12.11.2024 12:24
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Wenn der Staat Finanzkriminalität nicht ausreichend verfolgt, ist er krass unfair
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Bis April galt sie als mächtigste Staatsanwältin Deutschlands. Dann quittierte sie den Dienst. Am Samstag (9. November) kam Anne Brorhilker in neuer Funktion nach Frankfurt. Als Co-Geschäftsführerin des Vereins Finanzwende rief sie die Menschen dazu auf, sich im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität zu organisieren. Die Frankfurter Rundschau berichtet:
„Wenn man sich zusammenschließt, kann man viel erreichen!“, sagte sie bei einer Veranstaltung des Vereins Business Crime Control (BCC). Die 51-Jährige kritisierte scharf, dass die Justizbehörden in Deutschland gegen Wirtschaftskriminelle zu schwach aufgestellt seien. „Wir haben zu wenig Richter und zu wenig Staatsanwälte.“ Anne Brorhilker ermittelte zu Cum-Ex: Schaden der Steuerzahler bei 40 Milliarden Euro Bis zu ihrem Rückzug aus dem Staatsdienst war Brorhilker elf Jahre lang als Vorkämpferin gegen die Cum-Ex- und Cum-Cum-Kriminalität hervorgetreten. Bei diesen Tricks hatten deutsche und ausländische Banken Steuerrückerstattungen vom Finanzamt erschlichen, die ihnen nicht zustanden. Den entstandenen Schaden für die Steuerzahlenden bezifferte die Juristin auf rund 40 Milliarden Euro.
Zu dieser Summe beim größten Wirtschaftsverbrechen der Nachkriegsgeschichte habe sie vom entlassenen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) „nichts gehört“.
Von dem angerichteten Schaden hätten Gerichte durch ihre Urteile bisher nur weniger als ein Prozent wieder zurückholen können.
Petition von 327000 Menschen gegen das Bürokratieentlastungsgesetz
Mit einer Petition, die bisher von 327.000 Menschen unterzeichnet wurde, kämpft der Verein Finanzwende gegen das neue Bürokratieentlastungsgesetz der Bundesregierung. Dieses soll es Unternehmen ermöglichen, Dokumente zu ihrem Geschäftsgebaren schon nach acht Jahren zu vernichten – während schwere Steuerhinterziehung erst nach 15 Jahren verjährt. Der Gesetzgeber hat allerdings zuletzt für Banken und für Finanzfonds die Gültigkeit dieser Regelung um ein Jahr verschoben. „Das macht Hoffnung!“, sagte sie.
Das Bürokratieentlastungsgesetz sei in Wahrheit „eine Mogelpackung“
Tatsächlich sollten „Beweismittel vernichtet“ werden. Die frühere Ermittlerin ging vor der Veranstaltung im Gespräch mit der FR auf die Motive für ihr Engagement bei Finanzwende ein. „Bei vielen Menschen gibt es ein Ohnmachtsgefühl, dass gegen Finanzkriminalität zu wenig geschieht“. Das sei „eine gefährliche Ausgangssituation.“ Die Menschen lenkten ihre Wut „in andere Kanäle“, so Brorhilker mit Verweis auf die Erfolge rechtsextremer Kräfte in Deutschland. Dagegen helfe nur Öffentlichkeit: „Das scheint mir der einzige Hebel zu sein.“ Die ehemalige Staatsanwältin ist schon mehrfach öffentlich aufgetreten und sprach von einem „Super-Interesse“ für ihre Veranstaltungen. Ressourcen ungleich: So werden Ermittlungen gegen Finanzkriminalität erschwert.
Nach ihren Worten führen die Justizbehörden in Deutschland in Sachen Cum-Ex und Cum-Cum gegenwärtig Ermittlungen gegen 1800 Beschuldigte. „Es gibt allerdings ein riesiges Dunkelfeld.“ Brorhilker hatte 2013 in Köln eines der ersten Ermittlungsverfahren wegen Cum-Ex eröffnet. Zuvor war bereits die hessische Generalstaatsanwaltschaft aktiv geworden.
Die Juristin verwies auf das sehr schiefe Kräfteverhältnis zwischen der Finanzwirtschaft in Deutschland und den Menschen, die sich gegen Finanzkriminalität engagierten. „Die Ressourcen sind ungleich verteilt.“ Die größten zehn Unternehmen der Finanzwirtschaft in Deutschland investierten im Jahr in ihre Lobbytätigkeit nur im politischen Raum 42 Millionen Euro. Dagegen verfüge der Verein Finanzwende beispielsweise gerade einmal über 30 Mitarbeitende. Brorhilker forderte, das öffentliche Register über Lobbytätigkeiten erheblich auszubauen und zu verschärfen. Es brauche mehr Transparenz. So sei es zum Beispiel für die Öffentlichkeit wichtig zu erfahren, wer an Gesetzentwürfen mitgearbeitet habe.
Olaf Scholz bei Cum-Ex verwickelt: Widerstände gegen die Ermittlungen
Die ehemalige Staatsanwältin unterliegt, wie sie in der Veranstaltung deutlich machte, einer dienstlichen Verschwiegenheit über einzelne Ermittlungsverfahren und Fälle. Sie wollte sich daher auch nicht im Detail zu den Cum-Ex-Verfahren im Zusammenhang mit der privaten Warburg Bank in Hamburg äußern. Dabei hatte die Stadt Hamburg der Bank die Rückerstattung einer zweistelligen Millionensumme an den Staat erlassen, die sie mit Cum-Ex-Tricks verdient hatte. Zuvor hatte es offenbar Treffen zwischen dem Sprecher der Warburg Bank, Christian Olearius, und dem damaligen Hamburger Bürgermeister und heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz gegeben. Während Olearius die Kontakte in seinem Tagebuch festgehalten hatte, behauptet Scholz, er könne sich nicht erinnern. Dazu sagte Brorhilker vor dem Publikum im Frankfurter Dominikanerkloster lediglich: „Es stand alles im Tagebuch!“ Und weiter: „Bei der Warburg Bank war offensichtlich, dass sie Rückhalt hatte von der Politik.“ Das Verfahren gegen Olearius war wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Bankiers eingestellt worden, „nicht wegen fehlender Beweise“, so die Juristin.
Sie berichtete zudem über erhebliche Widerstände gegen ihre frühere Ermittlungsarbeit als Staatsanwältin. „Ich wurde persönlich diskreditiert und als komische Person dargestellt, die Probleme mit Menschen hat.“
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01.06.2024 10:38
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Arbeitgeber zu Maßnahmen gegen Mobbing verpflichtet - wenn es konkret benannt wird
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Spitze Bemerkungen, abfällige Äußerungen oder sogar gezieltes Ausschließen von gemeinsamen Terminen: Mobbing am Arbeitsplatz kann sehr belastend sein. Wann müssen Vorgesetzte...
Kiel (dpa/tmn) - . Arbeitnehmer müssen Mobbingvorwürfe präzise und detailliert darlegen. Denn Arbeitgeber müssen Mobbing unter Arbeitskollegen unterbinden, wenn sie davon wissen. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einer „positiven Kenntnis“.
Bei Mobbingvorwürfen kommt es auf konkrete Beweise sowie detaillierte Schilderungen durch Arbeitnehmer an. Das zeigt auch eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Kiel (AZ: 6 Sa 48/23). Über den Fall berichtet die Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht des Deutschen Anwaltvereins (DAV).
Eine Zahnarzthelferin hatte gegen ihren Arbeitgeber wegen angeblichen Mobbings durch Arbeitskolleginnen geklagt. Dabei berief sie sich auf ihren katholischen Glauben, ihre polnische Herkunft und ihre Entscheidung, sich nicht gegen COVID-19 impfen zu lassen. Trotz wiederholter Beteuerungen konnte sie jedoch nicht konkretisieren, wann und wie sie ihren Arbeitgeber über die Vorfälle informiert hatte.
Das Urteil
Das Landesarbeitsgericht stellte fest, dass der Arbeitgeber ohne genaue Kenntnis nicht verpflichtet ist, konkrete Maßnahmen gegen Mobbing zu ergreifen. Eine Haftung für die behaupteten Mobbinghandlungen sei nicht begründet, da der Arbeitgeber nicht ausreichend über die konkreten Vorfälle informiert worden sei. Der Arbeitgeber verletze nur dann seine Fürsorge- oder Schutzpflicht, wenn er trotz positiver Kenntnis nicht eingreift.
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21.06.2023 12:32
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Krasse Unfairness zugunsten reicher Privatflieger
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Es ist ein starkes Stück Unfairness, Unrecht und Reichenbevorzugung, dass Privatjets, Luxusflieger allemal, vom EU-Emissionshandel ausgenommen, der eigentlich für den innereuropäischen Luftverkehr gilt.
Sarah Lange, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen und Mitglied im Netzwerk Plurale Ökonomik, schreibt in der Frankfurter Rundschau am 19.6. zu Recht dazu:
„Oft wird behauptet, Klima- und Sozialpolitik stünden miteinander in Konflikt, dabei ist das Gegenteil der Fall: Verteilungsgerechtigkeit kann ein Schlüssel für wirksamen Klimaschutz sein.
Über den Wolken scheint die Freiheit grenzenlos zu sein. Zumindest gilt das für Superreiche und andere Betreiber:innen von Privatjets. Die Luxusflieger sind vom EU-Emissionshandel ausgenommen, der eigentlich für den innereuropäischen Luftverkehr gilt. Ein Sinnbild für die soziale Ungleichheit in Sachen Klimaschutz. Die Klimakrise ist menschengemacht, aber manche Menschen tragen deutlich mehr zur drohenden Überschreitung der Pariser Klimaziele bei als andere.
In Deutschland werden durchschnittlich elf Tonnen klimaschädlicher Treibhausgase pro Person und Jahr ausgestoßen. Während die ärmere Hälfte der Bevölkerung mit ihrem Lebensstil allerdings „nur“ knapp acht Tonnen pro Person verursacht, fällt der CO2-Fußabdruck von Reichen und Superreichen deutlich größer aus.
Rechnet man klimaschädliche Investitionen, etwa in fossile Energieträger, mit ein, verbraucht das reichste ein Prozent der deutschen Bevölkerung 160 Tonnen CO2 pro Person pro Jahr – die oberen 0,1 Prozent ganze 720 Tonnen. Eine absurd hohe Treibhauslast. Klimaverträglich wäre laut Umweltbundesamt ein Pro-Kopf-Ausstoß von unter einer Tonne.
Während die obersten Einkommensgruppen sowohl im globalen als auch im bundesweiten Vergleich überproportional stark zur Klimakrise beitragen, leiden Einkommensschwache besonders stark unter den Folgen der globalen Erhitzung. Oft wird behauptet, Klima- und Sozialpolitik stünden miteinander in Konflikt, dabei ist das Gegenteil der Fall. Verteilungsgerechtigkeit kann ein Schlüssel für wirksamen Klimaschutz sein.
Hierbei geht es nicht darum, die „Reichen“ kollektiv zu verurteilen. Vielmehr bedarf es zielgerichteter Steuern, aber auch Verbote von energieintensivem Luxuskonsum. Nur so entstehen Verbindlichkeit und Planungssicherheit.
Ein begleitender sozialer Kompensationsmechanismus wie das Klimageld ist notwendig, um Klimaschutz sozial gerecht zu gestalten. Mehreinnahmen aus der Besteuerung von Luxusgütern wie Privatjets oder Yachten können außerdem für die Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen an die Folgen der Klimakrise verwendet werden. Insbesondere die vulnerable Bevölkerung in den Ländern des globalen Südens gilt es zu unterstützen.
Auch über den Wolken endet die Freiheit des Einzelnen dort, wo die Freiheit der anderen beginnt“.
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27.02.2023 09:48
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EU-Keine Umsetzung der EU-Whistleblower-Richtlinie - Kommission verklagt Deutschland vor dem EuGH. Zu Recht
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Die EU-Kommission ist mit ihrer Geduld am Ende. Sie verklagt Deutschland und sieben andere Mitgliedsstaaten wegen Nicht-Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Bereits Anfang 2022 hatte die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Ende 2019 inkraftgetretene EU-Whistleblowing-Richtlinie hätte bis zum 17.12.2021 in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Zuletzt war die Verabschiedung eines Hinweisgeberschutzgesetzes von CDU/CSU im Bundesrat blockiert worden (10.02.2023).
Whistleblower weisen auf staatliche Kontroll- und Regelungslücken hin. Sie ermöglichen Rechenschaftslegung und Veränderung und stärken den demokratischen Diskurs. Das hat auch der Europäische Menschengerichtshof (EGMR) in seinem jüngsten Urteil im Fall Halet v. Luxemburg anerkannt und klargestellt, dass die Offenlegung von gravierenden Missständen im öffentlichen Interesse liegt.
„Ohne Druck der EU gibt es offenbar kein Whistleblowerschutzgesetz. Ohne EU-Richtlinie hätte es wohl nicht einmal einen Gesetzesentwurf gegeben. Wirtschaft und Politik zögern den Whistleblowerschutz seit Jahren hinaus. Der deutsche Gesetzgeber muss jetzt dringend ein umfassendes Hinweisgeberschutzgesetz verabschieden, wenn er erhebliche Strafzahlungen vermeiden will,“ fordert der Geschäftsführer von Whistleblower-Netzwerk, Kosmas Zittel. „Außerdem ist es im Lichte des EGMR-Urteils geboten, den Gesetzesbeschluss des Bundestags nachzubessern und öffentliches Whistleblowing zu erleichtern.“
Der Gesetzesbeschluss vom Bundestag erlaubt Offenlegungen nur in Ausnahmefällen. Meldungen von erheblichen Missständen unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße sind gänzlich vom Schutzbereich des Gesetzes ausgenommen. Whistleblower-Netzwerk fordert dagegen seit langem, Hinweise zu erheblichen Missständen unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße in den sachlichen Anwendungsbereich des Gesetzes aufzunehmen und deren Offenlegung zu schützen, wenn dies im Interesse der demokratischen Öffentlichkeit liegt. Wir fühlen uns durch das jüngste Urteil des EGMR in unserer Sichtweise bestätigt.
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10.02.2023 09:21
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CDU/CSU agieren unverantwortlich gegen das Whistleblower-Gesetz im Bundesrat
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Der Bundesrat verweigerte dem Whistleblower-Schutzgesetz die Zustimmung.
Das im Dezember vom Bundestag verabschiedete Hinweisgeberschutzgesetz kann vorerst nicht in Kraft treten. Der Bundesrat hat dem im Dezember vom Bundestag verabschiedeten Hinweisgeberschutzgesetz am Freitag nicht zugestimmt. Mehrere Bundesländer mit Regierungsbeteiligung von CDU und CSU haben dem Gesetz zum Schutz von Whistleblowern ihre Stimme verweigert. Angesichts der Tragweite, der anhaltenden Schutzlosigkeit von Hinweisgebern und der Dringlichkeit für Korruptionsbekämpfung ist das ein politischer Skandal. Hinzukommen ein falsches Verständnis des Gesetzes durch die CDU/CSU, die hier wie ein Erfüllungsgehilfe der großen Bundesverbände der Wirtschaft wirkt.
Die Nichtregierungsorganisation Transparency Deutschland bezeichnete das als Trauerspiel. „Einige Union-geführte Länder haben heute mit fachlich fragwürdigen und zum Teil schlicht unrichtigen Argumenten das Gesetz zum Schutz von Hinweisgebenden blockiert“, sagte Sebastian Oelrich von Transparency Deutschland dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Oelrich ist Co-Leiter der Arbeitsgruppe Hinweisgeberschutz der Organisation.
„Insbesondere die von der Union kritisierte Verpflichtung zum Nachgehen auch anonymer Hinweise ist essentiell für Hinweisgeberschutz – und in vielen Unternehmen bewährte Praxis“, sagte Oelrich. „Durch die Blockade im Bundesrat müssen die betroffenen Personen, die auf Missstände hinweisen und damit Zivilcourage beweisen, weiter auf einen verlässlichen Schutzschirm warten“, kritisierte er.
Das beschere in Unternehmen und Behörden sowie für Hinweisgebende weiterhin große rechtliche Unsicherheit. „Für Deutschland ist das auch im internationalen Vergleich ein Armutszeugnis, schließlich ist die Frist zur Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie bereits Ende 2021 verstrichen“, so Oelrich.
Mit dem Gesetz sollte ein besserer Schutz für Whistleblower geschaffen werden, die Hinweise auf Missstände in Behörden oder Unternehmen geben. Tatsächlich hätte Deutschland die EU-Richtlinie bereits in nationales Recht umsetzen müssen. Die Frist verstreicht nun noch länger.
Der Bundestag hatte das Hinweisgeberschutzgesetz am 16. Dezember 2022 verabschiedet. Bundestag und Bundesregierung können nun den Vermittlungsausschuss anrufen. In dem Gremium aus Mitgliedern von Bundesrat und Bundestag würde dann nach einer Kompromisslösung gesucht, mit der die notwendige Mehrheit für das Gesetz zustande käme.
Deutschland hinkt schon Jahre hinter den EU-Richtlinien-Vorgabe zurück und riskiert dafür Strafzahlungen. Der Widerstand aus der Wirtschaft ist beträchtlich. Warum wohl? Wer viel mit und in Unternehmen bzw. mit Mitarbeitenden zu tun hat, weiß: Es läuft nicht nur Manches schief in den Firmen. Für mehr Fairness wäre das Whistleblower-Gesetz wichtig - sein Fehlen und Verhindern trägt zur Unfairness bei.
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08.02.2023 13:33
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Schlechtes Zeugnis für Saisonsarbeit in der Landwirtschaft - unfaire Tricks im Umgang mit Beschäftigten
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Der Bericht „Saisonarbeit in der Landwirtschaft“ stellt der Branche ein schlechtes Zeugnis aus. Steffen Hermann berichtet und kommentiert in der Frankfurter Rundschau:
"In wenigen Wochen beginnt die Erntesaison. Tausende Saisonarbeitskräfte aus dem Ausland werden dann auf den Feldern schuften, um Spargel und Erdbeeren auf die Küchentische zu bringen. Vor dem Start der neuen Erntesaison hat die Initiative Faire Landarbeit einen Blick zurück auf das Jahr 2022 geworfen. Das Bündnis stellt der Branche kein gutes Zeugnis aus: Arbeit auf dem Feld ohne Schutz vor der Sonne, verschimmelte Wohnungen ohne echtes Bad, Akkordarbeit, ausbleibende Löhne und fehlende Krankenversicherungen. „Das sind teils unhaltbare Zustände“, sagte Harald Schaum, stellvertretender Bundesvorsitzender der IG BAU, bei der Präsentation des Berichts „Saisonarbeit in der Landwirtschaft“ am Freitag.
Schaum stellte vor allem einen Punkt heraus: die Krankenversicherung. Zwar müssen Betriebe die Helfer:innen seit 2022 bei einer Krankenversicherung anmelden. Aber auch die sogenannte private Gruppen-Krankenversicherung habe ihre Lücken, oft bleiben die kurzfristig Beschäftigten auf Behandlungskosten sitzen. „Sie dürfen keine Beschäftigten zweiter Klasse sein“, forderte Schaum. Die Bundesregierung kritisierte der Gewerkschafter scharf. Er sei „ziemlich enttäuscht“, dass SPD, Grüne und FDP ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag für einen „vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag“ bis heute nicht eingelöst habe.
Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), lobte die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro. Aber: Damit das Geld bei den Leuten ankomme, brauche es eine transparente Erfassung der Arbeitszeit. Das passiere vielerorts aber nicht, was die Gefahr für Lohndumping erhöhe, so Piel. Sie beklagte auch andere Tricks, mit denen der Lohn gedrückt werde: nicht anerkannte Überstunden, Wuchermieten für gestellte Unterkünfte oder in Rechnung gestellte Arbeitsgeräte.
Saisonarbeit: Kaum Kontrollen in Landwirtschaft
Mehr Kontrollen könnten die Situation verbessern. Doch die Gefahr für ausbeuterische Arbeitgeber aufzufliegen, ist sehr gering: Nur knapp ein Prozent der Betriebe sei 2021 von den Behörden kontrolliert worden, sagte Piel. Im ersten Halbjahr 2022 sei die Kontrolldichte sogar unter ein Prozent gefallen.
Die meisten der rund 250 000 bis 270 000 Saisonkräfte reisten 2022 aus Rumänien an, etwa 60 Prozent. Auch aus Polen, Ungarn und Bulgarien kamen viele Menschen zum Arbeiten auf deutsche Felder. Weil es aber immer schwieriger wird, arbeitswillige Menschen zu finden, suchen die Unternehmen in immer ferneren Ländern wie der Ukraine, Kirgistan oder Usbekistan. Auch Menschen aus Georgien und der Republik Moldau dürfen hierzulande inzwischen ohne Visum als Saisonarbeitskräfte eingesetzt werden.
Saisonarbeit: Erntehelfer kommen aus fernen Ländern
Auch andere Staaten suchen nach Erntehelfer:innen. So wollen britische Landwirte laut dem Portal Easyfruit in diesem Jahr 1500 Arbeitskräfte aus Usbekistan anwerben. Auch in Nepal, Kasachstan und Kirgistan seien britische Recruiter auf der Suche nach Arbeitswilligen.
Erfahrungen wie auf einem Obsthof am Bodensee dürften keine Werbung für Deutschland sein: Eine Gruppe aus Georgien klagte über Wohncontainer voller Schimmel und Kakerlaken. Außerdem sollen sie für sechs Wochen Arbeit im Schnitt nicht mehr als 300 Euro erhalten haben, wie es im aktuellen Bericht heißt. Der Fall aus der Saison 2021 landete vor Gericht, wo er zunächst mit einem Urteil zugunsten der Erntehelfer, und im Dezember 2022 dann mit einem Vergleich endete. Zumindest ein Teil des ausstehenden Lohnes dürften die Georgier:innen erhalten haben.
Das sei durchaus ein Erfolg, sagte Schaum. Seine Gewerkschaft hatte die Klage unterstützt, denn die georgischen Arbeitskräfte waren Mitglieder der IG BAU. Möglich machte das eine Einjahresmitgliedschaft, die die Gewerkschaft für Wander:arbeiterinnen anbietet.
Indes sind die ersten Arbeitskräfte der neuen Saison schon eingetroffen: Sie bereiten die Felder für die Ernte vor".
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30.07.2022 15:06
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Whistleblower-Gesetzesentwurf: Edward Snowden wäre dadurch schutzlos
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Am Gesetzesentwurf zum Whistleblower-Schutz der Ampel-Koalition gibt es vielfältige Kritik. Jana Ballweber berichtet dazu in der Frankfurter Rundschau am 30.7.2022 auf S. 6:
„Wissenschaftler:innen üben Kritik am Gesetzentwurf der Ampel zum Schutz von Whistleblower:innen. Wer Missstände beim eigenen Arbeitgeber aufdeckt, soll vor Kündigung oder anderen beruflichen Nachteilen geschützt werden. Das war das Ziel der EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblower:innen, die 2019 auf den Weg gebracht worden war. Eigentlich hätten alle Mitgliedsstaaten die Regelung bis Ende 2021 umsetzen müssen. Doch ein entsprechender Entwurf der damaligen Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) war am Widerstand der CDU gescheitert.
Nun hat Lambrechts Nachfolger Marco Buschmann (FDP) einen neuen Entwurf auf den Weg gebracht, dem das Kabinett in dieser Woche zugestimmt hat. Das Gesetz sieht vor, dass Arbeitnehmende nicht entlassen oder anderweitig benachteiligt werden können, wenn sie auf Gesetzesverstöße aufmerksam machen. Hält sich der Arbeitgeber nicht daran, haben die Whistleblower:innen Anspruch auf Schadensersatz.
Whistleblower-Gesetz: Was sieht der Ampel-Entwurf vor?
Unternehmen und Behörden müssen ab einer Zahl von mindestens fünfzig Mitarbeitenden interne Meldestellen einrichten, an die Hinweisgebende sich wenden können, wenn sie auf einen Rechtsverstoß hinweisen wollen. Der Bund selbst richtet externe Meldestellen ein, sodass Mitarbeitende frei wählen können, welcher Stelle sie ihre Informationen anvertrauen wollen.
Die Ampel hatte sich den besseren Schutz von Whistleblower:innen schon im Koalitionsvertrag auf die Fahnen geschrieben. Dabei wollten SPD, Grüne und FDP sogar deutlich über die EU-Vorgaben hinausgehen: Nicht nur das Aufdecken von Verstößen gegen EU-Gesetze sollte geschützt werden, sondern auch Verstöße gegen nationales Recht und Hinweise auf „sonstiges, erhebliches Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt“. Fachleute sehen unzureichenden Schutz von Whistleblower:innen
Das Problem für viele Kritiker:innen: Hinter diesem Anspruch bleibt die Koalition mit ihrem Entwurf zurück. Denn geschützt sind Hinweisgebende nur, wenn gegen geltendes Recht verstoßen wurde. Wer auf die mangelnde Versorgung von Pflegebedürftigen im Rahmen der gesetzlich vorgegebenen Personalschlüssel berichtet oder legale rechtsextreme Äußerungen aus einer Chatgruppe der Polizei weitergibt, ist der Reaktion des Arbeitsgebers weiterhin ungeschützt ausgeliefert.
Das kritisiert auch Simon Gerdemann, der an der Universität Göttingen zum deutschen Whistleblowing-Recht forscht, in seiner Stellungnahme zum Gesetz. Er beklagt, dass nicht einmal Enthüllungen wie die von Edward Snowden zur Massenüberwachung durch den amerikanischen Geheimdienst NSA von Buschmanns Entwurf geschützt wären, da die Überwachung nach Meinung vieler Jurist:innen nicht gegen US-amerikanisches Geheimdienstrecht verstoßen habe.
Whistleblower-Gesetz: Ein deutscher Snowden würde durchs Raster fallen
Ein deutscher Snowden würde noch aus einem anderen Grund keinen Schutz vor Repressalien seines Arbeitgebers erhalten: Informationen zu Geheimdiensten sind explizit vom gesetzlichen Schutz ausgenommen. Die Begründung: Wer über Missstände in Geheimdiensten informieren möchte, könne sich an das parlamentarische Kontrollgremium wenden. Gerdemann gibt zu bedenken, dass die Regelungen des Gremiums hinsichtlich Whistleblowings nicht den Ansprüchen der EU-Richtlinie genügen und empfiehlt, die Ausnahmen für Geheimdienste aus dem Gesetz zu streichen.
Kritik gibt es darüber hinaus an der fehlenden Verpflichtung für Unternehmen und Behörden, auch anonyme Meldungen entgegenzunehmen. Im Entwurf werden anonyme Meldungen zwar nicht ausgeschlossen; die internen Stellen müssen sie aber nicht entgegennehmen. Außerdem sollen sie eine geringere Priorität haben als Hinweise, deren Absender:innen sich zu erkennen geben.
Schutz von Whistleblowern: Kritik an Meldestellen
Die Arbeitgeber-Verbände begrüßen in ihrer Stellungnahme hingegen die fehlende Pflicht, anonyme Hinweise entgegenzunehmen. „Es muss weiter möglich bleiben, dass Unternehmen selbst darüber entscheiden können, ob sie anonyme Meldungen ermöglichen wollen. Effektive Weiterverfolgung erfordert oftmals nochmalige gezielte Nachfragen“, heißt es in dem Papier. Durch die Sicherstellung der Vertraulichkeit seien die Whistleblower:innen ausreichend geschützt. Die Arbeitgeber stören sich aber an den externen Meldestellen. Ein Unternehmen könne am besten selbst entscheiden, wie mit einem Fehlverhalten umzugehen sei. Der Entwurf wird nun im Bundestag beraten“.
"Kritik am Entwurf des Whistleblower-Schutzgesetzes"
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22.07.2022 09:12
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Hart aber fair – was es beim Aufhebungsvertrag zu beachten gilt
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Wollen Arbeitgeber und Arbeitnehmer getrennte Wege gehen, sieht das Arbeitsrecht mehrere Möglichkeiten vor. Zwei besonders gängige sind: die Kündigung und der Aufhebungsvertrag. Die Kündigung ist an gesetzliche oder vertragliche Fristen geknüpft und in der Regel setzt er einen Kündigungsgrund voraus, ein Aufhebungsvertrag lässt sich jederzeit schließen. Nur fair verhandelt muss er sein. Was Arbeitgeber dabei zu beachten haben, fasst Arbeitsrechtlerin Larissa-Roxana Stergiou für „Markt & Mittelstand“ zusammen:
"Knirscht es zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer so heftig, dass eine weitere Zusammenarbeit vernünftigerweise nicht mehr in Betracht kommt, schlägt der Arbeitgeber oft einen Aufhebungsvertrag vor. Auch um eine besonders lange Kündigungsfrist abzukürzen, ist der Aufhebungsvertrag in der Praxis das Mittel der Wahl. Sind sich beide Seiten einig, müssen sie ihren Willen, das Arbeitsverhältnis aufzuheben, lediglich schriftlich festhalten. Zu beachten ist dabei u.a., dass der Aufhebungsvertrag nicht gegen ein gesetzliches Verbot oder den Grundsatz von gegen Treu und Glauben verstößt – und nicht das Gebot des fairen Verhandelns unterläuft.
Das Gebot fairen Verhandelns ist eine sogenannte vertragliche Nebenpflicht. Damit soll bereits im Vorfeld des Vertragsschlusses ein Mindestmaß an Fairness gewährleistet werden. Gegen den Grundsatz des fairen Verhandelns verstößt, wer bei der Aufnahme von Vertragsverhandlungen eine für sein Gegenüber unfaire Situation herbeiführt oder ausnutzt. Die Gerichte stellen hierbei darauf ab, ob die Entscheidungsfreiheit in zu missbilligender Weise beeinflusst wird, indem beispielsweise psychischer Druck ausgeübt wird.
Über die Frage, ob und wann es unfair ist, wenn der Arbeitgeber auf den Arbeitnehmer Druck ausübt, einen Aufhebungsvertrag zu unterschreiben, hatte unlängst das Bundesarbeitsgericht zu entscheiden (Az. 6 AZR 333/21). Es ging um eine Arbeitnehmerin, die zur Unterzeichnung eines Aufhebungsvertrags in das Büro des Geschäftsführers gerufen wurde. Dort traf sie außer den Geschäftsführer auch dessen Rechtsanwalt an und sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, ihren Arbeitgeber betrogen zu haben. Sie bekam einen vorbereiteten Aufhebungsvertrag vorgelegt, der ein einvernehmliches Ausscheiden vorsah. Ihrer Bitte um Bedenkzeit und rechtlichen Beistand – so trug jedenfalls die Arbeitnehmerin vor Gericht vor – entsprachen der Geschäftsführer und der Anwalt nicht. Vielmehr erklärte der Anwalt, der Aufhebungsvertrag sei „vom Tisch“, wenn die Arbeitnehmerin ohne ihn zu unterzeichnen durch die Tür gehe. Nach etwa zehn Minuten Pause unterschrieb die Frau.
War das Verhalten des Arbeitgebers in diesem Fall unfair? Das BAG entschied: Nein, der Arbeitgeber habe das Gebot des fairen Verhandelns nicht verletzt. Faires Verhandeln setze voraus, dass die Entscheidungsfreiheit des Vertragspartners gewährleistet sei; dieser müsse jederzeit Herr über seine Entscheidung bleiben. Dies sei er objektiv betrachtet dann nicht mehr, wenn ihm nur noch eine einzige Option verbliebe. Solange er die Situation noch durch ein schlichtes „Nein“ beenden könne, sei dies nicht unfair, sondern Ausfluss eines im Rahmen von Vertragsverhandlungen zulässigen Drucks, mit dem der Arbeitgeber versucht, sein Verhandlungsziel zu erreichen. Dies gelte selbst dann, wenn der Arbeitgeber keine (weitere) Bedenkzeit einräumt.
Die Entscheidung ist vor allem aus betrieblicher Sicht konsequent: Dürfte der Arbeitgeber keinen Druck ausüben, um zu einer schnellen Einigung mit dem Arbeitnehmer zu gelangen, geriete er mit Blick auf die außerordentliche Kündigung unter enormen Zeitdruck. Außerordentlich kündigen muss er nämlich innerhalb einer Ausschlussfrist von zwei Wochen, nachdem er Kenntnis von den Umständen erlangt hat, die Anlass für die Kündigung sind. Dürfte er den Arbeitnehmer im Rahmen von Verhandlungen über einen Aufhebungsvertrag nicht zeitlich unter Druck setzen, wäre er somit davon abgehalten, überhaupt einen Einigungsversuch mit dem Arbeitnehmer anzustrengen.
Aus Arbeitnehmersicht ist festzuhalten, dass die Verhandlung über einen Aufhebungsvertrag tatsächlich meist eine Ausnahme- und psychische Drucksituation ist. Gleichwohl ist zu bedenken, dass es sich noch immer um eine Verhandlungssituation handelt, in der beide Seiten Druck ausüben dürfen, um ihre Verhandlungsziele zu erreichen. In vielen Fällen ist es auch im Sinne des Arbeitnehmers, eine außerordentliche Kündigung vermeiden. Gegen die kann der Arbeitnehmer zwar noch vor Gericht ziehen. Kitten kann er das Arbeitsverhältnis aber im Regelfall nicht mehr, sondern allenfalls im Vergleichswege eine Abfindung erreichen, die meist eh schon im Aufhebungsvertrag enthalten gewesen wäre“. "Aus Markt und Mittelstand"
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13.05.2022 16:19
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Whistleblower unerwünscht?
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Zum derzeit in Beratung befindlichen Entwurf des Whistleblower-Gesetzes schreibt das Whistleblower-Netzwerk:
"Auf die Bauernregeln kann man sich dieser Tage auch nicht mehr verlassen. Heißt es doch: „Was lange währt, wird endlich gut.“ Das trifft auf den Referentenentwurf des BMJ zum Whistleblowerschutz jedenfalls nicht zu, mit dem die Ampelregierung den nunmehr achten Anlauf zu einer gesetzlichen Regelung unternimmt. Seit erstmalig 2008 waren alle Gesetzentwürfe im Parlament gescheitert.
Der nunmehr zur Verbändeanhörung vorgelegte Referentenentwurf weist im Vergleich zum Status Quo zwar Verbesserungen auf, v.a. mehr Schutz vor Repressalien für Beschäftigte. Aber er bleibt weit hinter den Erwartungen all jener zurück, die sich seit Jahren für einen effektiven Whistleblowerschutz in Deutschland einsetzen. Die Kritik betrifft v.a. folgende Defizite:
1. Meldungen von „sonstigem Fehlverhalten“, etwa ethisch fragwürdigen Handlungen oder erheblichen Missständen unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße, sind weiterhin nicht geschützt. Unterversorgung in der Altenpflege beispielsweise, rechtsradikale Umtriebe bei Polizei und Bundeswehr, auch ethisch verwerfliche Praktiken bei Facebook würden weiterhin eher selten ans Licht kommen.
2. Whistleblowing gegenüber den Medien („Offenlegung“) soll auch künftig nur unter engen Ausnahmebedingungen geschützt sein. Diese Vorschrift genügt weder dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit für Whistleblower noch dem Informations- und Partizipationsanspruch einer demokratischen Gesellschaft. Die Norm muss den direkten Gang an die Öffentlichkeit schützen, wenn eine Offenlegung wesentlich im öffentlichen Interesse liegt.
„Die sehr eingeschränkte Möglichkeit, sich ohne Angst vor Repressalien an die Medien zu wenden und auf erhebliche Missstände aufmerksam zu machen oder Anstoß zur investigativen Recherche zu geben, behindert außerdem die journalistische Arbeit und erschwert es den Medien, ihre Kontrollfunktion auszuüben“, sagt Klaus Bergmann, Vorstandsmitglied von WBN.
3. Meldungen, die Verschlusssachen, die Geheimdienste oder die – nicht näher definierte – nationale Sicherheit betreffen, fallen ebenfalls nicht in den Schutzbereich des künftigen Gesetzes. Dabei gibt es alltägliche, schwerwiegende Missstände im öffentlichen Dienst, deren Offenlegung im öffentlichen Interesse das staatliche Interesse an ihrer Geheimhaltung erheblich überwiegt. Auch wissen wir nicht erst seit Edward Snowdens Whistleblowing, dass im Bereich der Sicherheitspolitik Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch notorisch zu befürchten sind.
Das Gesetz sollte den Whistleblower und das Informationsrecht der Gesellschaft schützen und nicht den Staat. Der vorliegende Gesetzentwurf folgt dem überkommenen Muster, Whistleblowing da zu instrumentalisieren, wo es den Staat ein Stückweit von seinen Kontrollfunktionen entlastet, aber zu behindern, wo es dem Geheimhaltungsbedürfnis der Politik zu nahe tritt". Das hat das Netzwirk ins Schwarze getroffen und - Recht.
"Mit ausführlicherer Stellungsnahme"
Den Referentenentwurf des Gesetzes finden Sie hier: https://blog.fairness-stiftung.de/FSBlogEintrag.aspx?EID=474
Kontakt: WBN – Whistleblower-Netzwerk e.V. Annegret Falter, Vorsitzende [email protected] Tel: +49 170 2965660
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19.04.2022 10:14
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Whistleblower-Schutzgesetz auf der Zielgerade - Der Entwurf liegt endlich
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Endlich, endlich ist es soweit: Das „Gesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ ist auf der Zielgerade. Der Referentenentwurf liegt vor. "Der Referentenentwurf zum Whistleblower-Schutzgesetz"
2019 hatte die EU die Richtlinie gesetzt; Deutschland ist ein sehr säumiger Nachzügler, die Richtlinie in Gesetzesform zu bringen. Der Widerstand aus der Wirtschaft war sehr groß; und lange versuchte das Ministerium zu lavieren und die Arbeit auf die lange Bank zu schieben.
Beschäftigte in Unternehmen und Behörden nehmen Missstände oftmals als erste wahr und können durch ihre Hinweise dafür sorgen, dass Rechtsverstöße aufgedeckt, untersucht, verfolgt und unterbunden werden. Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber übernehmen Verantwortung für die Gesellschaft und verdienen daher Schutz vor Benachteiligungen, die ihnen wegen ihrer Meldung drohen und sie davon abschrecken können.
Mit dem Referentenentwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden, soll der bislang lückenhafte und unzureichende Schutz von hinweisgebenden Personen ausgebaut und die Richtlinie (EU) 2019/1937 in nationales Recht umgesetzt werden. Gleichzeitig soll das Ziel eines verbesserten Hinweisgeberschutzes mit den Interessen von Unternehmen und öffentlicher Verwaltung, die zum Ergreifen von Hinweisgeberschutzmaßnahmen verpflichtet werden, so in Einklang gebracht werden, dass bürokratische Belastungen handhabbar bleiben.
Zentraler Bestandteil des Entwurfs ist ein neues Stammgesetz für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen (Hinweisgeberschutzgesetz, HinSchG). Das Hinweisgeberschutzgesetz wird begleitet von notwendigen Anpassungen bestehender gesetzlicher Regelungen (Artikel 2 bis 8 des Gesetzentwurfs), insbesondere auch im Bereich des Dienstrechts.
"Der Referentenentwurf zum Whistleblower-Schutzgesetz"
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07.01.2022 12:07
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Sind Folgen von Mobbing keine Berufskrankheit?
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Eine "Mobbing-Chronologie", sollte beweisen, dass jahrelanges Einengen auf der Arbeit ihn krankgemacht hat. Es ist jahrzehntelange Beratungspraxis – auch der Fairness-Stiftung, Betroffene zu einem Mobbing-Tagebuch zu raten, das in Spalten Datum, Vorkommnis, Folge, Bewertung (ggf. Kommentar) enthält. Dies dient in der Regel dazu, bei Arbeitsgerichtsprozessen die Glaubwürdigkeit des Betroffenen (oft: Kläger) aufzuweisen, wenn er sich als jemand sieht, der in seiner Firma oder Organisation unfair attackiert bzw. gemobbt wurde.
Nun hat ein ehemaliger Pastoralreferent einer italienisch-katholischen Gemeinde den Grund für seine Depressionen und eine posttraumatische Belastungsstörung maßgeblich in den Schikanen gesehen, denen er zwischen 2006 und 2012 bei seiner Arbeit in einer italienisch-katholischen Gemeinde ausgesetzt war. Bei seinem Unfallversicherer beantragte er wegen der psychischen Folgen die Anerkennung von Mobbing als Berufskrankheit. Der Versicherer lehnte das ab. Der einstige Pastoralreferent zog dagegen in zweiter Instanz vor das Bayerische Landessozialgericht (Az.: L 3 U 11/20).
Mobbing steht nicht auf Liste der Berufskrankheiten
Die Richter stützen sich in ihrer Entscheidung auf die Argumentation, die auch der Unfallversicherer in seiner Ablehnung an den Pastoralreferenten bereits vorgebracht hatte. Die psychische Erkrankung durch Mobbing sei nicht in der Berufskrankheiten-Verordnung und der dazugehörigen Berufskrankheiten-Liste aufgeführt, hatte die Unfallversicherung damals argumentiert. Welche Krankheiten in die Verordnung aufgenommen werden, wird auf Vorschlag des beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales angesiedelten »Ärztlichen Sachverständigenbeirats Berufskrankheiten« entschieden.
Zwar könnten auch nicht darin enthaltene Erkrankungen »wie« eine Berufskrankheit anerkannt und entschädigt werden, erläuterte das Landessozialgericht. Voraussetzung für die Anerkennung als »Wie-Berufskrankheit« sei aber, dass eine bestimmte Personengruppe wegen ihrer versicherten Tätigkeit »in erheblich höherem Maße« als die übrige Bevölkerung besonderen Einwirkungen ausgesetzt ist, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen eine Krankheit hervorrufen.
Dass Pastoralreferenten ein höheres Mobbing-Risiko haben, sei aber nicht belegt. Eine Anerkennung als »Wie-Berufskrankheit« scheide daher aus, so die Richter in ihrer Entscheidung aus dem Mai vergangenen Jahres, die erst jetzt veröffentlicht wurde.
Erhöhtes Mobbing-Risiko für einzelne Berufsgruppen noch eine Grauzone
Ohne Erfolg verwies der frühere Pastoralreferent auf eine Studie aus dem Jahr 2002, den sogenannten »Mobbing-Report«. Danach bestehe im sozial-karitativen und insbesondere im kirchlichen Bereich ein erhöhtes und spezifisches Mobbing-Risiko. Da es im kirchlichen Bereich nur eingeschränkte Mitarbeitervertretungsrechte gebe, könnten Mobbing-Betroffene sich zudem schlecht zur Wehr setzen, sagte er.
Dem widersprach das Gericht. Mobbing sei vielmehr ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Bisher habe der Ärztliche Sachverständigenbeirat ein erhöhtes Erkrankungsrisiko infolge von Mobbing für einzelne Berufsgruppen nicht untersucht. Zwar könne jahrelanges Mobbing durchaus zur psychischen Erkrankung des Klägers geführt haben. Für die Anerkennung als Berufskrankheit komme es aber nicht auf den Einzelfall an, begründeten die Richter.
Ähnlich hatte am 23. Oktober 2012 bereits das Hessische Landessozialgericht in Darmstadt geurteilt (Az.: L 3 U 199/11). Mobbing komme in allen Berufsgruppen und im privaten Umfeld vor. Dass eine bestimmte Berufsgruppe besonders häufig betroffen sei, sei bislang nicht nachgewiesen, begründete man damals. Explizite Forschung darüber, etwa für die Mobbing-Folgen für Rettungssanitäter, hat das Bundessozialgericht Kassel nun in die Wege leiten lassen (Az.: B 2 U 11/20 R).
Das Urteil wundert nicht. Bei einem Mobbingtagebuch geht es um den Einzelfall und um das Verlangen nicht angemessener Wahrnehmung eines Betroffenen durch ein Gericht. Etwas Anderes ist es, wenn man eine grundsätzliche Entscheidung erwartet, die über den Einzelfall hinaus geht und die zudem Folge hat für alle Versicherte und Arbeitgeber. Insofern ist die Entscheidung differenziert zu verstehen. Weitere Forschung hat das Gericht angestoßen. Die Ergebnisse werden sicher sehr interessant und mit Spannung erwartet.
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18.12.2021 08:16
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Deutschland versagt Whistleblower-Schutz und Richtlinie trotz EU-Vorgabe
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Die Frist zur Umsetzung der Whistleblower-Richtlinie endet heute am 18.12.2021) – nun gilt die Direktwirkung.
Die EU hat ihren Mitgliedsstaaten mehr als zwei Jahre Zeit gegeben, die im Oktober 2019 verabschiedete EU-Whistleblowing-Richtlinie (2019/1937) in nationales Recht umzusetzen. Deutschland lässt nun diese Frist verstreichen.
Die Richtlinie beinhaltet unter anderem: • Das Ende des deutschen Grundsatzes „zuerst intern melden“: Die Richtlinie stellt es Whistleblowern ausdrücklich frei, ob sie sich (im Anwendungsbereich der Richtlinie) zuerst an eine unternehmens- bzw. verwaltungsinterne Stelle wenden oder Informationen gleich an eine zuständige externe Whistleblowing-Behörde weitergeben. • Die Beweislastumkehr: Wird ein Missstand von einer Person gemeldet oder offengelegt und der Person wird z.B. gekündigt, müssen Arbeitgeber künftig beweisen, dass die Kündigung nicht im Zusammenhang mit der Meldung oder Offenlegung steht. • Regeln für öffentliches Whistleblowing: Die Richtlinie definiert Bedingungen für die Offenlegung von Verstößen gegenüber den Medien bzw. der Öffentlichkeit. Dazu zählt z.B., wenn der Verstoß eine unmittelbare oder offenkundige Gefährdung des öffentlichen Interesses darstellt oder der Whistleblower auch im Falle einer externen Meldung Repressalien zu befürchten hat. • Die Pflicht zur Einrichtung von Verfahren für interne Meldungen: Alle juristischen Personen mit 50 oder mehr Mitarbeitern sowie alle Unternehmen aus dem Bereich der Finanzdienstleistungen müssen organisationsinterne Kanäle und Verfahren für interne Meldungen einrichten. Eine Ausnahme kann lediglich für Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern gemacht werden.
Was gilt ab dem 18.12.2021?
In Deutschland existiert für Whistleblowing zurzeit keine umfassende gesetzliche Regelung und die rechtliche Zulässigkeit von Whistleblowing ist im Vorhinein oft nur schwer oder gar nicht zu beurteilen. Durch die Überschreitung der Umsetzungsfrist entsteht noch weitere Rechtsunsicherheit. Rechtsexperte Dr. Simon Gerdemann stellt in der Neuen Juristischen Wochenschriftzur mit Fristablauf einsetzenden Direktwirkung der Richtlinie drei Hauptthesen auf: • Ab dem 18.12.2021 sind juristischen Personen des öffentlichen Sektors ausnahmslos zur Einrichtung einer internen Whistleblowing-Stelle nach Maßgabe der Whistleblowing Richtlinie verpflichtet. • Beamte, öffentliche Angestellte und andere Personen, die Verstöße gegen das vom sachlichen Anwendungsbereich der Richtlinie umfasste Unionsrecht verwaltungsintern melden oder offenlegen, sind ab diesem Zeitpunkt vor sämtlichen gegen sie gerichteten Repressalien durch die Bestimmungen der WBRL direkt geschützt. Generell keine Direktwirkung entfalten hingegen die anti-diskriminierungsrechtlichen Bestimmungen zum Schutz externen Whistleblowings. • Die Wertungen der Richtlinie, insbesondere das grundsätzliche Recht zur unmittelbaren externen Meldung von Verstößen an staatliche Stellen, sind ab dem 18.12.2021 auf sämtlichen Rechtsgebieten im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zu berücksichtigen. Dies führt innerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der Richtlinie notwendigerweise zu erheblichen Wertungskorrekturen der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung in Whistleblowing-Fällen.
Aus: Gerdemann: Das neue deutsche Whistleblowing-Recht, NJW 2021, Heft 48, 3489.
Was fordert das Whistleblower-Netzwerk?
Die neue Bundesregierung sollte – wie im Koalitionsvertrag angekündigt – die Richtlinie zeitnah umsetzen und mit einem umfassenden Whistleblowerschutzgesetz für Rechtssicherheit sorgen. Dazu gehört u.a.: • Klare Regeln durch breiten Anwendungsbereich: Wie im Koalitionsvertrag angekündigt, sollten neben der Meldung von Straftaten auch Hinweise auf erhebliches Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt, aufgenommen werden. • Ein Vorrang für die Meinungsäußerungs- und Pressefreiheit: Betrachtet man die gesellschaftlich wichtigsten Whistleblowing-Fälle, so war die öffentliche Verfügbarkeit von Informationen entscheidend dafür, dass Täter*innen zur Rechenschaft gezogen wurden und politische Konsequenzen folgten. • Keine pauschale Bereichsausnahme für behördliche Verschlusssachen: Andernfalls könnten staatliche Stellen den Schutz von Hinweisgebern umgehen, indem sie Rechtsverstöße oder andere Missbräuche als Verschlusssachen klassifizieren. • Einen geregelten Schutz von Whistleblowern im Bereich „nationale Sicherheit“: Zahlreiche Fälle haben gezeigt, dass auch in diesem Bereich ein erhebliches Interesse der Öffentlichkeit besteht, von Eingriffen in Grundrechte, Gesetzesverstößen und sonstige Fehlentwicklungen zu erfahren. • Die Verpflichtung größerer Unternehmen sowie externer Meldebehörden zur Einrichtung von anonymen Meldewegen: Untersuchungen zeigen, dass die damit verbundene Sorge vor Denunziationen unberechtigt ist. • Die Einrichtung eines Unterstützungsfonds: Auch der beste gesetzliche Rahmen kann in Einzelfällen nicht vollumfassend vor erheblichen Nachteilen schützen.
"Whistleblower-Netzwerk"
Lit.: Gerdemann: Das neue deutsche Whistleblowing-Recht, NJW 2021, Heft 48, 3489.
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19.10.2021 12:19
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SLAPP - krass unfairer Gebrauch des Rechts
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Es geht um Einschüchterungsklagen gegen kritische Stimmen. So schreibt das Umweltinstitut München e.V.:
"Die Wahrheit zu sagen ist kein Verbrechen, die Meinungsfreiheit ein hohes Gut in demokratischen Staaten – und doch landen auch in Europa immer häufiger Menschen vor Gericht, die ökologische und soziale Missstände anprangern. Denn Unternehmen, Regierungen und mächtige Einzelpersonen versuchen, kritische Stimmen mit sogenannten SLAPP-Klagen zum Schweigen zu bringen. So werden Gesetze und Gerichte missbraucht, um diejenigen anzugreifen, die im öffentlichen Interesse auf Probleme aufmerksam machen und dabei allzu unbequem für die Verursacher:innen werden. Das bedroht die Demokratie im Kern.
SLAPPs steht für „Strategic Lawsuits against Public Participation” – zu Deutsch strategische Klagen gegen öffentliche Beteiligung. Mit diesem Begriff wird eine rechtsmissbräuchliche Form von Klagen bezeichnet, mit denen Kritiker:innen eingeschüchtert werden und ihre Kritik aus der Öffentlichkeit verbannt werden soll. In der englischen Abkürzung (slap; Ohrfeige, Schlag ins Gesicht) wird die Wirkung solcher Klagen auf die Betroffenen deutlich: Wer „ge-slapp-t“ wird, dem stehen oft hohe Anwaltskosten, jahrelange Gerichtsprozesse und horrende Schadensersatzzahlungen ins Haus. Den Kläger:innen geht es in erster Linie nicht darum, vor Gericht Recht zu bekommen, sondern darum, Kritiker:innen mundtot zu machen. Betroffene werden mit haltlosen Klagen überzogen, die ihre finanziellen und zeitlichen Ressourcen erschöpfen und sie psychologisch zermürben sollen. Das Kalkül hinter den Einschüchterungsversuchen: Die Beklagten sollen unter dem Druck einknicken und ihre kritischen Äußerungen zurückzuziehen – und selbst wer standhält, muss so viel Zeit und Geld in die Verteidigung vor Gericht investieren, dass die inhaltliche Arbeit unmöglich gemacht wird.
Ein Angriff auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
Gleichzeitig sind SLAPPs auch ein sprichwörtlicher Schlag ins Gesicht von rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien. Die Mächtigen und Reichen spannen die Justiz vor den Karren, um fragwürdige Geschäftspraktiken oder andere Missstände von den Augen der Öffentlichkeit fernzuhalten. Nicht ein Unrecht soll richtig gestellt, sondern Gegner:innen und Personen, die kritisch berichten, ein Maulkorb verpasst werden. Gerichte werden so unfreiwillig zu Handlangern von Unternehmen und mächtigen Lobbys, und Gerichtsprozesse ein Instrument, um die Angeklagten einzuschüchtern und ihre Kräfte und Mittel aufzuzehren.
Erste Erkenntnisse einer Untersuchung von Greenpeace International weisen darauf hin, dass SLAPPs auch in Europa stark zugenommen haben. Anhand einer Auswahl von 215 Fällen aus zehn Jahren wurde zwischen 2017 und 2018 ein Anstieg um 27 Prozent und zwischen 2018 und 2019 sogar von 75 Prozent festgestellt. Greenpeace konnte SLAPPs in 25 europäischen Ländern identifizieren, worunter Frankreich (39 Fälle), Irland (27 Fälle), Italien (24 Fälle) und Polen (17 Fälle) besonders hervorstechen.
Die abschreckende Wirkung von SLAPPs erstreckt sich nicht allein auf die Betroffenen selbst, sondern auf die Gesellschaft als Ganzes. Denn je mehr solche Knebelklagen Schule machen, desto eher stellen Menschen sich die Frage, ob sie das Risiko eines teuren Gerichtsprozesses und existenzbedrohender Schadenersatzzahlungen wirklich eingehen wollen, bevor sie soziale, ökologische, politische oder andere Missstände öffentlich anprangern. Dieser sogenannte „chilling effect“ ist keine unangenehme Nebenwirkung von SLAPP-Klagen, sondern deren ausgemachtes Ziel. SLAPPs sind ein direkter Angriff auf grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf freie Meinungsäußerung, kritische Berichterstattung, oder Protest. Werden diese Rechte bedroht, ist die Demokratie selbst in Gefahr.
SLAPPs: Ein fairer Kampf sieht anders aus
Neben ihres missbräuchlichen Charakters zeichnen sich SLAPPs durch die massive Ungleichheit zwischen Kläger:innen und Angeklagten und einen hohen Grad an Unverhältnismäßigkeit aus. Üblicherweise zerren Unternehmen mit viel Geld und Macht Einzelpersonen vor Gericht, die nichts ansatzweise über vergleichbare Mittel verfügen. Häufig werden einzelne Mitarbeiter:innen von Zeitungen oder Organisationen herausgegriffen und verklagt – so sollen sie isoliert, persönlich eingeschüchtert und in ihrer Privatexistenz bedroht werden. Die Kläger:innen, die sich problemlos teure Anwält:innen leisten können, haben nichts zu verlieren, während sich die Angeklagten mit dem finanziellen Ruin oder sogar Gefängnisstrafen konfrontiert sehen. Selbst wenn die Klage vom Gericht abgewiesen wird oder das Gericht zugunsten der „ge-slappten“ Person entscheidet, muss die Gegenseite mit keiner Strafe für den Justizmissbrauch rechnen. Aktivist: innen könnten also im schlimmsten Fall aufgrund eines kritischen Kommentars unfreiwillig ihre Zukunft aufs Spiel setzen, während diejenigen, die systematisch Klagen zur Einschüchterung von Gegner:innen missbrauchen, mit keinerlei Konsequenzen zu rechnen haben.
Der Großteil der SLAPP-Klagen stellt den Vorwurf der Diffamierung in den Raum. Anstatt auf ihre Kritiker:innen mit inhaltlichen Argumenten zu reagieren, werfen Unternehmen, Regierungen und mächtige Einzelpersonen diesen Verleumdung, Verunglimpfung, üble Nachrede, Beleidigung oder Rufschädigung vor. So wird der Überbringer der schlechten Nachricht zum Übeltäter. In der Debatte rund um SLAPPs stellt sich die Frage: Wer sollte zur Verantwortung gezogen werden: diejenigen, die die Umwelt zerstören und Menschenrechte mit Füßen treten oder diejenigen, die darüber berichten?
Mit SLAPPs schikaniert werden üblicherweise Menschen oder Organisationen, die Wissen, Informationen, Ideen und Meinungen weitergeben, die im öffentlichen Interesse liegen: Vertreter: innen einer kritischen Öffentlichkeit die sich beispielsweise für Umweltschutz oder Menschenrechte einsetzen, sind unter den häufigsten Opfern von SLAPPs. Dieser Personenkreis wird gerne unter der Überschrift „public watchdogs“ zusammengefasst – übersetzt „öffentliche Wachhunde“, die die Aktivitäten von mächtigen Personen, Unternehmen und Institutionen unter die Lupe nehmen. Das Umweltinstitut ist selbst von einem SLAPP betroffen. Unser Agrarreferent Karl Bär steht derzeit in Bozen vor Gericht und muss sich wegen des Vorwurfs der üblen Nachrede verantworten. Anlass war unsere Pestizidtirol-Kampagne aus dem Jahr 2017, mit der wir die Öffentlichkeit über den hohen Einsatz von giftigen Pestiziden in den Südtiroler Apfelmonokulturen aufgeklärt hatten. In einem ganz ähnlichen Fall wurde die französische Pestizid-Kritikerin Valérie Murat vor Gericht gezerrt, weil sie ein Dossier über Pestizidrückstände in Bordeaux-Weinen veröffentlicht hatte.
Ein anderes Beispiel für ein deutsches SLAPP-Opfer ist die Organisation Rettet den Regenwald, die in Hamburg wegen Verleumdung auf der Anklagebank sitzt, weil sie die Praktiken des Palmöl- und Holzkonzerns Korindo kritisiert hatte. Auch das Portal für Informationsfreiheit Frag den Staat wurde verklagt – vom Hohenzollernprinz Georg Friedrich von Preußen, der regelmäßig mit Abmahnungen und Klagen gegen ihm unerwünschte Berichterstattung vorgeht – unter anderem in Zusammenhang mit der Erforschung der Rolle der Hohenzollern im Nationalsozialismus. Wegen eines Enthüllungsartikels über fragwürdige Aktiengeschäfte des Unternehmers Hannes Kuhn wurden auch zwei Redakteure der Süddeutschen Zeitung mit einer Millionenklage überzogen. SLAPP back: Europas Zivilgesellschaft wehrt sich
Um den undemokratischen Angriffen auf grundlegende Menschenrechte endlich ein Ende zu setzen, hat sich die Coalition against SLAPPs in Europe (CASE) gegründet, der auch das Umweltinstitut beigetreten ist. Setzen wir uns nicht zur Wehr, werden grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Meinungs-und Informationsfreiheit beschnitten. Gemeinsam wollen wir deshalb die Widerstandskraft der Zivilgesellschaft stärken, indem wir Betroffene unterstützen und für eine europäische Gesetzgebung gegen den Justizmissbrauch durch SLAPPs kämpfen.
Unter www.the-case.eu informiert das CASE-Bündnis ausführlich über SLAPPs, stellt verschiedene Kampagnen vor und bietet Betroffenen Unterstützung an. Personen, die von SLAPPs bedroht werden, können dort beispielsweise eine Liste an Anwält:innen aus ganz Europa aufrufen, die pro bono Beratung und juristische Vertretung anbieten.
Als ersten Erfolg konnte CASE bereits 2020 vermelden, dass die Relevanz von Anti-SLAPP-Maßnahmen bei den Institutionen der Europäischen Union angekommen ist. So warnte die Menschenrechtskommissarin des Europarats Dunja Mijatovic vor der ernstzunehmenden Gefahr für die Demokratie durch SLAPPs und verwies dabei auch auf die Klage gegen das Umweltinstitut. Außerdem kündigte die EU-Kommission im Europäischen Aktionsplan für Demokratie an, im Laufe des Jahres 2021 eine Initiative gegen SLAPPs auf den Weg zu bringen.
Anders als in vielen Ländern (wie z.B. in Südafrika oder einigen US-Bundesstaaten) gibt es bisher in keinem einzigen EU-Mitgliedsstaat Anti-SLAPP Gesetze. Das CASE-Bündnis setzt sich daher dafür ein, dass die Initiative der Kommission die Form einer EU-Richtlinie annimmt. Eine solche Richtlinie wäre vergleichbar mit der Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern, die im Dezember 2019 in Kraft trat, und müsste von den EU-Mitgliedsstaaten in nationales Recht übersetzt werden. Die Petition, mit der wir ein derartiges europäisches Anti-SLAPP-Gesetz fordern, haben bereits über 40.000 Menschen unterzeichnet".
Das Umweltinstitut kommentiert auf seiner Homepage"
"Die Kampagne gegen SLAPP unterstützen"
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06.05.2021 08:40
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Wenn der Rechtsstaat versagt. Der Fall Assange und die extreme Unfairness
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Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer. spricht im Interview mit Bascha Mika von der Frankfurter Rundschau über den Wikileaks Gründer Julian Assange, seine Bedeutung für den Journalismus und die Einschüchterung von Medienschaffenden in der Gesellschaft. Der Fall zeigt extreme Unfairness und Verstöße derer auf, die sich in Europa immer wieder auf rechtsstaatliche Prinzipien, auf die CHARTA DER GRUNDRECHTE DER EUROPÄISCHEN UNION und die europäische SOZIALCHARTA des Europarats berufen. Diese gelten als westliche Werte. Dieses Missverhältnis untergräbt den Kanon westlicher Werte unter Umständen mehr – siehe auch die Inhalte der Wikileaks-Erkenntnisse – als etliche EU-externe Versuche, die europäischen Demokratien zu zermürben, zu diskreditieren und verschafft EU-Ländern des Gefühl der Legitimation, die bei sich den Rechtsstaat beschneiden und zu eigenen Gunsten umbauen.
„Herr Melzer, Großbritannien ist ein Mutterland der Demokratie. Dennoch behaupten Sie, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange dort gefoltert wird. Harter Vorwurf.
Ja, ich war auch schockiert. Als Sonderberichterstatter für Folter waren westliche Demokratien wie Schweden und England stets meine traditionellen Alliierten. Doch im Fall Assange hat der Rechtsstaat auch in diesen reifen Demokratien komplett versagt. Selbstverständlich begehen auch westliche Staaten Menschenrechtsverletzungen. Aber ich war immer überzeugt, wenn man Beweise dafür erbringen kann, greifen die Überwachungsmechanismen, dann kann man Missstände korrigieren. Dass das im Fall Assange trotz klarer Beweise verweigert wurde, hat mich in eine persönliche und berufliche Krise gestürzt. Plötzlich stand ich mit dem Rücken zur Wand.
Und welcher Feind stand vor Ihnen?
Die politischen Eliten des Westens. Sie sind bereits soweit von ihren Bürgern und Verfassungspflichten entfremdet, dass sie die eigenen Kriegsverbrecher und Folterer vor Strafe schützen, gleichzeitig aber diejenigen schonungslos verfolgen, die ihre schmutzigen Geheimnisse ans Licht bringen. Dies war für mich eine sehr schmerzhafte „Ent-Täuschung“ – im wahrsten Sinne des Wortes.
Woran zeigt sich, dass Assange ein Folteropfer ist?
Selbst ich als Experte habe den Fall zunächst abgelehnt. Assange und Folter? Sicher nicht! Das ist doch dieser Vergewaltiger, Hacker und Spion, der sich in der ecuadorianischen Botschaft versteckt. So habe ich damals reagiert, bis ich mir das Beweismaterial genauer anschaute und immer mehr Widersprüche sah. Der Fall war so stark politisiert, dass man sich auf nichts mehr verlassen konnte. Um ihn dennoch objektiv beurteilen zu können, beschloss ich, Assange im Frühjahr 2019 in London persönlich zu treffen – auch wenn ich eigentlich nur ausnahmsweise einzelne Gefangene besuche.
Was für einem Menschen sind Sie begegnet?
Ich nahm zwei Ärzte mit, die mich auch sonst bei Gefängnisbesuchen begleiten. Beide sind auf Folteropfer spezialisiert und wir kamen alle drei unabhängig voneinander zum Schluss, dass Assange die typischen Anzeichen psychischer Folter zeigte. Er litt unter extremen Stress- und Angstsymptomen, von denen sich der Körper nicht mehr erholt. Das ist nicht, was man sonst bei Gefangenen findet. Er war gewissermaßen über Monate nonstop unter Adrenalin. Das beeinträchtigt das Nervensystem und die Reaktionsfähigkeit.
Welche Rolle spielt dabei die Isolationshaft?
Die Isolation eines gestressten, geängstigten Menschen hat ganz schlimme Konsequenzen, der Gefangene gerät in ein Wechselbad von permanentem Panikzustand und schwersten Depressionen, was ihn stark destabilisiert und zermürbt. Dies wird zusätzlich verschlimmert durch ständige Bedrohung, Demütigung, Diffamierung und Willkür. Solche psychische – oder „weiße“ – Folter ist darauf angelegt, das Opfer zu brechen, ohne physische Spuren zu hinterlassen. Die gezielte Entwicklung solcher Methoden ist die Kehrseite des weltweiten Folterverbots.
Womit wurde Assange so in Angst versetzt?
Für ihn ist die Bedrohung die Auslieferung in die USA, wo ihm ein unfairer Spionageprozess und 175 Jahre Isolationshaft drohen. Menschenrechtsexperten sind sich einig, dass die Isolationshaft in Supermax-Gefängnissen in den USA gegen das Folterverbot verstößt und jeden Menschen unweigerlich zugrunde richtet. Es ist, wie wenn man lebendig begraben würde.
Warum setzen Sie sich gerade für diesen Mann so vehement ein?
Mein Mandat ist hier gleich dreifach betroffen. Erstens wird Assange gefoltert, und zwar nicht mit Elektroschocks und Peitschenhieben. Um die bei ihm angewandte Foltermethode sichtbar zu machen, musste ich den Fall an die große Glocke hängen, denn er ist ja kein Einzelfall. Zweitens hat er selber Folter enthüllt, die aber nicht verfolgt wird – auch das ein Völkerrechtsverstoß. Und drittens würde Assange bei einer Auslieferung in die USA wohl zu Tode gefoltert.
Spielt die Pressefreiheit für Sie dabei eine Rolle?
Sicher, denn hier wird das Recht der Bevölkerung, die Wahrheit zu wissen, ganz gezielt angegriffen. Genau darum geht es im Fall Assange.
Er und Wikileaks können sich auf die Pressefreiheit berufen?
Pressefreiheit ist Teil der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit – und dieses Recht steht allen Menschen gleichermaßen zu. Darüber hinaus kann Assange aber auch als Journalist gelten, weil er Informationen mit Öffentlichkeitswert enthüllt hat. Mit Wikileaks hat er eine Lücke gefüllt, die die etablierte Presse bei der Untersuchung von Behördenmissbrauch hinterlassen hat. Solchen Missbrauch, von Korruption bis Kriegsverbrechen, hat Wikileaks aufgedeckt…“
3. Mai 2021
Zur Person: Nils Melzer, 51, ist Professor für internationales Recht und lehrt in Glasgow und Genf. 2016 wurde er vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. Seit 2019 ist er überdies Vizepräsident des Internationalen Instituts für humanitäres Völkerrecht (IIHL) in Sanremo. Vorher war er als sicherheitspolitischer Berater der Schweizer Regierung tätig sowie als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegs- und Krisengebieten für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Mitte April erschien sein Buch „Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung“.
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24.11.2020 12:47
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Rassismus ist keine Meinung, sondern herabwürdigende Beleidigung
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Ein Mann beleidigt einen dunkelhäutigen Kollegen als Affen – und wird entlassen. Der Ausfall sei von der Meinungsfreiheit gedeckt, findet er und klagt. Nun ist er in allen drei Instanzen gescheitert.
Rassistische Äußerungen im Betrieb sind nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt. Einen dunkelhäutigen Kollegen mit »Ugah, ugah« anzusprechen, rechtfertigt daher die fristlose Kündigung auch eines Betriebsrats, wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe in einem am Dienstag veröffentlichten Beschluss entschied (Aktenzeichen: 1 BvR 2727/19).
Während einer Betriebsratssitzung eines Unternehmens war es zu einer Auseinandersetzung über den Umgang mit einem EDV-System gekommen. Der Streit war offenbar heftig, der Beschwerdeführer sprach einen dunkelhäutigen Betriebsratskollegen mit »Ugah, ugah« an. Er selbst wurde als »Stricher« beleidigt. Wie später die Arbeitsgerichte klärten, war »Ugah, ugah« aber keine direkte Reaktion darauf.
Dem Mann wurde gekündigt – was gerade bei einem Betriebsrat durchaus heikel ist. Er zog damit vors Arbeitsgericht und verlor. Später bestätigte die nächste Instanz, das Landesarbeitsgericht, diese Entscheidung. Weil er sich in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt sah, wandte er sich ans Bundesverfassungsgericht.
»Fundamental herabwürdigend«
Auch die Verfassungsbeschwerde blieb nun ohne Erfolg. Der Betriebsrat könne sich hier nicht auf seine Meinungsfreiheit berufen. Einen dunkelhäutigen Menschen mit Affenlauten anzusprechen, sei nicht einfach eine derbe Beleidigung, sondern »fundamental herabwürdigend«. Das Grundgesetz schütze nicht nur die Meinungsfreiheit, es wende sich auch gegen rassistische Diskriminierung, betonten die Karlsruher Richter. Die Arbeitsgerichte hätten beides zutreffend abgewogen. »Danach wird die Menschenwürde angetastet, wenn eine Person nicht als Mensch, sondern als Affe adressiert wird.«
Zudem hat der Fall offenbar eine Vorgeschichte, es war nicht die erste derartige Äußerung des Mannes im Betrieb. Er hatte bereits früher deshalb eine Abmahnung erhalten, die, so die Verfassungsrichter, »wirkungslos« blieb. Vor diesem Hintergrund hat der Arbeitgeber eine Fürsorgepflicht gegenüber dem diskriminierten Kollegen, die Kündigung schützt vor weiteren rassistischen Übergriffen. Und die, das stellen die Richter klar, sind ein Angriff auf ein Grundrecht: auf die Würde des Menschen.
mamk/AFP
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23.10.2020 12:48
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Bundesregierung hintertreibt überfälligen Rechtsschutz von Whistleblowern
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Die Liste der aktuellen Beispiele für die Bedeutung des Whistleblowings ist lang: Ob Cum-Ex- oder Wirecard-Skandal, Panama Papers, Rechtsextreme bei der Bundeswehr oder missbräuchliche Personenabfragen aus Polizeicomputern – in allen diesen Fällen konnten nur durch Hinweise von Menschen mit Insiderwissen zunächst Medien auf Missstände aufmerksam machen und erst dadurch die Verantwortlichen belangt oder politische Konsequenzen gezogen werden. Damit haben solche Whistleblowerinnen und Whistleblower als journalistische Quellen eine wesentliche Bedeutung für die Kontrollfunktion der Medien.
Ein Jahr nach der Verabschiedung der EU-Whistleblowing-Richtlinie tritt die Umsetzung in nationales Recht in Deutschland auf der Stelle. Statt endlich umfassende Rechtssicherheit für Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber zu schaffen und damit auch den investigativen Journalismus zu stärken, streiten die zuständigen Ministerien darüber, ob sie die Richtlinie überhaupt auf Fragen des nationalen Rechts anwenden oder aber auf EU-Recht beschränken sollen. Damit droht die Bundesregierung die Chance zu verpassen, einen kohärenten Whistleblowerschutz zu schaffen.
Reporter ohne Grenzen (RSF) und Whistleblower-Netzwerk (WBN) fordern in einem gemeinsamen Positionspapier, die längst überfällige Debatte über Regeln zum öffentlichen Whistleblowing, zum Umgang mit amtlichen Verschlusssachen sowie über einen zeitgemäßen digitalen Quellenschutz zu führen.
„Eine halbherzige Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie würde mehr Rechtsunsicherheit als Nutzen für die Betroffenen bringen“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). „Es ist Zeit für einen entschlossenen Schritt zum umfassenden rechtlichen Schutz für Menschen, die oft unter großen persönlichen Risiken die entscheidenden Informationen liefern, um Missstände in Wirtschaft und Behörden aufzudecken:“
Am 23. Oktober 2019 hatte die Europäische Union eine Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Whistleblowing-Richtlinie) verabschiedet. Die Mitgliedsstaaten müssen diese nun bis Ende 2021 in nationales Recht umsetzen. Formal gilt die Richtlinie zwar nur für EU-rechtliche Fragen. Doch der europäische Gesetzgeber hat die Mitgliedstaaten ausdrücklich ermutigt, den Anwendungsbereich bei der Umsetzung auch auf Bereiche ausweiten, die ausschließlich im nationalen Recht geregelt sind.
Ministerien streiten um Anwendungsbereich
Ein erster Gesetzesentwurf für die Umsetzung der EU-Richtlinie in Deutschland wird bis Ende dieses Jahres erwartet. Doch aus einem ersten Eckpunktepapier des federführenden Justizministeriums strich das Bundeswirtschaftsministerium grundsätzliche Überlegungen kommentarlos heraus oder verkehrte sie in ihr Gegenteil.
So plädiert das Wirtschaftsressort dafür, den Whistleblowerschutz auf Hinweise zu Verstößen gegen bestimmte Bereiche des EU-Rechts zu beschränken. Das würde bedeuten, dass Whistleblowerinnen und Whistleblower ohne juristische Kenntnisse schwer beurteilen könnten, ob ihr Fall unter die geschützten Bereiche fällt oder nicht. Das Risiko einer Fehleinschätzung mit womöglich schwerwiegenden rechtlichen Folgen wäre groß. Dies würde potenzielle Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber verunsichern und abschrecken. Kein geringerer Schutz für Whistleblowing gegenüber Medien
Decken Whistleblowerinnen und Whistleblower Rechtsverstöße direkt gegenüber Medien oder der Öffentlichkeit auf und nicht zunächst intern oder gegenüber einer Behörde, so sieht die EU-Richtlinie für sie sie nur einen deutlich eingeschränkteren Schutz vor. Würde dies so in nationales Recht umgesetzt, dann wären Whistleblowerinnen und Whistleblower als journalistische Quellen in vielen Fällen nicht rechtlich geschützt. RSF fordert deshalb Vorrang für die Meinungs- und Pressefreiheit vor anderen geschützten Interessen, solange Informationen nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen offengelegt werden und sofern es um Fragen von wesentlichem öffentlichem Interesse geht.
Besonderen Schutz benötigen auch Beamtinnen, Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, deren Hinweise oft einen Bezug zu amtlichen Verschlusssachen haben. Der Vorrang der Meinungsfreiheit vor anderen schützenswerten Interessen darf für sie nicht durch pauschale Ausnahmen ausgehebelt werden. Vielmehr sind klare Regeln nötig, um das Verhältnis von nationaler Sicherheit und öffentlichem Interesse auszubalancieren.
Ebenso sollte die Umsetzung der Whistleblowing-Richtlinie genutzt werden, um rechtliche Schutzlücken zu schließen, die durch die Ausweitung digitaler Ermittlungsmethoden entstanden sind. Konkret sollten mutmaßliche Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber in der Strafprozessordnung den gleichen Schutz wie die Berufsgeheimnisträger – also zum Beispiel Journalistinnen oder Anwälte – erhalten, denen sie Informationen zuspielen.
Die ausführlichen Forderungen von Reporter ohne Grenzen für die Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie finden sich in einem Positionspapier, das RSF an diesem Freitag (23.10.) zusammen mit dem Whistleblower-Netzwerk veröffentlich hat.
"Das Positionspapier zum Whistleblowing in Deutschland"
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09.08.2019 09:13
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Wenn Anwälte Presse bedrohen
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Medienunternehmen und -redaktionen in Deutschland werden immer wieder von auf Presserecht spezialisierten Anwält*innen unter Druck gesetzt. Seit einigen Jahren versuchen vor allem Prominente und Unternehmen mithilfe von Anwält*innen, die Berichterstattung bereits im Vorfeld, also schon während der Recherche, zu verhindern - beispielsweise durch Drohschreiben, in denen vor den rechtlichen Konsequenzen einer Berichterstattung gewarnt wird.
Diesem Wandel und der Frage, inwiefern die neuen strategischen Ansätze erfolgreich sind, sind Tobias Gostomzyk, Professor für Medienrecht an der TU Dortmund, und Daniel Moßbrucker, freier Journalist und Doktorand, in der Studie „Wenn Sie das schreiben, verklage ich Sie!“ nachgegangen. Für die empirische Pionierarbeit wurden zahlreiche Quellen ausgewertet und intensive Gespräche mit Journalist*innen und Anwält*innen geführt.
Die 96-seitige Studie wurde von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der Otto Brenner Stiftung (OBS) unterstützt. Das gemeinsame Fazit von Autoren und Förderern: Das Unterlassen juristischer Gegenwehr durch Medienunternehmen schwächt die Meinungs- und Pressefreiheit.
„Zwar führen anwaltliche Drohschreiben bei den meisten Journalistinnen und Journalisten nicht zur Einschüchterung oder gar Selbstzensur“, sagte Tobias Gostomzyk am Donnerstag bei der Vorstellung der Studie in Berlin. „Doch vor allem bei Medienunternehmen, deren finanzielle Lage angespannt ist, sinkt seit einigen Jahren die Bereitschaft, kostenintensive Gerichtsprozesse zu führen.“
Neben der Analyse skizziert die Studie auch Lösungsansätze und stellt Handlungsempfehlungen zur Diskussion. Autor Daniel Moßbrucker schlägt vor, dass „Medien sich selbst verpflichten sollten, Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung höchstrichterlich gerichtlich klären zu lassen – und sich so gemeinsam für die Meinungs- und Pressefreiheit einsetzen.“
„Wenn Verlage kleinbeigeben, anstatt presserechtliche Streitigkeiten vor Gericht auszufechten, ist das in zweierlei Hinsicht fatal. Vorschnelle Unterlassungserklärungen gefährden nicht nur eine kontinuierliche kritische Berichterstattung, sondern führen auf lange Sicht auch zu einer Verschiebung des Presserechts zulasten der Pressefreiheit“, fasst die Juristin Sarah Lincoln von der GFF ihre Schlussfolgerung aus Sicht der Förderer der Studie zusammen.
Für die Studie wurden unter anderem über 40 Journalist*innen, 20 führende Presserechtler*innen, Justitiare von über 20 Medienunternehmen sowie zahlreiche Fachanwa¨lt*innen für Urheber- und Medienrecht befragt. „Mit der Studie liegen erstmals aussagekräftige und überprüfbare Daten darüber vor, welche Folgen die Drohschreiben von Anwält*innen gegenüber Medien haben“, hebt Jupp Legrand von der Otto Brenner Stiftung hervor.
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse fordert die OBS eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen: „Redaktionen und freie Journalist*innen müssen auch in Zukunft“, so OBS-Geschäftsführer Legrand, „ohne Sorge vor rechtlichen Risiken recherchieren und ihren Job machen können.“
Tobias Gostomzyk/ Daniel Moßbrucker: „Wenn Sie das schreiben, verklage ich Sie!“ Studie zu präventiven Anwaltsstrategien gegenüber Medien, OBS-Arbeitsheft 99, Frankfurt am Main, August 2019
"Das Arbeitsheft der Otto Brenner Stiftung zur Studie"
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09.02.2018 10:39
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Mit der GroKo kein Schutz für Whistleblower
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Nach Abschluss der Koalitionsverhandlungen fehlt nach wie vor ein gesetzlich verankerter Whistleblower-Schutz im Koalitionsvertrag
Whistleblowing grenzt in Deutschland immer noch an sozialen und wirtschaftlichen Selbstmord. Daher stößt der Koalitionsvertrag bei Whistleblower-Netzwerk e.V. auf Enttäuschung und Unverständnis – denn in keinem Satz lässt sich der politische Wille feststellen, die rechtliche Schieflage gegenüber Hinweisgebern zu verbessern. Bis heute gibt es in hier nur einige wenige Urteile, die die Rechtslage bestimmen. Bei Fehlen eindeutiger Gesetze, an denen Whistleblower sich orientieren können, sind diese nach wie vor mit großer Rechtsunsicherheit konfrontiert. Dies führt dazu, dass Missstände nicht aufgedeckt und die Öffentlichkeit trotz berechtigen Informationsinteresses über diese im Unklaren gelassen wird. Whistleblower Netzwerk e.V. fordert seit über zehn Jahren gesetzlichen Whistleblower-Schutz, da die Gesellschaft mutige Whistleblower braucht, um Missstände aufzudecken und so zu einem transparenten, demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess beizutragen.
„Unsere Whistleblower, unsere Demokratie und unsere Wirtschaft brauchen endlich ein effektives, umfassendes Whistleblowerschutz-Gesetz“, sagt Annegret Falter, Vorsitzende von Whistleblower-Netzwerk e.V. Seit 2008 wurden dem Bundestag vier Gesetzesentwürfe für einen mehr oder minder zureichenden Whistleblower-Schutz vorgelegt. Damit verbunden waren jeweils Ausschussanhörungen, in denen rund drei Dutzend Experten und Interessengruppen Notwendigkeit und alternative Ausgestaltungsmöglichkeiten eines Gesetzes diskutiert haben – alle fachlichen Fragen sind geklärt. Die SPD selbst hatte 2012 einen guten Gesetzesentwurf erarbeitet, der jedoch mit dem Wechsel der Partei in die Regierung unter den Tisch fiel. Im Koalitionsvertrag für die letzte Legislaturperiode war bereits vereinbart zu prüfen, ob Deutschland seinen Verpflichtungen zum Whistleblower-Schutz aus ratifizierten internationalen Vereinbarungen nachgekommen sei. Diese Prüfung unterblieb – stattdessen stellte der Deutsche Gewerkschaftsbund in einem eigenen Gutachten schwere Versäumnisse fest, die von Whistleblower-Netzwerk e.V. wiederholt angeprangert wurden. Es bleibt unverständlich, warum der politische Wille für ein höheres Schutzniveau für Hinweisgeber selbst im Lichte jüngster Skandale in der Arzneimittelversorgung und in der Autoindustrie unterbleibt.
Whistleblower-Netzwerk e.V. wird sich auch weiterhin für gesetzlichen Whistleblower-Schutz einsetzen und Aufklärungsarbeit über die Bedeutung von Whistleblowing für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Transparenz leisten. Für Rückfragen: Ali Fahimi, Geschäftsführer Whistleblower-Netzwerk e.V., 017680862682 Whistleblower-Netzwerk e.V. c/o djv (Deutscher Journalisten-Verband) Alte Jakobstr. 79/80 10179 Berlin Tel. 0162 739365 Mail: [email protected] "Whistleblower Info"
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18.07.2016 15:39
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Stalking: was sich bessert - was nicht hilft
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Stalking (Nachstellung; z.B. durch Telefonterror, persönliches Auflauern, Schikanen) ist mittlerweile ein alltägliches Phänomen. Es betrifft nicht nur Prominente. Opfer ist auch der Richter, der einem Vater oder einer Mutter nicht das Sorgerecht zuspricht. Opfer ist der Ex-Freund, der die Trennung nicht akzeptiert. Opfer ist die junge Muslima, deren Geschwister nicht ihren eigenständigen Lebensweg hinnehmen wollen. Opfer ist die Kollegin, deren Abgrenzung ein Kollege nicht billigt. Opfer ist der Lehrer, der Schülern realistische Noten gibt oder geben will. Laut Polizeistatistik fühlten sich im vergangenen Jahr mehr als 17.000 Menschen in Deutschland betroffen, tatsächlich dürften es viel mehr sein, die Schamgrenze liegt hoch.
Stalking ist mehr als Belästigung. Sie ist Verfolgung von Personen mit sozialer, psychischer und materieller Schädigung. Die Folgen können erheblich sein bis hin zu einem psychotraumatischen Belastungssyndrom. Wegen unzureichender Gesetzeslage hat nun der Bundestag eine Verschärfung des Gesetzes beschlossen und greift damit auch eine Petition der Berliner Bloggerin Mary Scherpe auf, die 80.000 Mal unterzeichnet wurde. Auf Bayern 2 gab sie folgendes Interview:
Der Bundestag hat eine Verschärfung des Stalking-Gesetzes beschlossen. Ist das heute für dich ein Tag zum Feiern?
Mary Scherpe: Es ist definitiv ein großer und wichtiger Schritt, an dem viele Leute sehr lange gearbeitet haben. Es ist aber insgesamt nur ein Schritt in einem langen Prozess, der dazu führen soll, dass Stalking mehr als Verbrechen anerkannt wird und nicht mehr nur als Kavaliersdelikt gilt.
Nun war ja der Anlass für deine Petition, dass du selbst Erfahrungen mit einem Stalker machen musstest. Was ist da vorgefallen? Mary Scherpe: Bei mir hat es angefangen mit Konten auf Instagram und auf Twitter, die sich über mich lustig gemacht haben. Dann kamen auf einmal Pakete in mein Büro. Über einen Zeitraum von einem Jahr hat es sich dann ausgeweitet: ich bekam am Ende 20, 30 oder 40 Nachrichten pro Tag: Anrufe, SMS, Emails und weiterhin Briefe und Paketpost. Der Stalker hat angefangen, meine Freunde zu kontaktieren, Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, er hat Geld von meinem Konto abgehoben. Ich hatte relativ schlechte Erfahrung mit der Polizei. Da wurde mir sehr wenig geholfen. Am Ende habe ich entschieden, mir selbst zu helfen: ich habe alles, was mir derjenige geschickt hat, dokumentiert und in einen Onlineblog gestellt und dann veröffentlicht.
Was hat das geholfen? Mary Scherpe: Es war natürlich erstmal ein großer Schock für alle. Normalerweise wird Stalking-Betroffenen immer wieder geraten, auf keinen Fall zu reagieren. Das alles nach draußen zu kehren, zu sagen: das passiert mir, ich kann aber nichts dafür, ihr könnt euch das alles anschauen, das hat nichts mit mir zu tun, das war glaube ich sowohl für den Stalker als auch für viele andere eine völlig neue Art, damit umzugehen. Dass das am Ende dazu geführt hat, dass er nach über zwei Jahren wirklich aufgehört hat, dafür gab es noch mehr Gründe. Ich habe Interviews gegeben und dann über meine eigenen Erfahrungen ein Buch geschrieben. Im Rahmen der Buchveröffentlichung habe ich dann auch die Petition gestartet.
Das Gesetz gegen Stalking gibt es ja schon seit 2007. Hat dir das irgendwie geholfen, dich gegen ihn zu wehren? Mary Scherpe: Eben nicht. Ich wusste in der Zeit aber nicht, warum dieses Gesetz bei mir nicht gegriffen hat, warum mir immer wieder gesagt wurde, dass das, was bei mir passiert, lediglich Belästigung sei. Ich habe erst über die intensive Beschäftigung mit dem Thema herausgefunden, dass ich als Betroffene nicht nachgewiesen habe, dass mich dieses Stalking wirklich beeinträchtigt hat. Konkret: Ich bin nicht umgezogen, ich habe meinen Job nicht verloren und nicht gewechselt, ich konnte keine psychologische Beeinträchtigung nachweisen und allein deswegen ist es nie zu einer Gerichtsverhandlung gekommen.
Dabei kann eigentlich doch jeder zunächst mal nachvollziehen, dass das einen fertig machen muss, wenn man diese Massen an Mails und Pakten etc. bekommt. Mary Scherpe: Das möchte man meinen. Aber das Gesetz war bisher so gefasst, dass es dringend notwendig war, dass Betroffene diese Beeinträchtigung auch nachweisen mussten und stichhaltig und logisch vor Gericht vorbringen. Gleichzeitig war es nicht so, dass man zur Polizei gegangen ist und die haben einem dann gesagt: "Sie müssen aber erst umziehen" oder "Sie müssen erst Ihren Job verlieren, bevor wir etwas machen können." Man wurde da ein bisschen in dem Irrglauben gelassen, dass es an einem selber liegt, dass man vielleicht nicht gut genug dokumentiert hat, dass der Stalker noch nicht drastisch genug agiert hat. Das war und ist natürlich sehr frustrierend für viele Betroffene.
Jetzt heißt es im neuen Gesetz, "Taten müssen objektiv geeignet sein, um beim Opfer zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung zu führen". Was stellst du dir darunter vor? Ist das was, was künftig auch in Fällen wie deinem greifen würde? Mary Scherpe: Ich würde es hoffen. Ich versuche, vorsichtig optimistisch zu bleiben. Ein Gesetz ist natürlich erstmal nur ein Gesetz. Worauf wir jetzt hoffen müssen, sind Urteile in neuen Gerichtsfällen, die Betroffenen gegenüber empathisch sind. Das heißt, das Gesetz muss jetzt praktisch so angewendet werden, dass es wirklich darum geht, Betroffene zu schützen. Das wird sich jetzt zeigen. Aber weitere Schritte müssen folgen. Zum Beispiel die Schulung von Polizei und Beratungsstellen, die Betroffene nicht einfach nach Hause schicken und ihnen sagen, man soll sich nicht so anstellen oder es sei ja eben nur als Kompliment gemeint".
Die Bundesregierung schreibt zu ihrem Gesetzesentwurf:
„Problem: § 238 des Strafgesetzbuches (StGB) wurde durch das Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen vom 22. März 2007 (BGBl. I S. 354) zum 31. März 2007 in das Strafgesetzbuch eingefügt. Ziel des Gesetzgebers war es, einen besseren Opferschutz zu gewährleisten; ein Anspruch, dem die Norm in ihrer aktuellen Fassung jedoch nur eingeschränkt gerecht wird. Der Tatbestand ist nur dann erfüllt, wenn die Tat eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung des Opfers verursacht hat. Damit wird die Strafbarkeit weder von der Handlung des Täters noch von deren Qualität abhängig gemacht, sondern allein davon, ob und wie das Opfer auf diese Handlung reagiert. Strafrechtlicher Schutz ist daher bislang allenfalls dann zu erlangen, wenn das Opfer sein gewöhnliches Verhalten ändert und sich damit dem Druck des Täters unterwirft. Tritt das Opfer in besonnener Selbstbehauptung auf, kann die Handlung – sei sie auch noch so invasiv – strafrechtlich nicht als Nachstellung sanktioniert werden. Auch die Einordnung als Privatklagedelikt kann dazu beitragen, dass strafwürdiges Verhalten nicht im gebotenen Maß zur Aburteilung gelangt. Ziel des Entwurfs ist die Änderung des insoweit geltenden Rechts, um den strafrechtlichen Schutz gegen Nachstellungen auszubauen. Außerdem besteht Handlungsbedarf im Bereich des Gewaltschutzes. Für den Fall, dass ein Verfahren in Gewaltschutzsachen durch einen Vergleich der Beteiligten erledigt wird, zeigt sich eine Schutzlücke. Denn nach § 4 des Gewaltschutzgesetzes (GewSchG) ist nur der Verstoß gegen eine gerichtliche Gewaltschutzanordnung strafbewehrt, nicht aber der Verstoß gegen eine in einem Vergleich übernommene Verpflichtung, auch wenn das Gericht sie nach § 1 GewSchG hätte anordnen können.
B. Lösung (…) Der Entwurf gestaltet den Tatbestand des § 238 Absatz 1 StGB in ein potentielles Gefährdungsdelikt um, für dessen Verwirklichung es nunmehr ausreicht, dass die Handlung des Täters objektiv dazu geeignet ist, beim Betroffenen eine gravierende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung herbeizuführen. Ein tatsächlicher Erfolgseintritt ist zur Ahndung nicht länger notwendig. Maßgeblich ist jetzt eine Einschätzung der objektiven Geeignetheit der Tat zur Herbeiführung einer schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensumstände beim Opfer. Dieser objektivierbare Maßstab gewährleistet auch in Zukunft die gebotene Bestimmtheit und Begrenzung des Tatbestandes. Um einer zu weit gehenden Strafbarkeit vorzubeugen, wird die Generalklausel des § 238 Absatz 1 Nummer 5 StGB gestrichen. Flankierend ist zur Stärkung des Opferschutzes die Streichung der Nachstellung aus dem Katalog der Privatklagedelikte (§ 374 Absatz 1 Nummer 5 Alternative 1 der Strafprozessordnung (StPO)), die Einführung der gerichtlichen Bestätigung von in Gewaltschutzverfahren geschlossenen Vergleichen sowie die Erweiterung des § 4 GewSchG auf Verstöße gegen Verpflichtungen aus einem gerichtlich bestätigten Vergleich vorgesehen.
Die taz kommentiert die beabsichtigte Änderung des Stalkinggesetzes: „Unverständlich ist, dass Justizminister Maas als Ausgleich die möglichen Tatmodalitäten auf vier ausdrücklich benannte eingrenzen will (unter anderem das beharrliche Anrufen und Bestellen von Waren). Die bisherige Generalklausel, die auch „andere vergleichbare Handlungen“ erfasste, soll entfallen. Das ist geradezu eine Aufforderung an Stalker, Gesetzeslücken zu suchen. So wäre etwa das Schalten von Todesanzeigen oder das Beschmieren des Fahrzeugs mit Kot nicht mehr erfasst. Wer diese Lücke im Gesetz öffnet, meint es mit dem Schutz der Opfer nicht wirklich ernst“.
Verhaltenstipps der Polizei bei Stalking
• Deutlich sagen, dass man keinerlei Kontakt wünscht • Danach nicht mehr reagieren, sondern die Stalkerin oder den Stalker ignorieren • Alles dokumentieren, was die Stalkerin oder der Stalker tut oder sagt und dies für den Gerichtsfall aufbewahren • Sich vom Telefonanbieter eine „Fangschaltung“ legen lassen, einen Anrufbeantworter benutzen, der eine Mithör- und Aufzeichnungsmöglichkeit hat • Keine unbestellten Waren oder Pakete annehmen und auch die Nachbarn bitten, das nicht in Vertretung zu tun • Opfer-Notruf: 0800 – 2800 110
"Aktueller Stand Stalking"
"Gesetzesentwurf der Bundesregierung 2016"
"Opfer-Telefon vom Weißen Ring"
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10.01.2013 18:41
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Mobbing-Opfer verlangt 900.000 €
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893.000 Euro Entschädigung in einem Mobbing-Fall? Das schien bislang in Deutschland undenkbar. Und doch bahnt sich ein solcher Präzedenzfall derzeit in Düsseldorf an. Dann könnte es künftig bei Mobbing-Klagen richtig teuer für Arbeitgeber werden. Allein schon, um Firmen abzuschrecken
Das Mobbing-Opfer fordert im vorliegenden Fall die Rekordsumme von knapp 900.000 Euro Schmerzensgeld: Es geht um eine Rechnungsprüferin, die bei der Stadt Solingen beschäftigt war. Die 52-Jährige möchte damit den Arbeitgeber hart treffen - und so Wiederholungstätern ein Stopp-Schild setzen.
Bislang wurden Mobbing-Opfern in Deutschland meistens Beträge zwischen 2000 bis 5000 Euro. zugesprochen. Die Beträge waren fast immer wenig plausibel und hatten mit Belastungen und Folgewirkungen für die Opfer nichts zu tun.
Außerdem schrecken diese Summen niemand, vor allen Dingen nicht Unternehmen, um mit mehr Ernst, Nachdruck und Systematik Anti-Mobbing-Strategien und Fairness-Prozeduren aufzubauen.
Im Ausland hingegen liegen die Summen deutlich höher, etwa in Frankreich und in Großbritannien. Beispielsweise musste die Deutsche Bank in London ihrer Sekretärin Helen Green 1,2 Millionen Euro Schmerzensgeld zahlen.
Der Anwalt der Klägerin hält die Schmerzensgeldforderung seiner Mandantin für nicht aus der Luft gegriffen und verweist auf die jüngere Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Danach seien die bislang zugesprochenen Summen zu gering und müssten erhöht werden, um den Psychoterror nachhaltig abzustellen. Allerdings hat der Vorsitzende Richter vom Landesarbeitsgericht Düsseldorf, Wolfgang Jansen, die geforderten 893.000 Euro bereits als eine "extreme Größenordnung" bezeichnet.
"Man hat meine Ehre und meine Würde mit Füßen getreten", klagte die Klägerin, eine Diplom-Ökonomin. Jahrelang sei sie schikaniert worden und man habe ihr sogar zu Unrecht fristlos gekündigt. Als sie nach gewonnenem Prozess in ihr Büro zurückkehren wollte, habe man sie mit einem Sonderprüfauftrag, für den sie nicht ausgebildet sei, in ein neun Kilometer entferntes städtisches Klinikum "entsorgt". Eine Schulung habe die Stadt nicht zahlen wollen.
Die Rechnungsprüferin klagt inzwischen in zweiter Instanz, nachdem sie im vergangenen Jahr vor dem Solinger Arbeitsgericht gescheitert war. Nach dem erneuten Gerichtstermin am vergangenen Dienstag wird nun auf einen Verkündigungstermin gewartet - an dem wird entweder ein Urteil gesprochen, oder es sollen weitere Beweise aufgenommen werden.
Mit Material vom dpa, end und Spiegel Online
http://www.spiegel.de/karriere/berufsleben/mobbing-prozesse-schadensersatz-koennte-steigen-a-876547.html
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27.11.2012 17:33
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Patentfreies Leben: Recht wider unethische Praxis
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Der Bundesgerichtshof (BGH) hat heute entschieden, dass Zellen, für deren Gewinnung menschliche Embryonen zerstört werden, nicht patentiert werden dürfen. Hintergrund der Verhandlung am BGH ist ein Patentstreit zwischen der NGO Greenpeace und dem Stammzellenforscher Oliver Brüstle. Dazu sagt der Patent-Berater von Greenpeace, Christoph Then:
„Die Entscheidung des BGH stärkt die ethischen Grenzen im Patentrecht. Es ist zu erwarten, dass in Zukunft stärker in ethisch unbedenkliche Verfahren investiert wird, um Stammzellen zu gewinnen. Patienten, Ärzte und Stammzellforscher sollten gleichermaßen daran interessiert sein, dass die notwendigen ethischen Grenzen im Patentrecht gewahrt bleiben. Mit dem Urteil sind allerdings nicht alle rechtlichen Fragen endgültig geklärt. Erst die künftige Rechtsprechung wird zeigen, welche Auswirkungen das Urteil genau hat.“
Greenpeace merkt an: Das Patent (DE 19756864) erteilte das deutsche Patentamt im Jahr 1999. Es umfasst die Herstellung und Nutzung menschlicher embryonaler Stammzellen. Laut Patentschrift sollen Stammzellen auch durch das Klonen von Embryonen gewonnen werden, um Nervenzellen herzustellen.
Greenpeace klagte im Jahr 2004 gegen das Patent vor dem Bundespatentgericht, um die ethischen Grenzen im Patentrecht gerichtlich überprüfen zu lassen. Dabei ging es Greenpeace nicht darum, gegen die Stammzellforschung vorzugehen. Vielmehr sollen die ethischen Grenzen im Patentrecht geklärt werden, um so den Anreiz zur Kommerzialisierung menschlicher Embryonen zu verhindern. Schon im Oktober 2011 gab der EuGH in einem Grundsatzurteil den ethischen Bedenken von Greenpeace weitgehend Recht.
Können Pflanzen und Tiere - so fragt Greenpeache - "als Erfindung der Industrie angesehen und patentiert werden? Sind menschliche Gene Entdeckungen oder Erfindungen? Wem gehört die biologische Vielfalt und ihr Genpool? Die Patentierung von Genen und Lebewesen bringt zentrale ethische Fragen mit sich. Doch auch die ökonomischen und sozialen Folgen für unser Gesundheitssystem sowie für den Landwirtschafts- und Lebensmittelsektor sind enorm. Bei Patenten auf Leben geht es um einen milliardenschweren Weltmarkt, auf dem Gene, Pflanzen und Tiere, ebenso wie menschliches Gewebe, monopolisiert und gehandelt werden".
Der Präsident des Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, sagte Greenpeace im Interview: "Die Haltung der Ärzteschaft ist eindeutig: Embryonale Stammzellen dürfen niemals als kommerzielles Erzeugnis verwertet werden. Die industrielle Anwendung einer Erfindung, die embryonale Stammzellen verwendet, bedeutet, dass menschliche Embryonen als banales Ausgangsmaterial benutzt werden. Dass wir einen solchen Verstoß gegen die Ethik und die öffentliche Ordnung nicht zulassen dürfen, verlangt schon die Achtung vor dem menschlichen Leben als solches. Deutsche Ärztetage haben immer wieder bekräftigt, dass weder das menschliche Genom und Teile davon, noch Organe oder Zellen des menschlichen Körpers, also auch pluripotente Stammzellen patentierbar sein dürfen. Das Wissen um die menschliche Anatomie und das Genom des Menschen sind gemeinsames Erbe aller Menschen und dürfen nicht zu wirtschaftlichen Zwecken missbraucht werden. Deshalb können lediglich für Verfahren und einzelne Verfahrensschritte zur Herstellung gentechnisch veränderter Medikamente Verwertungsrechte geltend gemacht werden. Menschliche Gene oder Gensequenzen dagegen sind keine Erfindungen, sondern Erkenntnisse über natürliche Gegebenheiten, die sich einer Patentierung entziehen sollten".
Die heutige Entscheidung des BGH zieht gegen die vollständigen Unterwerfung von allem , was ist und lebt, unter die Verwirtschaftlichung (Ökonomisierung) eine deutliche Grenze.
Mehr dazu:
http://www.greenpeace.de/fileadmin/gpd/user_upload/themen/patente_auf_leben/GP_Patentereport_2012_komplett_final.pdf
http://www.greenpeace.de/themen/patente/nachrichten/artikel/kein_patent_auf_menschliche_embryonen/
Für Rückfragen erreichen Sie Dr. Christoph Then unter Tel. 0151-546 38 040.
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26.01.2012 12:34
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Krasse Unfairness bei Wirtschaftskriminalität
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Häufig milde und nachsichtig fallen Verfahren und Gerichtsurteile im Fall von Wirtschaftskriminalität aus. Das wurde auf der Jahrestagung der wirtschaftsstrafrechtlichen Vereinigung Ende Januar 2012 in Frankfurt am Main offensichtlich. Mehrere Vorträge befassten sich mit dem zahnlosen Wirtschaftsstrafrecht, wenn es um Ermittlungs- und Gerichtsverfahren geht. Der Titel des Tagung: „Moloch Wirtschaftsstrafrecht – Staatliche Wirtschaftslenkung durch die und auf Kosten der Justiz?“. Er zeigte an, wo den Wirtschaftsstraftrechtlern – ob Anwalt, Staatsanwalt oder Richter – der Schuh drückt.
Besonders der Vorsitzende Richter am Landgericht Osnabrück, Dr. Dieter Temming, zeigte die möglicherweise politisch gewollte Schwäche des Wirtschaftsstrafrechts auf. Es ist für ihn ein „soft law“. Damit ist gemeint: die Instrumente des Wirtschaftsstrafrechts haben keine Verbindlichkeit oder Zugriffskraft wie dies beim traditionellen Recht der Fall ist, das oft als "hartes Recht" (hard low) bezeichnet wird. Insofern ist das Wirtschaftsstrafrecht vergleichbar mit dem Völkerrecht, das auch als eher weiches Recht bezeichnete wird. Das hat auch damit zu tun, dass im Bereich der Wirtschaft viele vertragliche Verbindlichkeiten keinen oder nur einen schwachen rechtlichen Status haben und sehr interpretationsfähig sind. Dazu gehören vor allem Dingen auch „Verhaltenskodizes" (Code of Conduct), „Leitlinien", „Kommunikationsrichtlinien". Insofern sind die Ermessensspielräume im Wirtschaftsstrafrecht sehr groß, allerdings auch die Spielräume der Strafverteidiger und der Justitiare.
Laut Urteilen des Bundesgerichtshofes müssen Vermögensschäden durch Akteure zugleich der entscheidende Maßstab für Schuld und Bestrafung eines Täters sein. Doch wie Temming zeigte, gibt es bei Wirtschaftsstrafkammern die Eigenart, Bewährungs- und Geldstrafen kombiniert zu verhängen. So wird eine oft „für alle erträgliche Situation“ angezielt. Temming: „Auffällig ist ferner, dass die ausgeurteilten Strafen häufig nicht mit den jeweiligen Schadenshöhen kompatibel sind - und dies unabhängig vom Delikttyp“. Als Beispiele nannte er eine zweieinhalbjährige Haftstrafe für 1,6 Millionen € Vorsteuerbetrug und eine dreijährige Haftstrafe bei gleichem Vergehen mit 10 Millionen € Schadenssumme.
Temmings Urteil: „Insgesamt wirkt diese Zumessungspraxis der Wirtschaftsstrafkammern vordergründig willkürlich und unberechenbar“. Hintergrund ist oft die Verständigung des Gerichts, der Beklagten und der Geschädigten im Vorhinein eines Urteils. Damit ersparen sich Ermittlungsbehörden und Gerichte aufwändige Beweiserhebungen, die oft in keinem Verhältnis zum Ergebnis stehen. Geldstrafen dienen dann oft dazu, die Einnahmen des Staates zu erhöhen.
Ein Steuerfahnder übte daran öffentliche Kritik: Für seine Ermittlungsbehörde sei es oft kaum nachvollziehbar, dass die Gesetzeskeule zuschlägt, weil ein Täter einen Geschäftspartner oder das Sozialamt um ein paar tausend Euro betrogen haben, während in großen Strafverfahren, wo es um großen Summen geht, Milde und Nachsichtigkeit herrscht. Hinzu kommt als Hindernis größerer Fairness und Gleichbehandlung von Tätern, dass die Straftrichter oft wenig Kenntnis des Steuerrechts haben. Auch wenn Gesetzgeber und Bundesgerichtshof mehr Schärfe und Härte verlangen, wird es voraussichtlich nicht dazu kommen, weil kein Richter die Aufhebung seines Urteils riskieren will und zudem ausgehandelte Urteile regulär nicht in die Revision gehen können.
Hinzu kommt ein sozialpsychologischer Aspekt, auf den Temming aufmerksam machte. Da die Täter in Wirtschaftsstrafsachen häufig zur gesellschaftlichen Schicht der Anwälte und Richter gehören, werde über sie oft milder geurteilt, weil die Justizorgane ihnen mehr Verständnis entgegen bringen. Motive und Verhalten von Tätern hingegen, die einer anderen gesellschaftlichen Schicht angehören, sind für die Richter oft schwer nachvollziehbar. Im Urteil kommt dann auch das Unverständnis zum Ausdruck.
Entscheidend wird sein: 1. Die Bestimmungen des Wirtschaftsstrafrechts zu verschärfen und die Spielräume für ausgehandelte Urteile zu verkleinern, 2. Richter und Staatsanwälte zu Steuerrecht und Wirtschaftsrecht sowie zu den psychologischen Fallen der Schichtzugehörigkeit stärker und fundierter fortzubilden und dies zur Auflage u machen, 3. Den Aufwand von Staat und Justiz tatsächlich zur Schadenssumme ins Verhältnis zu setzen und die Kosten für den Aufwand überzukompensieren. Dann kann es fairer auch in Wirtschaftsstrafverfahren zugehen und Wirtschaftskriminelle bekommen vor allem bei größeren Schadenssumme keine unbegründete Nachsicht.
http://www.focus.de/finanzen/news/studie-wirtschaftskriminelle-oft-fuehrungskraefte_aid_658496.html
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19.12.2011 12:32
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Fortschritt für Fairness
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Die EU stärkt den Anspruch auf ein faires Verfahren in Strafverfahren. Einer Straftat verdächtige Personen werden bald überall in der Europäischen Union schriftlich über ihre elementaren Rechte in Strafverfahren belehrt. Die Europäische Kommission hatte im Juli 2010 im Rahmen ihrer Bemühungen, das Recht auf ein faires Verfahren EU-weit durchzusetzen, einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Es handelt sich um den zweiten Vorschlag einer ganzen Serie von Maßnahmen zur Festlegung gemeinsamer EU-Standards in Strafverfahren, mit denen die Verfahrensrechte der Betroffenen und das Vertrauen der Justizbehörden untereinander unionsweit gestärkt werden sollen. Nach der Zustimmung des Parlaments geht der Text jetzt an den Rat, der in den kommenden Wochen abschließend darüber entscheidet, bevor die Regelung in Kraft treten kann.
EU-Justizkommissarin Viviane Reding begrüßte das Votum im Parlament: „Die heutige Abstimmung im Parlament setzt ein Zeichen für die Arbeit der Europäischen Kommission im Bereich des Strafrechts. Ich danke dem Parlament für seine Unterstützung und ganz besonders seiner Berichterstatterin Birgit Sippel. Die EU setzt sich vehement für eine Stärkung der Rechte des Einzelnen im Strafverfahren und für eine Stärkung des gegenseitigen Vertrauens im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein.“ Die neuen Vorschriften werden dafür sorgen, dass Personen, die einer Straftat verdächtigt werden, angemessen über ihre wichtigsten Rechte im Strafverfahren informiert werden. Hierzu zählen das Recht auf einen Rechtsbeistand, das Recht, über den Tatvorwurf belehrt zu werden, das Recht auf Dolmetsch- und Übersetzungsleistungen, wenn der Betroffene die Verfahrenssprache nicht versteht, das Recht zu schweigen und das Recht, nach der Festnahme unverzüglich einem Richter vorgeführt zu werden. Hervorzuheben sind folgende fünf Neuerungen: 1. Tatverdächtige werden nach ihrer Festnahme über ihre Rechte informiert. 2. Sie erhalten eine schriftliche Rechtsbelehrung. 3. Die Rechtsbelehrung wird so abgefasst, dass sie leicht zu verstehen ist und keine juristischen Fachausdrücke enthält. 4. Die Rechtsbelehrung wird in einer Sprache zur Verfügung gestellt, die der Tatverdächtige versteht. 5. Die Rechtsbelehrung enthält praktische Hinweise zu den Rechten der Tatverdächtigen. Diese Neuerungen gelten auch bei Verwendung des Europäischen Haftbefehls: Danach muss eine solche Rechtsbelehrung jeder Person, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wird, unverzüglich ausgehändigt werden. Die Mitgliedstaaten haben von der Kommission ein Muster dieser Rechtsbelehrung in allen 23 Amtssprachen der EU erhalten.
Das Recht auf Belehrung in Strafverfahren gehört neben dem Recht auf Verdolmetschung und Übersetzung zu einer Reihe von Maßnahmen, die ein faires Verfahren gewährleisten und das Vertrauen in den einheitlichen Rechtsraum der EU stärken sollen.
In der EU werden jährlich über 8 Millionen Strafverfahren eingeleitet. Die Aussichten, dass Bürger, denen eine Straftat zur Last gelegt wird und die von der Polizei festgenommen wurden, ordnungsgemäß über ihre Rechte informiert werden, sind derzeit von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich. In einigen Mitgliedstaaten werden Verdächtige nur mündlich über ihre Verfahrensrechte informiert, in anderen erhalten sie eine schriftliche Belehrung, aber nur auf Nachfrage.
Gemäß Artikel 82 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union kann die EU zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen Maßnahmen erlassen, um die Rechte der EU-Bürger im Sinne der EU-Grundrechtecharta zu stärken. Das Recht auf ein faires Verfahren und die Verteidigungsrechte sind in Artikel 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie in Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert.
Ein Fortschritt für die Fairness ist eu-weit erreicht.
http://ec.europa.eu/justice/criminal/criminal-rights/index_de.htm
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24.02.2009 16:01
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Unfaire Kündigung – unfaires Urteil
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Recht und Gerechtigkeit, richtiges und faires Verhalten sind zweierlei. Die Berliner Kassiererin Barbara E. soll der Supermarktkette Kaiser’s zwei Leergutbons von 48 und 82 Cent unterschlagen haben. Deshalb kündigte ihr fristlos nach 30 Jahren einwandfreier Zugehörigkeit die Firma. In zweiter Instanz befand das Landesarbeitsgericht Berlin diese Kündigung für rechtens. Gerecht und fair ist deshalb jedoch weder die Kündigung noch das Gerichtsurteil.
Sicher gibt es Prinzipien der korrekten Arbeit, die für alle gelten. Im sensiblen Verantwortungsbereich der Kasse sogar in erhöhtem Maße. Wenn der Verstoß gegen solche Prinzipien nicht geahndet wird, wird damit ein negativer Präzedenzfall gesetzt. Daher muss gehandelt werden. Aber wie – was ist hier fair und angemessen, wenn eine Mitarbeiterin 30 Jahre einwandfrei gearbeitet hat? Sicher gilt, dass schon der Verdacht auf eine Straftat eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann. Aber der Verdacht muss keine fristlose Kündigung rechtfertigen. Es gibt faire Alternativen.
Das Urteil ist krass unverhältnismäßig. Gerichtsurteile in der letzten Zeit zu von Top-Managern begangenen Straftaten haben in keinem Fall zu existenzbedrohenden Urteilen geführt. In keinem Fall reichte der bloße Verdacht einer Straftat schon aus; in jedem Fall mussten Beweise und Geständnisse zur Urteilsbegründung herangezogen werden.
Die Rechtsprechung ist ein Gesamtsystem und kann nicht einzelne Tatbestände und Rechtsbereiche wie nicht miteinander kommunizierende Röhren behandeln. Das Widerspricht eklatant dem Fairness-Gebot der deutschen Rechtsprechung.
Einer Mitarbeiterin nach 30 Jahren tadelloser Mitarbeit wegen des Verdachts auf Unterschlagung in Höhe von 1,30 € fristlos zu kündigen, ist unfair. Denn jeder Mensch verdient bei Verstößen eine zweite Chance. Angemessen wären eine Abmahnung und damit verbunden die Androhung einer fristlosen Kündigung gewesen, gegebenenfalls auch die Versetzung in einen anderen, weniger sensiblen Tätigkeitsbereich.
Zumal es keinen Beweis, sondern allenfalls Zeugen in Gestalt von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Unterschlagung gibt. Was ist, wenn dieses Zeugnis auf vereintem Mobbing der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beruht? Konnte das Gericht dies hundertprozentig ausschließen? Wenn nicht, gilt im Zweifel: für die Angeklagte.
Die dreifache Mutter und zweifache Großmutter wird jetzt wegen 1,30 € zu einem Hartz IV-Fall. Die Supermarktkette Kaiser’s ist eine interne Kritikerin von Arbeitssituationen und aktive Gewerkschafterin los.
Recht haben die Richter zweifellos mit ihrem Argument, dass das Vertrauen zwischen dem Unternehmen, den Mitarbeitern und Frau Barbara E. unwiederbringlich zerstört sei und deshalb eine Besserung der Situation nicht zu erwarten sei. Das kann aber nicht Teil einer Urteilsbegründung sein, in der eine fristlose Kündigung wegen des Verdacht auf Unterschlagung von 1,30 € gerechtfertigt wird. Vielmehr hätte das Gericht die Angemessenheit und damit die Fairness der fristlosen Kündigung nach 30 Jahren tadelloser Mitarbeit abwägen, die Mitarbeiterin vor dauerhafter Rufschädigung und Kriminalisierung schützen und eine gütlichen Vergleich herbeiführen müssen, der der Angeklagten weiterhin eine Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft – wenn auch nicht bei Kaiser’s - ermöglicht.
Aktenzeichen: Landesarbeitsgericht Berlin 7 Sa 2017/08
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19.09.2007 15:03
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Fairness ist nicht immer Gleichbehandlung
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Jutta Limbach, Bundesverfassungsrichterin a.D. und noch Präsidentin des Goethe-Instituts, hat auf dem Richter- und Staatsanwaltstag einen anderen Umgang mit Fairness im Gerichtssaal angemahnt. Zu Recht führte sie aus: "Ohne Ansehen der Person zu richten, verspricht weder ein faires Verfahren noch ein gerechtes Urteil". Richter seien angehalten, die sogenannte "Waffengleichheit" vor Gericht im Prozess überhaupt erst herzustellen. Sonst hätte die schwächere Partei, hätten "Arme, Bildungsferne und Migranten" stets das Nachsehen. Denn sie können weder die Gesetze verstehen noch ihre Ansprüche zureichend artikulieren. Und einen Anwalt, der es mit einer begüterten und eloquenten Gegenseite aufnehme, könnten sie sich erst recht nicht leisten.
Eine Amtsgerichtsdirektorin meinte, mit der Macht des Geldes werde gleiches Recht für alle faktisch verhindert. Und Geldstrafen, so der Leiter einer bayrischen Staatsanwaltschaft, würden reiche Menschen gar nicht weh tun, weil der höchste Tagessatz mit 5000 € für diese ein Klacks sei, während schon 1 € pro Tag Hartz-IV-Empfänger aus der Bahn schmeißen könnte.
Fairness ist das ungeschriebene Mark der deutschen Rechtsprechung, der dann die Rechtsordnung zur Geltung verhelfen will. Aber wie sich zeigt, ist sie nicht einfach mit Gleichbehandlung gleich zu setzen, sondern es bedarf einer Behandlungsentsprechung durch die verantwortlichen Handelnden, um wirklich für Fairness zu sorgen. Da bleibt - auch in der Rechtsprechung - noch sehr viel zu tun.
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