Blog nach Monat: Dezember 2020

28.12.2020 10:31
Einen guten Start ins Neue Jahr 2021
wünschen wir Ihnen mit Gesundheit, Lebensfreude, Mut und erfüllenden Begegnungen!

Über Fairness ist ein neues EXTRA erschienen mit
Hartmut Meesmann im Gespräch mit Norbert Copray
>>Unfair sind immer nur die anderen.
Selbstkritik und Mitgefühl können helfen, das eigene Verhalten zu hinterfragen<<

Zur Ansicht, zur Inhaltsübersicht und zur Bestellmöglichkeit des Fairness-EXTRA:

"Fairness-EXTRA-Heft"




18.12.2020 09:14
Pullover aus Kaschmir, Merino oder Unterwäsche aus Angora gefällig? Lieber nicht, zu unfair!
Über „geschundene Tiere, karges Land“ schreibt Hanna Gersmann in der heutigen Frankfurt Rundschau dazu. Denn Kaschmir, Angora und Mohai sind in. Sie stellt fest: „Auch Kaufhäuser und Discounter bieten jetzt Ware aus dem edlen Garn zuhauf an. Doch Tiere und Umwelt leiden.

Sich was Gutes tun, sich einkuscheln, gerade jetzt, vor Weihnachten, in diesem Corona-Jahr: Warum sich nicht einen neuen Kaschmirpullover gönnen? Zumal: Das weiche Garn aus dem Unterhaar der Kaschmirziege liegt nicht mehr nur in edlen Boutiquen zu Verkauf aus. Kaschmirpullover stapeln sich auch auf den Tischen großer Kaufhäuser, selbst bei Discountern ist das einstige Luxusprodukt jetzt zu haben. Nur: Der Trend hat eine nicht so schöne Seite. Denn er schadet den Tieren, und die Natur leidet auch.

Ulrike Schempp ist Professorin für Textiltechnik an der HAW, der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Sie sagt: „Die Haltung von Kaschmirziegen ist eine Industrie geworden, die Raubbau betreibt.“ Mit der rapide gewachsenen Nachfrage – Deutschland gehört zu den vier größten Abnehmern mongolischer Kaschmirwolle weltweit – „leiden immer mehr Tiere“, erklärt auch Kathrin Zvonek vom Deutschen Tierschutzbund: „Die Wollgewinnung ist für sie sehr schmerzhaft.“

Zwar gibt es für die Schnäppchenpreise mehrere Ursachen. Die Pullover sind zum Beispiel dünner, also mit weniger Garn gestrickt. Oder sie sind nicht aus Premiumkaschmir, sondern aus einer billigeren Qualität. Und sie sind nicht immer aus reinem Kaschmir, sondern mit anderem Material gemischt. Doch – egal ob billig oder teuer – entscheidend sei eine Zahl, sagt Zvonek: „27 Millionen“.
27 Millionen Kaschmirziegen werden heute auf den Weideflächen der Mongolei gehalten, sechsmal so viele wie früher – 1990 waren es noch 4,5 Millionen. Der Großteil des weltweit, auch in Deutschland gehandelten Kaschmirs kommt aus der Mongolei, auch aus China. Da die Ziegen das Gras mitsamt der Wurzel fräßen, wachse dort nun nicht mehr viel, erklärt Textilexpertin Schempp. Laut UN seien bereits bis zu 70 Prozent der Weidegründe in der Mongolei massiv überweidet. Schempp: „Flächen sind abgegrast, verwüsten, Sandstürme entstehen.“ Das sei aber nur das eine Problem, das andere: das Tierleid.

In der Mongolei können die Temperaturen im Winter auf minus 30 Grad Celsius absacken. Gegen die Eiseskälte ist die Kaschmirziege gut geschützt, im Herbst wächst ihr ein wärmendes Unterfell. Das ist langes und feines weiches Haar. Und wenn es im Frühjahr wieder wärmer wird, sich der Fellwechsel ankündigt, wird den Tieren dieses Unterfell ausgekämmt. Früher habe das fünf bis sechs Stunden gedauert, sagt Zvonek. Heute sei das anders – „eine Akkordarbeit“.

Bereits im Oktober 2019 machte die Tierschutzorganisation „Peta Asia“ Videoaufnahmen öffentlich, in denen eine ganz andere, eine rabiate Prozedur zu sehen ist. Da drücken Arbeiter blökende Kaschmirziegen gewaltsam zu Boden. „Sie reißen ihnen das Unterfell mit spitzen Metallkämmen regelrecht aus“ sagt Johanna Fuoß von Peta Deutschland – „in rund 50 Minuten pro Tier.“ Dokumentiert seien blutende Verletzungen, ausreichend versorgt würden die Wunden nicht.
„Für einen reinen Kaschmirpullover braucht es das Unterfell von drei bis vier Ziegen“, sagt Tierschützerin Zvonek.

Die Hamburger Stiftung „Aid by Trade Foundation“, 2005 von dem Hamburger Unternehmer Michael Otto gegründet, hat mittlerweile einen Leitfaden für nachhaltiges Kaschmir entwickelt: „The Good Cashmere Standard“. Darin ist vorgeschrieben, wie eine schonendere Haltung der Tiere, der Schutz der Umwelt sowie die Arbeitsbedingungen der Bauern und angestellten Arbeiter gewährleistet werden sollen. Seit vergangener Woche liegen Pullis mit einem entsprechenden Etikett zum Beispiel bei Aldi in den Regalen. Andere Modefirmen wie Cos haben Ähnliches in diesem Winter ins Sortiment aufgenommen.

„Trotz des Standards leiden die Tiere weiterhin erhebliche Schmerzen“, sagt allerdings Zvonek, „denn das schmerzhafte Kämmen und die Fixierung der Tiere mit Seilen bleibt erlaubt.“ Sie rät, ganz auf Kaschmir zu verzichten – und stattdessen eine Alternative zu wählen: Biobaumwolle. Und wenn es unbedingt Wolle sein müsse, dann sei Schafswolle aus Deutschland besser. Denn hierzulande gäbe es immerhin gesetzliche Vorgaben zum Tierschutz und eine adäquate tiermedizinische Versorgung.

„Die Modeindustrie wird nicht so schnell komplett auf Kaschmir verzichten“, sagt indes Tina Stridde, die Geschäftsführerin des „The Good Cashmere Standard“. Und weiter: „Wir finden es besser, uns stattdessen für mehr Tierwohl in Haltung und Schur der Ziegen einzusetzen. Wir schließen die Kämmprozedur nicht aus, wir schreiben aber zum Beispiel vor, dass die Arbeiter dafür richtig ausgebildet werden und ihre Instrumente in Ordnung sein müssen.“

Bleibt am Ende noch ein Tipp der Textilexpertin Schempp. Sie meint, Verbraucher sollten sich öfter folgende Frage stellen: „Trage ich das eigentlich alles?“ Meistens läge der eine oder andere Kuschelpulli doch ohnehin schon im Schrank“.

14.12.2020 09:27
Wie fair ist das Sandmännchen? Faire Kuscheltier und faires Spielzeug durch die Fair Toys Organisation (FTO)
"Das Sandmännchen ist fair", stellt Hannes Koch in der Frankfurter Rundschau heute fest. Und weiter: "Was soll man von dem seit 1959 bei Kindern und Eltern beliebten Gute-Nacht-Begleiter auch sonst denken? Heute kommt die Figur in ihrer Plüsch-Puppen-Variante zwar aus China – über schlechte Qualität, gefährliche Materialien oder miese Arbeitsbedingungen in den Fabriken müsse man sich aber keine Sorgen machen, heißt es bei der Firma Heunec im bayerischen Neustadt unweit Coburg.

Zwei Millionen Plüschtiere und -Puppen lässt das Unternehmen jährlich in China fertigen, auch das Sandmännchen. Dass die Bedingungen dort in Ordnung sind, ist Firmenchefin Barbara Fehn-Dransfeld ein Anliegen. „Unsere Partner in China bestätigen uns, dass sie ihren Beschäftigten beispielsweise deutlich mehr zahlen als die niedrigen, staatlich festgesetzten Mindestlöhne“, sagt die Heunec-Miteigentümerin.

Damit die Spielzeugbranche insgesamt höhere Standards akzeptiert, hat Fehn-Dransfeld die Fair Toys Organisation (FTO) mitgegründet und arbeitet dort im Vereinsvorstand. Beigetreten sind bisher zehn Unternehmen, darunter Fischertechnik und Zapf Creation. Das ist jedoch nur ein Anfang: Der Marktanteil dieser Firmen liegt deutlich unter zehn Prozent der Branche in Deutschland. Mit zweistelligen Millionenumsätzen und 30 Leuten spielt Heunec in der Regionalliga der hiesigen Spielzeugindustrie.

Der existenzsichernde Lohn ist ein wichtiger Punkt im Verhaltenskodex der Organisation. Wer der FTO beitritt, verpflichtet sich dem Ziel, dass die Beschäftigten der ausländischen Zulieferfabriken mehr Geld bekommen als die meist spärlichen Mindestlöhne. Genaue Zahlen enthält der Kodex jedoch nicht. Weitere Regeln besagen beispielsweise: Das Personal soll regelmäßig nicht länger als 48 Stunden wöchentlich arbeiten, ein freier Tag pro Woche ist Pflicht. Gewerkschaften dürfen gegründet werden.
„Die Mitgliedsfirmen sind verpflichtet, sich den Zielen aus dem Verhaltenskodex fortschreitend anzunähern“, erklärt FTO-Initiator Maik Pflaum von der Christlichen Initiative Romero (CIR) in Nürnberg. „Sie müssen konkrete Schritte benennen und diese auch nachweisbar umsetzen.“ Die Organisation beschreibt den Weg, weiß aber, dass es selbst bei den Mitgliedsfirmen durchaus Defizite gebe. „Wer behauptet, Arbeitsrechtsverletzungen zu 100 Prozent ausschließen zu können, ist unehrlich“, heißt es auf ihrer Internetseite.

Fehn-Dransfeld räumt ein Spannungsverhältnis auch in ihrem Unternehmen ein. „Die Entlohnung in den chinesischen Firmen, die Heunec-Produkte fertigen, ist existenzsichernd“, sagt sie einerseits. Andererseits kontrolliert der deutsche Betrieb diese Informationen aus China bisher weder selbst, noch lässt er sie von beauftragten Zertifizierungsorganisationen überprüfen. „Das Thema steht aber auf der Agenda“, sagt Fehn-Dransfeld. In Zukunft wird das nicht mehr reichen. Dann müssen Heunec und andere Firmen genauer hinsehen, die Bedingungen in ihren Lieferketten dokumentieren, sowie Realität und Ziele zur Deckung bringen.

Das macht Arbeit und kostet Geld. Warum unterzieht Heunec sich dieser Mühe? Vor allem ärgere sie sich über die schlechten Arbeitsbedingungen in vielen chinesischen Fabriken, auf die die CIR Jahr für Jahr in ihrem kritischen Branchenreport (siehe Kasten) hinweise, sagt Fehn-Dransfeld. Denn damit drohe mittelbar auch ein schlechtes Licht auf ihren eigenen Betrieb zu fallen. „Die Kunden lesen ja auf unseren Etiketten ‚Made in China‘.“ Die Firmenchefin hat Angst vor einem Imageschaden.

Kann aber – andersherum betrachtet – die hohe ökologische und soziale Qualität zum Verkaufsargument werden? Suchen Verbraucherinnen und Verbraucher gezielt solche Produkte, so dass sich die Mitgliedschaft in der FTO rechnet? Möglich ist das, wie Firmenbeispiele aus der Bekleidungs- und Lebensmittelwirtschaft zeigen. Andererseits ist der Anteil nachhaltiger Produkte im Vergleich zum gesamten Einzelhandelsumsatz noch sehr gering: Mehrheitlich interessieren sich die Konsumenten höchstens theoretisch für den ethischen Mehrwert der gekauften Artikel.

Ob sich das ändert, wird man im Spielzeugmarkt erst in ein paar Jahren erfahren. „Wenn die Unternehmen ihre Zusagen einhalten und die nötige Punktzahl im FTO-Check erreichen, dürfen sie mit dem Logo der FTO an ihren Produkten in den Geschäften werben“, sagt Maik Pflaum. In frühestens zwei Jahren können die Kundinnen und Kunden auf diese Art entscheiden, ob sie fairen Plüschtieren den Vorzug vor konventionell gefertigten geben.

Wichtig erscheint allerdings auch das Marktsegment der öffentlichen Beschaffung. Die Stadt Nürnberg – Ort der alljährlichen Spielzeugmesse – ist schon jetzt FTO-Mitglied. „Ich kann mir gut vorstellen, dass der Nürnberger Stadtrat künftig beschließt, für öffentliche Einrichtungen nur noch Produkte mit dem FTO-Siegel zu kaufen“, vermutet Pflaum, der als parteiloser Abgeordneter der Grünen selbst in dem Gremium sitzt. Andere Kommunen mögen dem Beispiel folgen und für ihre Kindertagesstätten dann ausschließlich faires Spielzeug einkaufen.

Initiativen wie die FTO liegen in jedem Fall im Trend. Mit ihrem Nationalen Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte übt die Bundesregierung sanften Druck auf die Unternehmen aus. Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) plädieren außerdem für ein Lieferkettengesetz, damit hiesige Unternehmen die Arbeitsbedingungen in ihren ausländischen Zulieferfabriken verbessern.

Viele Firmen warten ab, manche Wirtschaftsverbände treten auf die Bremse, andere versuchen hingegen, das Beste aus der Entwicklung zu machen. So ist der Bundesverband der Spielwarenindustrie (DVSI), der rund 240 mittlere und große Unternehmen repräsentiert, der FTO schon beigetreten. Und eine Sprecherin des Herstellers Simba-Dickie, eine der Großen der Branche, sagt: „Wir stehen der Fair Toys Organisation offen gegenüber, sind in engem Kontakt und überlegen, dort zukünftig Mitglied zu werden.“"

10.12.2020 10:53
Wie der Klimawandel zu mehr Hunger führt - weil die reichen Länder unfair agieren
Der Klimawandel verschärft den weltweiten Hunger. Der jüngste Bericht des Un-Wissen-schaftsrat zum Klimawandel warnt davor, dass die Auswirkungen des Klimawandels weltweit die Ernährungssicherheit weiter untergraben, bestehende Armutsfallen zementieren und neue schaffen werden.

Die Nothilfe- und Entwicklungs­organisationen Oxfam greift das auf:

Auf der einen Seite wirken schleichende Prozesse wie steigende Temperaturen, verstärkte Trockenheit und abnehmende Regenmengen. Sie verringern die Ernteer-träge, erschweren insgesamt die Land-wirtschaft und machen sie in manchen Regionen sogar unmöglich, etwa weil geeignete Flächen verloren gehen (z.B. durch Austrocknung oder Erosion). Auf der anderen Seite ist vermehrt mit Extremwet-terereignissen wie sintflutartigen Regenfällen, Überschwemmungen und Stürmen zu rechnen, die Felder und Ernten komplett vernichten, den Viehbestand dezimieren oder Fischerboote und andere Produktionsmittel zerstören. Auch der steigende Meeresspiegel zwingt schon heute immer wieder Menschen zur Aufgabe von Anbauflächen in Küstennähe. Indirekt wird die Ernährungssicherheit zusätzlich beeinträchtigt, weil sinkende Erträge die lokalen und globalen Preise steigen lassen und dies Menschen mit geringem Einkom-men in existenzielle nöte bringt.

Mehr dazu mit weiteren Aspekten und wichtigen Hinweisen für eine zukunftsfähigere Politik finden Sie auf


"Mehr zum Zusammenhang von Klimaschwandel, Klimaschutz, Hunger, soziale Ungleichheit und soziale Sicherung"
In der linken Spalte dort ein mit Grafiken belegter Report als PDF zum Runterladen.

01.12.2020 07:52
CDU/CSU verschleppt den Rechtsschutz für Whistleblower - Verfassungsklage droht
Die EU will Whistleblower besser schützen, doch die Bundesregierung zögert. Nun droht der Bürgerrechtler Malte Spitz mit Verfassungsklagen. Heinrich Wefing von der ZEIT interviewte Malte Spitz, den Generalssekretär der NGO „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ und Mitglied im Parteirat der Grünen:

DIE ZEIT: Whistleblower berichten aus ihrem Unternehmen oder einer Behörde über Skandale – und helfen so bei der Aufdeckung von Straftaten. Werden diese Informanten in Deutschland ausreichend geschützt?

Malte Spitz: Absolut nicht. Whistleblower müssen regelmäßig mit Strafverfolgung rechnen oder mit massiven Konsequenzen am Arbeitsplatz – mit Versetzung, Mobbing oder fristloser Kündigung. Manchen droht das berufliche Aus. Und der Gesetzgeber lässt die Whistleblower im Stich: Immer muss der einzelne Informant sich gegen mögliche Konsequenzen verteidigen. Mangels einer Beweislastumkehr, wie es sie zum Beispiel im Antidiskriminierungsrecht gibt, können Arbeitgeber Whistleblower leicht mit vorgeschobenen Gründen loswerden. Das schreckt viele potenzielle Whistleblower ab. Und es verhindert, dass Fehlverhalten öffentlich wird. Dabei sind staatliche Stellen und die Öffentlichkeit darauf angewiesen, dass Menschen auch im Alltag mithelfen, Missstände aufzudecken.

ZEIT: Der berühmteste Whistleblower der Welt ist wohl Edward Snowden, der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter, der den NSA-Skandal aufgedeckt hat. Jemand wie er müsste in Deutschland mit Strafverfolgung rechnen?

Spitz: Ja, das wäre auch bei uns eine riskante Aktion. Im Prinzip muss ein Geheimdienstmitarbeiter, der einen vermeintlichen Skandal sieht, sich erst mal an seinen Vorgesetzten wenden, in letzter Instanz an den zuständigen Minister, bei einem BND-Mitarbeiter wäre das der Kanzleramtschef. Und erst wenn da gar nichts passiert, könnte er an die Öffentlichkeit gehen, müsste aber damit rechnen, wegen Geheimnisverrats angeklagt zu werden. Aber das gilt nicht nur für Menschen wie Snowden. Auch im Alltag gibt es in Deutschland Whistleblower. Zuletzt zum Beispiel eine Küchenhilfe, die ein Video aus der Kantine des Fleischfabrikanten Tönnies geleakt hat, das zeigte, dass dort Hygiene-Abstände nicht eingehalten wurden.

ZEIT: Nun hat die EU allerdings im vergangenen Jahr den Schutz von Whistleblowern verbessert.

Spitz: Das stimmt, und das ist ein Schritt in die richtige Richtung, es gibt besseren Schutz vor Kündigung oder anderen Repressionen.

ZEIT: Umgekehrt könnte man sagen, dass dadurch zum Denunziantentum eingeladen wird.

Spitz: Das ist in der Richtlinie klar geregelt: Wer leichtfertig unwahre Anschuldigungen meldet, der ist vom Schutz ausgenommen. Aber die EU-Richtlinie muss jetzt erst mal in deutsches Recht umgesetzt werden, und da ist die Bundesregierung viel zu zögerlich. Aktuell würgt die Bundesregierung Zivilcourage ab, statt sie zu fördern.

ZEIT: Inwiefern?

Spitz: Die EU kann nur solche Whistleblower schützen, die Verstöße gegen europäisches Recht aufdecken helfen. Also zum Beispiel den Missbrauch von EU-Subventionen. Diese Richtlinie muss die Bundesregierung umsetzen, dazu ist sie verpflichtet. Aber bei dieser Minimalvariante wollen es dann auch Teile der Bundesregierung belassen. Whistleblower, die Verstöße gegen deutsches Recht anprangern, blieben dann weiter ungeschützt. Das ist aus unserer Sicht völlig absurd: Häufig kann ein Beamter oder eine Angestellte eines Unternehmens ja gar nicht abschätzen, ob mit europäischem Geld oder mit Bundesgeld Subventionsbetrug begangen wird. Das müsste er oder sie erst genau prüfen, ehe er oder sie einen Verstoß an staatliche Behörden, zum Beispiel die Staatsanwaltschaft, meldet. Das ist völlig lebensfremd, und außerdem halten wir es für eine Ungleichbehandlung, die gegen das Grundgesetz verstößt. Ich würde mir auf Grundlage der europäischen Richtlinie ein allgemeines Schutzgesetz für Whistleblower wünschen.

ZEIT: Was hindert die Bundesregierung daran, aus Ihrer Sicht?

Spitz: Die große Koalition ist da einfach zerstritten, die SPD will mehr Schutz, die Union ist dagegen: Das Justizministerium hat Anfang 2020 für ein weitreichendes Gesetz plädiert, das Haus von Wirtschaftsminister Peter Altmaier widersprach. Setzen sich CDU/CSU durch, könnte das Kabinett deshalb demnächst eine aus unserer Sicht verfassungswidrige Minimalumsetzung beschließen. Es wäre aber auch ein Problem für die betroffenen Unternehmen, denn die müssten mal strenges EU-Whistleblower-Recht anwenden, mal nationales Recht, ein irrer Aufwand.

ZEIT: Wenn es so kommt, würden Sie vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe klagen?

Spitz: Ich hoffe, dass die Bundesregierung doch noch einen echten, umfassenden Whistleblower-Schutz etabliert. Wenn nicht, würde die "Gesellschaft für Freiheitsrechte" gemeinsam mit betroffenen Whistleblowern relativ zügig versuchen, Klagen vorzubereiten. Da rechnen wir uns gute Chancen aus. Es würde aber vermutlich Jahre dauern, und in dieser Zeit bliebe es bei der schwer erträglichen Rechtsunsicherheit für Whistleblower.

26. November 2020, DIE ZEIT Nr. 49/2020

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