhalten, zu bedrohen und zu beschimpfen. Das alles lief über Twitter. Das Unternehmen unternahm rein gar nichts dagegen. Sie haben die Situation ausgenutzt und zu Geld gemacht. Wie viel von diesem Geld, das Twitter an diesem Wochenende machte, indem es dieses Mädchen bloßstellte, wie viel davon werden sie der Familie wohl spenden?

SPIEGEL: Präsident Jair Bolsonaro erfreut sich gerade großer Beliebtheit. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Ribeiro: Wir haben nicht an Stärke und Zuspruch verloren. Aber seit Bolsonaro regiert, sind wir noch mehr Angriffen ausgesetzt. In kaum einem anderen Land der Welt werden so viele Frauenrechtsaktivistinnen ermordet wie hier. Wir müssen mit einer extremen Rechten umgehen, die das Coronavirus ebenso leugnet wie die Existenz von Rassismus oder Sexismus. Wir müssen Vorurteile und Fake News widerlegen. Auch die evangelikalen Kirchen sind dafür verantwortlich, die in den ärmeren Gesellschaften aktiv sind, Bolsonaro unterstützen und zum Beispiel verbreiten, Homosexualität sei eine Idee des Teufels.

SPIEGEL: Sie bezeichnen den Rassismus in Brasilien als »Projekt«. Was meinen Sie damit?

Ribeiro: Die Leute verbinden mit Brasilien Karneval und Strand. Alle sind fröhlich und leben in Harmonie. Das ist das Bild, das nach außen verkauft wird. Dieses Bild bekämpfen wir – weil es nicht stimmt. Brasilien war das Land, das die Sklaverei als letztes abgeschafft hat. Danach gab es keinerlei Programme zur Inklusion der schwarzen Bevölkerung. Damals entstanden die Favelas, wo die meisten bis heute leben. Schwarze Frauen fingen an, als Haushaltshilfen zu arbeiten, wie sie es bis heute tun.

SPIEGEL: Ist das nicht eher ein Erbe als ein Projekt?

Ribeiro: Rassismus ist ein Projekt, weil täglich schwarze junge Männer von der Polizei getötet werden, weil etwa 2016 alle 23 Minuten ein schwarzer Mensch in diesem Land ermordet wurde und weil nur 13 von 500 Abgeordneten im Kongress schwarze Frauen sind – obwohl wir Schwarzen die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Es gibt diese Idee, dass Hautfarben hier nicht so wichtig seien, dass wir alle ein Mix seien. Doch die Polizei weiß immer, wer schwarz ist. Das Fernsehen weiß immer, wer schwarz ist.

SPIEGEL: Zeigt sich in der Pandemie der Rassismus der Gesellschaft besonders deutlich?

Ribeiro: Rassismus ist ein strukturelles Problem, das sich durch alle Lebensbereiche zieht. Es ist daher wenig überraschend, dass deutlich mehr Schwarze an Covid-19 sterben. Sie haben weniger Zugang zu Bildung, die Hygienebedingungen sind dort, wo sie leben, schlechter. Außerdem sind sie auf die öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen.

"Das ganze SPIEGEL - Interview vom 5.2.2021"

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