Blog nach Monat: April 2022

28.04.2022 14:59
Der Klima-Fußabdruck der Modebranche: Da ist Handlungsbedarf!!!
Erstmals untersuchte eine Studie die ökologischen Auswirkungen der deutschen Modebranche. Den Großteil der Emissionen verursachen die Unternehmen im Ausland, berichtete Louis Leible-Hammerer für die Frankfurter Rundschau:

„Die deutsche Modewirtschaft kann sich mit der Slowakei messen lassen, was den Ausstoß von Treibhausgasen angeht. 38 Millionen Tonnen an Emissionen verursachte sie im Jahr 2019 – nur unwesentlich mehr als das ostmitteleuropäische Land mit seinen 42 Millionen Tonnen. Zu diesem Ergebnis kommt das Fashion Council Germany (FCG), eine Interessenvertretung für Mode „designed in Germany“, so das Selbstverständnis der Organisation. In einer groß angelegten Studie mit dem Titel „German Fashion Footprint“ hat das FCG erstmals eine Datenbasis zu den ökologischen Auswirkungen der heimischen Bekleidungsbranche geschaffen. Eine zentrale Erkenntnis konstatiert Geschäftsführer Scott Lipinski: „Handlungsbedarf – mit drei Ausrufezeichen“.

Im vergangenen Jahr hatte das FCG bereits eine Analyse der Chancen und Risiken, Stärken und Schwächen der deutschen Modeindustrie veröffentlicht. „In diesem Zuge haben wir festgestellt, dass es an Transparenz entlang der Wertschöpfungskette fehlt und Daten als Diskussionsgrundlage mangeln“, erläutert Scott Lipinski. Und so entschied man, eine weitere Studie in Auftrag zu geben, dieses Mal über Umweltaspekte.

Modebranche: Der Strombedarf im Referenzjahr ist höher als der der Niederlande

Um Verzerrungen durch die Corona-Pandemie zu vermeiden, fiel die Wahl auf das Bezugsjahr 2019. Fünf Umweltdimensionen beleuchtet die Erhebung: Ausstoß von Treibhausgasen, Energieverbrauch, Luftverschmutzung, Wasserverbrauch und die Nutzung landwirtschaftlicher Flächen. Dabei betrachtet der Bericht sowohl die Tätigkeit von Modemarken und Einzelhandel in Deutschland als auch deren Einkäufe in der weltweiten Lieferkette und Ware, die für den Verkauf in Deutschland importiert wurde.

Durchgeführt hat die Untersuchung die Analysefirma Oxford Economics, beauftragt vom FCG. Das Beratungsunternehmen Studio MM04 hat den Prozess konzeptionell begleitet, finanziell ermöglicht wurde die Studie von der deutschen Bundesregierung.


Einige Zahlen: 535 000 Terajoule an Energie hat der deutsche Modesektor 2019 verbraucht, 410 000 Tonnen Kohlenstoffmonoxid (CO) ausgestoßen, 25 000 Quadratkilometer Agrarflächen für Rohstoffe beansprucht. Der Strombedarf im Referenzjahr ist damit höher als der der Niederlande (510 000 Terajoule), das global freigesetzte Kohlenstoffmonoxid der deutschen Modewirtschaft macht 13 Prozent sämtlicher CO-Emissionen in Deutschland aus – beträchtliche Werte. Ein weiterer plastischer Vergleich: Das für die Herstellung von Schuhen und Bekleidung in Anspruch genommene Land ist nicht viel kleiner als die gesamte Fläche Belgiens.

Für Anne Neumann, Referentin für Wirtschaft und Menschenrechte, Textil und Leder bei der entwicklungspolitischen Organisation Inkota, ist die Existenz der Studie ein gutes Zeichen: „Es ist schon eine Errungenschaft, dass ein Lobbyverband solch einen Report herausgibt und sich mit dem globalen Wirken seiner Branche auseinandersetzt.“ Auch methodisch sei er durchdacht. Unglücklich ist aus ihrer Sicht jedoch, dass einzig Umweltaspekte systematisch in Augenschein genommen werden. „Soziale Belange und Menschenrechte spielen in dem Bericht kaum eine Rolle, das ist eine vertane Chance.“

Modebranche: Arbeit unter „miserablen Bedingungen“

Genau diese sozialen Belange sind aber entscheidend. Besonders eklatant ist das Bild bei der Treibhausgasbilanz. Blickt man auf die Zahlen, fällt auf, wie ungleich die Emissionen weltweit verteilt sind. Nur knapp acht Millionen Tonnen CO2-äquivalente Emissionen hat die Modebranche in Deutschland verursacht. Über 30 Millionen Tonnen hingegen wurden durch Einkäufe und Offshore-Produktion im Ausland ausgestoßen. Produziert wird also für den deutschen Markt, mit den negativen Auswirkungen – verschmutzter Umwelt, beeinträchtigter Gesundheit und Lebensqualität – haben aber mehrheitlich Menschen zu kämpfen, die in Ländern des Globalen Südens wie China, Bangladesch und Indien leben. „Eine doppelte Ungerechtigkeit“, bezeichnet Anne Neumann von Inkota diese Praxis: „Die Arbeiter:innen sind von oftmals miserablen Arbeitsbedingungen betroffen, und zusätzlich können sie in ihrer prekären Lage auch keine Resilienz gegenüber Schäden aufbauen.“

Die Herstellung nach Deutschland zurückzuverlagern, kann aber nicht die Lösung sein, hängen doch Arbeitsplätze und damit Existenzen an der Produktion im Ausland. Reshoring, so der Fachausdruck, gehe mit einer sozialen Verantwortung einher, betont Scott Lipinski: „Es ist eine Gratwanderung.“ Die Menschenrechtsexpertin Anne Neumann geht noch weiter: „Reshoring ist sehr kritisch zu sehen. Helfen würden würdigere Arbeitsbedingungen vor Ort. Zum Beispiel, indem Gewerkschaften gestärkt werden und Beschwerdesysteme geschaffen werden, die Arbeiter:innen ermächtigen, Verstöße selbst zu melden.“ Auch Lipinski fordert „mehr Fairness in der Herstellung“ – und ist zuversichtlich: „Heute herrscht in der Branche ein anderes Verständnis von Nachhaltigkeit als noch vor zehn Jahren.“

Modebranche: Bald auch eine Studie zu Sozialstandards?

Wie soll es nun weitergehen? Das FCG will die Entwicklung neuer Ideen und Konzepte für mehr Umweltschutz fördern, indem es Gespräche, Konferenzen und Workshops mit allen relevanten Interessengruppen organisiert.

Wenn es nach Scott Lipinski geht, ist der „German Fashion Footprint“ nur der Anfang – eine erste Grundlage, um weitere Statistiken zu erheben und zu überprüfen, wie sich das Umweltverhalten der deutschen Modebranche über Zeit verändert. Und ein Ausgangspunkt, um künftig auch die Einhaltung von Sozialstandards unter die Lupe zu nehmen – das sei jedenfalls das Ziel“.

Erläuterung
Der LOBBYVERBAND: Den Modestandort Deutschland im globalen Wettbewerb stärken – das ist das erklärte Ziel des Fashion Council Germany (FCG). Vor Augen hat es eine „visionäre, technologische & nachhaltige Zukunft“ der Branche.

Die Organisation engagiert sich für deutsches Modedesign als Kultur- und Wirtschaftsgut, fördert junge Designerinnen und Designer aus der Bundesrepublik und leistet Lobbyarbeit in den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur. Interdisziplinäre Dialogförderung gehört ebenso zu den Aufgaben des FCG wie Netzwerken.

Annähernd 200 Fashionunternehmen, Einzelhändler und auch Verlagshäuser und Agenturen sind in dem Verein organisiert, darunter kleinere Labels, aber auch große und bekannte Konzerne wie H&M, Otto oder Hubert Burda Media.

19.04.2022 10:14
Whistleblower-Schutzgesetz auf der Zielgerade - Der Entwurf liegt endlich
Endlich, endlich ist es soweit: Das „Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ ist auf der Zielgerade. Der Referentenentwurf liegt vor.
"Der Referentenentwurf zum Whistleblower-Schutzgesetz"

2019 hatte die EU die Richtlinie gesetzt; Deutschland ist ein sehr säumiger Nachzügler, die Richtlinie in Gesetzesform zu bringen. Der Widerstand aus der Wirtschaft war sehr groß; und lange versuchte das Ministerium zu lavieren und die Arbeit auf die lange Bank zu schieben.

Beschäftigte in Unternehmen und Behörden nehmen Missstände oftmals als erste wahr und können durch ihre Hinweise dafür sorgen, dass Rechtsverstöße aufgedeckt, untersucht, verfolgt und unterbunden werden. Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber übernehmen Verantwortung für die Gesellschaft und verdienen daher Schutz vor Benachteiligungen, die ihnen wegen ihrer Meldung drohen und sie davon abschrecken können.

Mit dem Referentenentwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, soll der bislang lückenhafte und unzureichende Schutz von hinweisgebenden Personen ausgebaut und die Richtlinie (EU) 2019/1937 in nationales Recht umgesetzt werden. Gleichzeitig soll das Ziel eines verbesserten Hinweisgeberschutzes mit den Interessen von Unternehmen und öffentlicher Verwaltung, die zum Ergreifen von Hinweisgeberschutzmaßnahmen verpflichtet werden, so in Einklang gebracht werden, dass bürokratische Belastungen handhabbar bleiben.

Zentraler Bestandteil des Entwurfs ist ein neues Stammgesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen (Hinweisgeberschutzgesetz, HinSchG). Das Hinweisgeberschutzgesetz wird begleitet von notwendigen Anpassungen bestehender gesetzlicher Regelungen (Artikel 2 bis 8 des Gesetzentwurfs), insbesondere auch im Bereich des Dienstrechts.

"Der Referentenentwurf zum Whistleblower-Schutzgesetz"

12.04.2022 14:23
Edeka nutzt Ferrero-Rückruf für eigene Schokolade – und kassiert Kritik
Denn viele Kunden finden das „geschmacklos“. Der große Rückruf vieler beliebter Ferrero-Produkte sorgt aktuell in Supermärkten für überraschend leere Süßigkeitenregale. Salmonellen-Gefahr in mehreren „Kinder“-Produkten des Süßwarenherstellers Ferrero, die in einem Werk in Arlon in Belgien produziert wurden, sind der Grund dafür.

Auch wenn Kinderriegel und Kinderschokolade vom Ferrero-Rückruf nicht betroffen sind, hat es gerade vor Ostern mit Überraschungseiern und Schokobons einige sehr beliebte Produkte erwischt. Mehr als 20 Artikel hat Ferrero daher unter anderem bei Rewe, Kaufland, Aldi und vielen anderen deutschen Supermärkten zurückgerufen. Auch Edeka und die Edeka-Tochter Netto sind von dem Ferrero-Rückruf betroffen. Trotzdem nutzt die Supermarktkette nun den Ferrero-Rückruf, um Werbung in eigener Sache zu machen. Edeka sorgt damit für einen Social-Media-Hit, muss aber auch Kritik einstecken.
Edeka macht sich über Ferrero lustig – „garantiert ohne Überraschung“

Denn während Überraschungseier, Schokobons und noch einige andere Ferrero-Produkte jetzt aus den Regalen verschwunden sind, wirbt Edeka gleichzeitig für die ähnlichen Produkte ihrer Eigenmarke „Gut & Günstig“. Am Samstag (9. April) postete der Supermarkt auf seiner Facebookseite ein Bild der Schokoladen-Bonbons von „Gut & Günstig“, quasi das Eigenmarken-Pendant zu den „Kinder“-Schokobons von Ferrero.

Über dem Bild steht der Schriftzug: „Garantiert ohne Überraschung“. Damit spielt Edeka gezielt auf die Salmonellen-Gefahr in der aktuellen Charge der Ferrero-Produkte, wie „Kinder Überraschung“ an. „Unsere Schokolade ist bedenkenlos lecker und wunderbar günstig“, heißt es zusätzlich im Posting.
Edeka-Werbung nach Ferrero-Rückruf – Kunden finden das „geschmacklos“

Mit inzwischen mehr als 3500 Likes und über 500 Kommentaren hat das Posting auf jeden Fall für Aufsehen gesorgt. „Genial“, loben mehrere Userinnen und User den Werbe-Coup von Edeka. Durchweg positiv ist das Feedback aber bei weitem nicht. „So etwas kann immer mal passieren! Aber darauf jetzt so einen Werbeslogan setzen, geht gar nicht“, kritisiert eine Userin. Andere Nutzer sehen die Aktion ebenfalls kritisch, nennen die Werbung sogar „geschmacklos“. Ein User schreibt: „Ihr tut ja so, als ob bei euch noch nichts zurückgerufen wurde.“

Auch der Discounter Netto, eine Edeka-Tochter, schlägt in die gleiche Kerbe. Netto nutzt seit Samstag ebenfalls aktiv den Ferrero-Skandal, um Schoko-Produkte der Eigenmarke, speziell für Ostern, zu bewerben. Mit dem Slogan „Ohne böse Überraschung, Kinder!“, wirbt Netto unter anderem für Schoko-Osterhasen und gefüllte Schokoeier.
Ferrero-Rückruf: Viele beliebte „Kinder“-Produkte betroffen

Der Ferrero-Skandal hat in den vergangenen Tagen derweil immer größere Ausmaße angenommen. Inzwischen wurde das betroffene Werk in Belgien geschlossen. Die Staatsanwaltschaft ermittelt. Es wurde bekannt, dass der erste Salmonellen-Fund bereits am 15. Dezember 2021 gemacht wurde. Dass Ferrero erst rund vier Monate später an die Öffentlichkeit ging, sorgte für heftige Kritik von Verbraucherzentralen. Der Rückruf von Ferrero-Produkten wurde in den letzten Tagen sogar ausgeweitet. Inzwischen sind mehr als 20 Artikel betroffen.

05.04.2022 15:21
Schlusslicht Edeka - Nichts übrig für Menschenrechte
Ausbeutung ist für die deutschen Lebensmittelhändler nach wie vor ein Geschäftsmodell - zu diesem Ergebnis kommt der Supermarkt-Check 2022 der Entwicklungsorganisation Oxfam. Lidl, Aldi und Rewe haben sich in ihrem Engagement für Menschenrechte zwar verbessert. Bitter aber ist der Befund für Edeka. Die Frankfurter Rundschau berichtet heute darüber:

"Edeka bleibt das Schlusslicht unter den deutschen Handelsketten - jedenfalls in Sachen Menschenrechte. Das zumindest attestiert der Supermarkt-Check 2022 der Entwicklungsorganisation Oxfam dem Lebensmittelhändler, dessen Name Edeka ursprünglich für „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler“ stand. „Edeka nimmt die Ausbeutung in seiner Lieferkette weiter in Kauf“, lautet das Fazit der aktuellen Oxfam-Studie.

Rewe, Lidl sowie Aldi Nord und Süd hingegen haben in ihrer Menschenrechtspraxis deutliche Fortschritte gemacht, liegen damit nun sogar im internationalen Vergleich mit Unternehmen aus Großbritannien und den Niederlanden auf den vorderen Rängen. Als Oxfam 2018 den ersten Check präsentierte, zählten die deutschen Händler noch zu den Schlusslichtern.

Seither analysiert Oxfam jährlich die Menschenrechtspolitik der Lebensmittelketten, bewertet Transparenz, die Achtung der Rechte der Arbeitnehmer:innen von Lieferanten, die Handelsbeziehungen mit Kleinproduzent:innen und die Geschlechtergerechtigkeit. Basis sind die Nachhaltigkeitsberichte und die Websites der Supermärkte.

Seit dem ersten Check 2018 hat Lidl sich dabei von fünf auf 59 Prozent der möglichen Punkte gesteigert, Aldi legte von ein auf 49 Prozent zu, Rewe schaffte einen Sprung von ein auf 48 Prozent. Die zusätzlichen Punkte erzielten die Handelsketten laut Oxfam vor allem durch Fortschritte bei der Transparenz. So legt Lidl mittlerweile alle Lieferanten für Bananen, Erdbeeren und Tee offen. Aldi, Rewe und Lidl veröffentlichten zudem neue Leitlinien zur Geschlechtergerechtigkeit.

Darüber hinaus engagieren sich die drei Unternehmen in Pilotprojekten für existenzsichernde Löhne. Konkret geht es um den Bananenanbau in Ecuador. Die Supermärkte verpflichten sich dabei, Kosten, die durch höhere Löhne entstehen, selbst zu übernehmen und nicht auf ihre Lieferanten abzuwälzen.

Dennoch gibt es laut Oxfam in der Preispolitik auf breiter Front zu wenig Bewegung. „Die Supermärkte üben weiterhin Preisdruck auf ihre Lieferanten aus und tragen somit zu niedrigen Löhnen in den Lieferketten bei“, so das Urteil der NGO. Dabei hätten die Märkte in der Pandemie Rekordumsätze verbucht. „Geld für eine andere Preispolitik ist genug da, doch am grundsätzlichen Geschäftsmodell der Supermärkte hat sich nichts geändert, es steht weiterhin für Ausbeutung“, sagt Tim Zahn, Oxfam-Experte für Wirtschaft und Menschenrechte.

Am deutlichsten wird das am Beispiel von Edeka, das nur elf Prozent der möglichen Punkte erreicht und sich laut Oxfam weiter hin weigert, ernsthaft Verantwortung für die Lieferkette zu übernehmen. „Für einen ganzen Tag Arbeit erhalten Beschäftigte in Costa Rica bei einem Ananas-Zulieferer von Edeka beispielsweise nur 4,50 Euro – ein Lohn weit unter dem Existenzminimum“, sagt Zahn.

Edeka erklärte auf FR-Anfrage, der Schutz von Arbeits- und Menschenrechten in den Lieferketten habe für das Unternehmen eine „sehr hohe Priorität“. Die von Oxfam erhobenen Vorwürfe weise Edeka entschieden zurück. Vor einer detaillierten Stellungnahme wolle man die Ergebnisse des Checks zunächst aber gründlich prüfen.

Für Oxfam zeigt das Beispiel von Edeka, dass freiwilliges Engagement nicht genüge. Die Bundesregierung müsse deshalb das deutsche Sorgfaltspflichtengesetz ambitioniert umsetzen und dafür sorgen, dass ein künftiges EU-weites Lieferkettengesetz die Lücken in der deutschen Regulierung schließe, fordert die NGO".

"Der Supermarkt-Check 2022"

01.04.2022 10:02
Wenn Rechte den digitalen Faschismus verbreiten - und viele ihm auf den Leim gehen
Der internationale Rechtspopulismus und Rechtsextremismus bemächtigt sich der vormals klassisch linken Themen und Begriffe für seine reaktionäre Agenda. Der Medien- und Genderforscher Simon Strick über den digitalen Faschismus, seine Untergangsszenarien und seine Beschwörung einer „Normalität“ in der Frankfurter Rundschau vom 23.2.22 S. 26f.:.

„Dem Faschismus geht es gut – er ist Meme, Konsumgut und Gefühlswelt geworden.“ Sagt Simon Strick in seinem aktuellen Buch. Im Kampf um die kulturelle und politische Hegemonie nutzt die Neue Rechte diesseits und jenseits des Atlantiks die Chancen und Angebote der Social-Media-Welt. Online wie offline entwirft der Digi-Faschismus Erlebniswelten und Kommunikationsräume, in denen sich vermeintlich Abgehängte, Bedrängte und Verunsicherte aufgehoben fühlen – geschützt vor einer beschleunigten, immer komplexeren Welt, in der die weiße Mehrheitsgesellschaft um ihre Privilegien fürchtet“. Das Interview führt Klaus Walter:

„Herr Strick, in Ihrem Buch analysieren Sie eine breite Palette rechter Gefühle. Gibt es da einen Gefühlskern, einen gemeinsamen Nenner der Emotionen, der diese Leute verbindet?

Der Kern ist aus meiner Sicht ein Gefährdungsgefühl, Bedrohung, Unterdrückung. Diese Gefühle werden aber, und das ist zentral, für Bevölkerungsgruppen aufgerufen, die in der Mehrheit sind, also generell nicht marginalisiert, sondern privilegiert sind: Weiße, Männer, Konservative, Herkunftsdeutsche und so weiter.

Digitaler Faschismus, ein großes Wort! Ich denke an gedrillte Männer in schwarzen Uniformen und hochglanzpolierten Stiefeln. Mussolinis Faschismus war eine nach dem Führerprinzip organisierte, rechtsradikale Bewegung. Ähnlich hierarchisch funktionierte der Nationalsozialismus in Deutschland. Wie verhält sich dazu der digitale Faschismus von heute?

Ich finde es wichtig, die Unterschiede zu betonen. Wir verstehen den Faschismus oder das Rechtsradikale generell als Top-down-Bewegung: ideologische Führer oben, die auf autoritäre Charaktere treffen, die diese Führerfiguren verehren und denen blind folgen. So wird generell auch der Rechtspopulismus beschrieben. Im digitalen Zeitalter funktionieren diese Autoritätsverhältnisse nicht mehr. Da kann jede(r) die persönliche Agitation im Netz machen und Ideologie an allen möglichen Orten verbreiten. Diese Bewegung von unten, das Bottom-up – das ist der entscheidende Unterschied durch die Bedingungen der sozialen Medien. Es vollzieht sich weniger blindes Folgen und Gehorchen, sondern man partizipiert an Erzähl- und Erklärungsmustern, die gemeinsam plausibel gemacht werden. Ideologisch propagiert der Faschismus noch immer weiße Vorherrschaft und eine rassistische Weltordnung – nun aber eher durch User auf Facebook als durch ein Propagandaministerium.

Partizipieren statt gehorchen, kommunizieren, assoziieren, Geschichten produzieren und miteinander teilen. In Ihrem Buch entwerfen Sie ein Bild von rechten Erlebniswelten, in denen nicht mehr das Prinzip Befehl und Gehorsam gilt. Schon gar nicht: blinder Gehorsam. Denn ein wichtiges Element in diesen Kommunikationsräumen ist das Visuelle. Fotos, Bilder, Cartoons, Memes. Viele dieser visuellen Elemente sind abgebildet in „Rechte Gefühle“, auch ein Wahlplakat der AfD von 2018. Was sehen wir da?

Wir sehen eine schwangere weiße Frau, die auf einer Wiese liegt. Ihr Bauch steht im Zentrum des Bildes, darüber der Slogan: „Neue Deutsche machen wir selber, trau dich Deutschland. AfD.“

Was sagen Sie als Genderforscher dazu?

Neue Deutsche sollen weiße Deutsche sein. Das ist nicht viel anders als die Reproduktionspolitik im Nationalsozialismus: Kindermachen als deutscher weißer Widerstand gegen eine überfremdete Welt, gegen undeutsche Horden, für arischen Lebensraum und Zukunft. Die AfD formuliert hier die rechte Welterklärungsformel vom sogenannten großen Austausch. Nach dieser Theorie werden weiße Menschen in weißen Mehrheitsgesellschaften wie den USA oder Deutschland allmählich verdrängt. Sie werden – wie die AfD sagt – überfremdet. Dieser große Austausch rekurriert einerseits auf den demografischen Wandel, den es tatsächlich gibt. In den Agitationen des digitalen Faschismus ist dieser Wandel aber mit Untergangsszenarien konnotiert: Verlust einer angeblich angestammten Kultur, Unterdrückung von weißen Menschen oder auch das antisemitische Narrativ, dass dieser Austausch von geheimen Eliten gesteuert wird. Danach wird ein koordinierter Kampf gegen weiße Mehrheitsgesellschaften geführt, der diese zu multikulturellen Gesellschaften macht. Weiße werden zur Minderheit, zur bedrohten Volksgruppe. Mit Migrationszahlen und Geburtenstatistiken werden die entsprechenden Ängste getriggert, zugleich wird Kinderkriegen von Herkunftsdeutschen als völkischer Widerstand stilisiert. Ein Wechselspiel von diffusem Unbehagen und White Empowerment. Auf diesem Feld arbeiten die Akteure des digitalen Faschismus im Netz.

Aus der Alltagskultur kommt ein weiteres Meme in Ihrem Buch. Was sehen wir da?

Eine weiße Frau und ein weißer Mann um die dreißig in einem außergewöhnlich weißen Raum. Die beiden formen eine Gruppe mit der Jungfrau Maria, einem Josef und dem Jesuskind. Der Mann nimmt die mütterliche Position ein, hält aber kein Kind in den Armen, sondern einen Hund. Darüber steht eine Textbotschaft in Form eines Countdowns: Deine Urgroßmutter hatte zwölf Kinder, deine Großmutter hatte sechs Kinder. Deine Mutter hatte zwei Kinder. Du hast eine Abtreibung und einen Hund.

Die Weißen sind auf den Hund gekommen?

Für die Rechten ist die Entscheidung für den Hund und eine Abtreibung Volksverrat. An diese Text-Bild-Kombination schließen sich alle möglichen rechtsextremen Erzählungen oder Spielweisen an: Der große Austausch wird als Verfall der Geburtenraten erzählt. Die Urgroßmutter habe mit ihren zwölf Kindern noch Volk und Familie gedient. Dass sie weder wählen noch Geld verdienen oder gar abtreiben durfte, wird natürlich nicht erwähnt. Darauf folgt die Regression: statt für Kinder entscheide sich die moderne Frau für einen Ersatzhund und eine Abtreibung. In diesem Meme wird der Feminismus als reproduktive Selbstbestimmung zur Zielscheibe: Er sorge sowohl dafür, dass keine weiße Fortpflanzung mehr stattfinde, als auch dafür, dass die Geschlechterrollen unklar würden. Im Bild hält der Mann den Hund wie ein Baby. Für die Rechten ist das ein Bild des Niedergangs: Aussterben der Weißen, Feminisierung der Männer, Perversion der Familie. Schuld an allem: der Feminismus.

Das Private ist politisch! Das war eine Parole der feministischen Bewegung. Im digitalen Faschismus wird das Private von rechts politisiert, vor allem der Körper der Frau wird zum Schauplatz von Kulturkämpfen. Ist das eine Spezialität der Neuen Rechten: die Adaption und Umkehrung linker oder feministischer Errungenschaften und Strategien? Ich denke da an die Parolen gegen das Impfen. Da läuft ein Mann mittleren Alters mit einem Schild herum, auf dem steht: „Mein Körper gehört mir.“ Eine kulturelle Aneignung der speziellen Art: „Mein Bauch gehört mir“ war der zentrale Slogan der Bewegung für das Recht auf Abtreibung. Ein Amoklauf der Zeichen?

Das ist ein Kennzeichen digitaler Kommunikationen, das Spiel mit verfügbaren Zeichen und Bildern. Die Rechten haben lange geübt, und eine Bewegung ist die Übernahme emanzipatorischer Rhetorik, wie der des Feminismus. Aus ihrer Sicht geht es ja um die Emanzipation einer Minderheit, den Freiheitskampf der angeblich unterdrückten weißen Männer. Daher hat mich der Boom der sogenannten Querdenker nicht überrascht. Es gibt ein rechtes Klima, das sich seine Anlässe sucht. Corona hat eine gesellschaftliche Situation geschaffen, an der sich Bedrohungsgefühle, Gefühle der Unterdrückung sehr gut anschließen können. Die Überforderung durch die Pandemie ist uns allen gemeinsam, viele haben sie damit beantwortet, Rücksicht zu nehmen und über gesellschaftliche Abhängigkeiten nachzudenken. Die Querdenker:innen und die mitdemonstrierenden Neofaschist:innen haben ein anderes Reaktionsmuster: Wir – Weiße, Deutsche, Gesunde, Arbeiter:innen und so weiter – werden gerade unterdrückt und ausgetauscht.

Menschen fühlen sich vielfach bedroht: Corona, Political Correctness, Cancel Culture, Migration, Feminismus, neue Geschlechter, neue Sprachregelungen, und, der Gipfel: Gender Studies, Gendersprache. Warum sind diese allergischen Affekte ausgerechnet hier so ausgeprägt?

Via Genderstern kann wunderbar das Narrativ des Kulturverfalls in die breite Gesellschaft getragen werden, die Gender Studies können dann als vermeintlich ideologische Wissenschaft denunziert werden. Dabei geht es um sehr viel mehr als nur das Sternchen. Wir Genderforscher:innen beschreiben Geschlechterrollen und Geschlechtsmuster in verschiedensten Arten und Weisen. Wie sich das historisch verändert hat, wie Gesellschaft vergeschlechtlicht, dass Frauen lange nicht wählen durften oder nur bestimmten Arbeiten nachgehen konnten und immer noch können. Allgemein formuliert Genderforschung also Fragen, die mit allen Menschen etwas zu tun haben, also sowohl gesellschaftlich als auch persönlich wahrgenommen werden können. Jede(r) hat ein Geschlecht und lebt in einem Geschlechtersystem. Darüber wissenschaftlich zu sprechen, erleben nun viele so, als ob die Gender Studies den Leuten das Geschlecht wegnehmen wollen, was uns völlig fernliegt. Oder dass wir zwangsweise den Glottisschlag einführen wollen. Das ist weitgehender Unsinn und eine Verkürzung der Bedeutung von „Gender“, die aus meiner Sicht der Kulturkampf von rechts bereits angerichtet hat.

In Ihrem Buch verorten Sie den Widerstand gegen das Gendern politisch eindeutig: „Anti Genderismus ist rechter Gefühlskitt.“ Ich kenne viele Leute, die das Gendern vehement ablehnen, die sich aber ebenso vehement dagegen wehren würden, als Rechte bezeichnet zu werden. Sind das alles Rechte, ohne es zu wissen?

Der Antigenderismus ist eine Diskursfigur, an der alle möglichen Akteure Anschluss finden: ob jetzt rechtsextrem oder nur rechts oder noch gar nicht entschieden. Da wird ein totalitäres System imaginiert, das den Leuten ihre Freiheiten nehmen will als ganz normaler Mensch, als ganz normaler Bürger. Im Parteiprogramm der AfD steht, dass die Gender Studies aus den Universitäten verschwinden sollen, weil sie ein ideologisches Unternehmen seien.

Apropos normaler Bürger. Immer mehr Politiker und Politikerinnen berufen sich auf eine ominöse Normalität und den „Normalbürger“, von Olaf Scholz bis Sahra Wagenknecht, von Norbert Röttgen bis zur AfD mit ihrem Slogan: „Deutschland. Aber normal“ …

… ein einflussreicher und sehr gut gewählter Slogan.

Was ist daran gut gewählt?

Der Slogan macht aus der Position „normaldeutsch“ eine scheinbar bedrohte, was sich aus dem „aber“ ableitet. „Normal“ heißt hier natürlich weiß, heterosexuell, herkunftsdeutsch. Der Slogan vermittelt präzise das Gefühl, das die neue Rechte auslösen will: Diese angeblich „normalen Deutschen“ seien irgendwie marginalisiert. Die Normalität, die da beschworen wird, suggeriert einen Zustand des Lebens, der außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse, außerhalb von Politik stattfindet. Sozusagen ein Ruheraum des Lebens, wie man sich das in den 50er Jahren gerne vorgestellt hat, als quasi natürliche Ordnung. Die Frauen sind lieber zu Hause, die Männer müssen arbeiten gehen. Das sind Gefühle des Unpolitischen, die verteidigt werden möchten.

Die Sehnsucht nach dem Ruheraum des Lebens, die Angst vor dem Verlust des gewohnten Lebens, auch die Angst vor dem Verlust von Privilegien, das bezeichnen Sie als rechte Gefühle. Steht da wirklich der Faschismus vor der Tür? Sind Sie da nicht allzu alarmistisch?

Verlustängste haben sicher alle, und viele Menschen in Deutschland haben bereits viel verloren. Es ist aber der Rechtsextremismus, der die Erzählung anbietet, das „Normale“ – das weiße, konservative, geschlechtskonforme, herkunftsdeutsche Deutsche – sei in Gefahr und drohe verdrängt zu werden. Alarmismus kann man mir gerne vorhalten, und sich dann noch mal die Gewaltstatistiken zum Rechtsextremismus anschauen, die Anschläge und die Migrationsdebatten. Auf die Frage „Steht der Faschismus vor der Tür?“, frage ich zurück: welche Tür? Und welcher Raum soll das sein, wo es noch keinen Faschismus gäbe oder nur vereinzelte Rechtsextreme oder Rassismus nur ein persönliches Problem einiger Dummer wäre? Der Faschismus ist nicht weit weg, nicht so extrem außen, wie der Extremismusbegriff impliziert. Und er war es auch nie. Die Mehrheitsgesellschaft hält oft an diesem Bild fest: Oh, da gibt es plötzlich Hate Speech. Plötzlich gibt es einen Rassisten. Nichts passiert plötzlich, Rassismus und Sexismus sind Alltag in deutschen Strukturen, von denen Mehrheitsdeutsche eben profitieren. Ich schlage für diese rechte Agitation und ihre Flächeneffekte ein anderes Bild vor: nicht der plötzliche Angriff, sondern die Klimaveränderung. Der rechte Kulturkampf will das Klima der Gesellschaft ändern. Sie nennen das Metapolitik: die Ideologisierung des Alltags und der Begriffe, mit denen wir reden. Warum geht es mir gerade schlecht? Warum hast du gerade Probleme mit deinem Partner, auf der Arbeit? Das sind banale emotionale Punkte, an denen rechte Agitation ansetzt. Und sie liefert griffige Antworten und Welterklärungsformeln: Warum der große Austausch daran schuld ist, wie es uns gerade geht.

Was tun? Wie können wir den digitalen Faschismus stoppen?

Eine gute Frage, auf die ein weißer Deutscher wie ich allein keine Antwort geben kann. Ich wünsche mir breite gesellschaftliche Allianzen und diversere Öffentlichkeiten, die andere, bessere und weniger tödliche Antworten geben. Wen Sie mit „wir“ meinen, ist sehr wichtig. Aber ich antworte mal mit einer Beobachtung im Anschluss an mein Buch: Die rechten Provokationen, die ich 2014 in irgendwelchen abseitigen Internetforen wie 4Chan gefunden habe, höre ich heute etwas ausführlicher ausgedrückt in deutschen Medien. Wenn der Publizist Jan Fleischhauer damit provozieren will, Hitler hätte den Sozialstaat erfunden, dann imitiert er Memes und Diskursmanöver, die das rechte Internet seit Jahrzehnten erfolgreich ausschlachtet. Es hat sich eine beispiellose Ausbreitung digitaler Agitationsstrategien in den journalistischen Mainstream und in die Breite der Gesellschaft ereignet. Rechte Metapolitik schreitet voran, die Gewaltbereitschaft und -akzeptanz folgt ihr. Daher die Rückfrage: Wie will der Journalismus diese Entwicklung stoppen?"

Zur Person: Simon Strick, Jahrgang 1974, ist Medien- und Genderforscher am Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaften in Potsdam. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit konzentriert sich auf Gender- und Rassismustheorien, Populäre Kulturen, Affect Studies, Medien- und Kulturanalyse. Mit Susann Neuenfeldt und Werner Türk gründete er 2009 das Performancekollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen. Simon Strick lebt in Berlin. Sein aktuelles Buch „Rechte Gefühle - Affekte und Strategien des digitalen Faschismus“ ist im transcript Verlag erschienen (480 S., 34 Euro).

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