30.05.2023 10:50
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Pflegenotstand - Anwerben ausländischer Pflegekräfte ist eine Schande
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Der Arzt Dr. Bernd Hontschik ist Chirurg und Publizist. Bis 1991 war er Oberarzt am Klinikum Frankfurt-Höchst, bis 2015 in seiner chirurgischen Praxis in der Frankfurter Innenstadt tätig.
Das Zustand des Gesundheitswesens treibt ihn um. Er nennt das Anwerben von ausländischem Pflegepersonal in der Frankfurter Rundschau (26.5.23) „eine Schande“. Und schreibt weiter:
„Befragungen unter ausgestiegenen Pflegekräften ergaben in letzter Zeit immer wieder, dass die Hälfte von ihnen in ihren angestammten Beruf zurückkehren würde, wenn sie mit verträglichen Arbeitszeiten, Wertschätzung, Respekt und einer angemessenen Vergütung rechnen könnten. Was ist davon verwirklicht worden? Mehr als eine kärgliche Corona-Einmalzahlung für Wenige ist nicht herausgekommen. Ach halt, ich vergaß: Es gab außerdem auch noch sehr viel Beifall, sogar stehende Ovationen der Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Das war’s dann aber auch.
Statt sich mit einer grundsätzlichen Reform und Neuorientierung des Pflegeberufes zu befassen, bleibt das Problem seit Jahrzehnten ungelöst. Daher reist man in arme Länder, macht Werbung für die großartigen Arbeitsbedingungen in Deutschland und beraubt diese Länder ihrer qualifizierten Pflegekräfte. Das ist ein alter Hut, keine neue Idee.
Schon als ich vor über vierzig Jahren als Chirurg im Krankenhaus Höchst gearbeitet habe, kamen als Ergebnis großangelegter Anwerbekampagnen etwa ein Viertel der OP-Schwestern und -Pfleger aus Indonesien. Inzwischen sind sechzehn Gesundheitsminister:innen an mir vorbeigezogen, aber niemand hat sich an die Ursachen gewagt. Im Gegenteil. Inzwischen sind etwa die Hälfte der damals noch 4000 Krankenhäuser geschlossen worden, mehr als 50 000 Stellen im Pflegebereich gestrichen, die Anzahl der stationären Behandlungsfälle stieg um ein Viertel an, und diese Mehrarbeit mit immer weniger Personal führte zu unerträglichem Arbeitsdruck. So sind im Laufe der Zeit etwa 300 000 ausgebildete Pflegekräfte aus ihrem Beruf geflohen.
Unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) flog dessen Staatssekretärin Sabine Weiss zwecks „Anwerbung ausländischer Pflegekräfte“ auf die Philippinen. Auch Spahn selbst war sich nicht zu schade, in Mexiko und dem Kosovo höchstpersönlich Abkommen über die Anwerbung von Pflegekräften abzuschließen. Das nenne ich Pflegeimperialismus. Die Bundesagentur für Arbeit nennt dieses Programm aber ungeniert „Triple Win“ und ist damit unter anderem in Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Indien, Philippinen, Tunesien, Mexiko und Brasilien unterwegs: Das Herkunftsland gibt arbeitslose Kräfte ab, Deutschland besetzt freie Stellen, die Betroffenen lernen Deutsch und verdienen hiesige Löhne.
Man könnte das Ganze aber auch als „Triple-Lose“ bezeichnen: Das Herkunftsland verliert seine gut ausgebildeten jungen Menschen, in Deutschland erfüllen sie die Funktion von Lohndrückern, und die Betroffenen erhalten häufig skandalöse Arbeitsverträge, ja sie müssen sogar nicht selten „Anwerbekosten“ von mehreren tausend Euro bezahlen, falls sie – desillusioniert – kündigen wollen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Und nun – man glaubt es kaum – werden Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Juni nach Brasilien reisen, um wieder Pflegekräfte „anzuwerben“. Heil berichtet schon von solchen Absprachen mit Indonesien und Mexiko. Auch Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) steht nicht zurück und hat sich im Februar zusammen mit ihm in Westafrika nach Pflegepersonal umgetan, besonders in Ghana.
Der lächerliche Applaus, die schlechten Arbeitsbedingungen und der verzweifelte Versuch, anderen Ländern qualifizierte Arbeitskräfte wegzunehmen, werden die Probleme im Pflegebereich nicht lösen. Auf diese Katastrophe ist man sehenden Auges und untätig zugesteuert, und die Prognosen sind derart furchterregend, dass die Pflege zu einer Schicksalsfrage der Nation werden wird. Längst hätte es eine nationale Ausbildungsinitiative geben müssen, hätten Krankenhäuser und Pflegeheime mit ausreichenden finanziellen Mitteln zur Einrichtung von Schulen für Pflegekräfte ausgestattet werden müssen. Längst hätte man mit dem Ausbau der universitären Pflegestudiengänge die Attraktivität und Akzeptanz dieses Berufes erhöhen können. Längst hätten Karrierechancen in der Pflege geschaffen werden müssen, endlich verbunden mit einer angemessenen Bezahlung sowie lebens- und familienfreundlichen Arbeitszeiten.
Am wichtigsten aber wäre es, endlich die Privatisierung zu stoppen, auf allen Ebenen, in den Krankenhäusern, in der ambulanten Medizin der „Versorgungszentren“ und in den Pflegeheimen. Für die Arbeitshetze in der Pflege und im ärztlichen Bereich ist in erster Linie der Zwang zur Profitmaximierung, zu möglichst hohen Renditen für Aktionärinnen und Aktionäre verantwortlich. Pflege, Fürsorge und gute Medizin ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Das ist der Grund für den Exodus der Pflegekräfte, von dem inzwischen auch Ärztinnen und Ärzte massiv erfasst werden. Es wird nichts von selbst besser. Das Gesundheitswesen muss gemeinnützig und Teil staatlicher Daseinsvorsorge sein“.
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23.05.2023 12:44
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Spargel und Erdbeeren aus Deutschland - Miese Arbeitsbedingungen bei der Ernte
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Lohndumping, Wuchermieten und keine ausreichende Krankenversicherung: Wer Spargel, Erdbeeren und Gemüse auf deutschen Feldern erntet, wird oft ausgebeutet. Mitverantwortlich sind die großen deutschen Supermärkte, die die Bäuer*innen unter Druck setzen, um die Ware möglichst billig beziehen zu können.
Wie sich der Preisdruck der Supermärkte für die Saisonarbeiter*innen auf dem Feld anfühlt, zeigt die neue Oxfam-Studie „‚Das hier ist nicht Europa.‘ Ausbeutung im Spargel-, Erdbeer- und Gemüseanbau in Deutschland“. Hier werden alle Spielräume ausgenutzt, Menschen um ihren gerechten Lohn zu bringen
Die Ergebnisse der Recherche sind erschreckend. Mit allerlei Tricks versuchen die Höfe, die tatsächlichen Löhne der Saisonarbeiter*innen zu drücken – zum Beispiel durch horrende Lohnabzüge für die Unterkunft. Arbeiter*innen zahlen für einfachste Gemeinschaftsunterkünfte mehr als die Durchschnittsmieten deutscher Großstädte. Für eine Baracke ohne Küche verlangt einer der Betriebe 40 Euro pro Quadratmeter. Die durchschnittliche Kaltmiete in der Münchner Innenstadt liegt bei 23 Euro.
Besonders ein Betrieb in Brandenburg erweist sich als skandalös: Die Unterkünfte gleichen Baracken, in den Zimmern wächst Schimmel. Eine Küche gibt es nicht, gekocht wird auf mobilen Herdplatten. „Das hier ist nicht Europa“, resümiert ein befragter Arbeiter. Supermarktgigant Edeka pries derweil „Unterkünfte mit Hotelcharakter“ an.
Zehn Stunden schwere und monotone körperliche Arbeit sind Alltag
Viele Arbeiter*innen sind mit einer kaum durchschaubaren Kombination aus Stunden- und Akkordlöhnen konfrontiert und berichten von schwer oder gar nicht erreichbaren Zielvorgaben. „Das sind keine Einzelfälle. Beschäftigte klagen regelmäßig über falsche Angaben bei der Arbeitszeiterfassung, wodurch sie mehr arbeiten müssen, als sie bezahlt bekommen”, sagt Benjamin Luig von der Initiative Faire Landarbeit. „Zehn Stunden schwere und monotone körperliche Arbeit sind Alltag in der deutschen Landwirtschaft. Aber Lohndumping und massiver Leistungsdruck dürfen kein Geschäftsmodell sein!“ Mitgliedsorganisationen der Initiative Faire Landarbeit beraten deutschlandweit Saisonarbeiter*innen zu ihren Arbeitsrechten. Kündigung bei Krankheit
Die Studie belegt auch die unzureichende Versicherung der Arbeiter*innen. Die meisten haben keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz oder geben an, gar nicht versichert zu sein. Ein Großteil wird über das Modell der kurzfristigen Beschäftigung angestellt. Für diese Arbeiter*innen schließen Betriebe meist private Gruppen-Krankenversicherungen ab, die ein weit geringeres Leistungsspektrum als gesetzliche Versicherungen bieten. Manche berichteten, dass sie ihre Behandlungskosten selbst bezahlen mussten. Wegen extrem kurzer Kündigungsfristen von bis zu einem Tag kommt es vor, dass Arbeiter*innen noch krank oder verletzt die Heimreise antreten.
Marktmacht ja – Verantwortung nein: Supermärkte drücken Preise ins Bodenlose
In Deutschland teilen die Big Four – Edeka, Rewe, Aldi und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland mehr als 85% des deutschen Lebensmitteleinzelhandels unter sich auf.
Die Verantwortung für diese unhaltbaren Arbeitsbedingungen liegt nicht nur bei den Betrieben, sondern auch bei den deutschen Supermärkten, die für Spargel, Erdbeeren und Gemüse ruinös niedrige Preise zahlen.
„Die Supermärkte üben einen brutalen Preisdruck aus“, sagt Tim Zahn, Referent für globale Lieferketten, Menschenrechte und Migration bei Oxfam. „Den Preisdruck geben die Betriebe nach unten weiter: an die Arbeiter*innen auf den Feldern. Und er hat weitere Folgen: Viele kleinere landwirtschaftliche Betriebe geben auf. Die Supermärkte stehlen sich hier seit Jahren aus der Verantwortung, sie müssen endlich dazu gebracht werden, angemessene Preise zu zahlen.“
Rechte der Saisonbeschäftigten schützen!
Oxfam Deutschland und die Initiative Faire Landarbeit fordern deshalb, dass der Einkauf unter Produktionskosten verboten wird. Die Bundesregierung muss zudem dafür sorgen, dass Saisonarbeiter*innen grundsätzlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden, unter anderem, damit sie vollen gesetzlichen Krankenversicherungsschutz vom ersten Tag an erhalten.
Anders als für frühere Studien hat Oxfam diesmal nicht in Anbaugebieten von Südfrüchten recherchiert, sondern gemeinsam mit dem PECO-Institut direkt vor unserer Haustür. Grundlage der Studie sind eigene Recherchen von Oxfam Deutschland und ein Bericht des PECO-Instituts. Für diesen wurden Arbeiter*innen bei vier Betrieben interviewt, die wir mittels Testkäufen als Lieferanten deutscher Supermärkte identifizieren konnten.
"Die Oxfam-Studie 2023"
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19.05.2023 10:09
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Missbrauchte Medizin - zerstörte Medizin
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„Es ist unerträglich für mich, wenn Medizin missbraucht wird“. Sagt der Mediziner Bernd Hontschick.
Aus Anlass seiner 300. Kolumne in der Frankfuter Rundschau am 13. Mai 2023 sprach der Arzt Bernd Hontschik mit Boris Halva über gierige Pharmakonzerne, autoritäre Strukturen in Arztpraxen – und Briefe, die zu Herzen gehen.
Herr Hontschik, heute erscheint Ihre 300. Diagnose in der FR – und Themen gibt’s nach wie vor reichlich. Wünschen Sie sich manchmal, es wäre anders?
Es wäre schön gewesen, wenn der eine oder andere Missstand zwischenzeitlich behoben worden wäre. Aber in den 16 Jahren, die ich jetzt Kolumnen schreibe, hat sich an den großen Themen überhaupt nichts verbessert. Mir fällt nur eine einzige gute Meldung ein: die Abschaffung der leidigen Praxisgebühr. Mir werden die Themen also nicht ausgehen.
Welches Thema treibt Sie bis heute am stärksten um?
Ich bin entsetzt darüber, wie Medizin kaputtgemacht wird. Im Krankenhaus gehen die Patienten als Menschen unter, werden zu Werkstücken, die durch Produktionsstraßen geschoben werden – ein Horror für die Patient:innen, ein Horror für die professionellen Helfer:innen, die zunehmend auf der Flucht sind. Das finde ich entsetzlich! Im Kern geht es mir immer darum, dass das Gesundheitswesen Teil der staatlichen Daseinsfürsorge bleiben muss, dass private Investoren da nichts zu suchen haben. Ich plädiere immer wieder für die allgemeine Bürgerversicherung und die Abschaffung der privaten Krankenversicherungen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens treibt mich auch um, weil Datenschutz und Schweigepflicht als vorgestrig diffamiert werden und hinten runterfallen.
Hat das Schreiben Ihren Blick auf die Welt verändert?
Den Blick auf die Welt vielleicht nicht, aber es ist eine Art Filter, mit der ich Nachrichten aufnehme. Ich finde Themen oder Zusammenhänge auch dort, wo man sie erstmal nicht vermutet. So zum Beispiel bei der Kolumne „Brick Lane“, die ich 2008 geschrieben habe. Ich hatte einen Bericht im Radio über diese Straße in London gehört, in der die Laternenpfähle mit Schaumstoff ummantelt wurden, weil immer wieder Menschen dagegen gelaufen sind, die nur aufs Handy geschaut haben, und sich teils so schwere Kopfverletzungen zugezogen haben, dass sie in die Klinik mussten. Das habe ich zum Anlass genommen, in einer Kolumne den Unterschied von Vorsorge und Früherkennung klar zu machen. Ein ernstes Thema, aber dennoch unterhaltsam aufbereitet.
Wer Ihre Kolumnen regelmäßig liest, weiß: „Vorsorge“ ist eines Ihrer Reizthemen...
Ja, und es regt mich bis heute auf, wenn gesagt wird, man solle zur Krebsvorsorge gehen. Gegen Krebs kann ich höchstens vorsorgen, indem ich aufhöre, zu rauchen. Aber wenn ich eine Koloskopie mache oder mir die Brust röntgen lasse, dann ist das keinerlei Vorsorge, sondern Früherkennung – in der Hoffnung, dass ein früh erkannter Tumor behandelbar ist, was leider auch nicht immer stimmt. Und wenn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass eine Früherkennung auch schädlich sein kann, was die Medien zumeist ignorieren, dann schreibe ich eine Kolumne darüber, und wenn es sein muss, auch noch eine und noch eine. Mein Anspruch ist Information und Aufklärung.
Leitlinien gehören auch zu den Dingen, die Sie umtreiben...
Leitlinien sind nichts Schlechtes, sie waren ja dazu gedacht, dass man einen Behandlungskorridor eröffnet auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie werden aber leider allzu oft verwechselt mit Handlungsvorschriften und dazu missbraucht, abweichende Ideen und Meinungen zu diskreditieren. Das regt mich auf, denn die Behandlung von Menschen ist etwas höchst Individuelles. Wenn die Medizin nur eine Anwendung von Leitlinien wäre, dann bräuchte man ja keine Ärztinnen und Ärzte.
Je individueller medizinische Behandlung ist, desto schwerer ist sie zu kalkulieren. Und das wird beim Lesen Ihrer Kolumnen auch deutlich: Geld und Medizin können eine ungesunde Wechselwirkung haben.
Wenn man finanzielle Anreize für bestimmte medizinische Anwendungen setzt, dann ist Medizin korrumpiert. Dann geht es nur noch um Gewinne, und das ist doch nicht das Ziel von Medizin. Seit es Fallpauschalen gibt, haben sich die Zahlen etwa bei Hüft- oder Rückenoperationen teils verdoppelt – und das ganz sicher nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus pekuniären. Die Bezahlung ist ein riesiges, ungelöstes Problem. Da hilft auch die Debatte über eine Bezahlung nach Qualität nichts.
Weil da erstmal zu klären wäre: Was ist Qualität?
Eben, und Qualität kann man nicht messen, denn dann handelt es sich um Quantität! Wenn ich sage, dass es zu meinen besten chirurgischen Leistungen gehörte, Menschen zu empfehlen, sich nicht operieren zu lassen, wie soll mir das vergütet werden? Wie bezahlen Sie mich, wenn ich mit meiner ganzen Erfahrung und Qualifikation und gemeinsam mit meinem Patienten zu dem Schluss komme, dass es am besten ist, nichts zu tun?
Das Thema Bezahlung behandeln Sie auch immer wieder. Ihre 100. Kolumne, in der Sie sich 2011 mit den sogenannten Igel-Leistungen befasst haben, endet mit dem Satz, dass Sie sich angesichts dieser Praktiken für Ihre Zunft schämen. Kommt das öfter vor?
Ja, leider! Ich habe mich in meiner aktiven Zeit als Chirurg in einem Netzwerk von Ärzten und Ärztinnen aller Fachrichtungen bewegt, mit denen ich gut zusammenarbeiten konnte, aber ich habe doch auch immer wieder gehört, dass Patientinnen und Patienten entweder abgezockt oder überhaupt nicht angeschaut, sondern mit Rezepten, Überweisungen oder Einweisungen abgefertigt wurden. Es war teilweise haarsträubend, was mir die Menschen über ihre Erlebnisse berichtet haben. Vor allem hat mich schockiert, dass manchen gesagt wurde, wenn sie sich nicht an die Anweisungen des Arztes halten, würden sie nicht weiter behandelt. Es gibt in meiner Zunft nicht wenige, die total autoritär strukturiert sind und sagen: Wer nicht gehorcht, fliegt raus!
Glauben Sie nicht, dass mit dem Nachrücken der nächsten Generation ein Wandel stattgefunden hat? Sie haben 2009 geschrieben, dass „eine Dominanz der männlichen Symptome in den Köpfen von Ärztinnen und Ärzten“ vorherrscht und viele Frauen daher falsch behandelt würden – aber bei diesem Thema ist im zurückliegenden Jahrzehnt viel Bewegung reingekommen.
Ich habe seit 2009 mehrfach über Gendern in der Medizin geschrieben. Da hat sich viel getan, das stimmt, vor allem bei der Einsicht, dass Frauen keine kleinen Männer sind, sondern völlig andere Symptomatiken haben, etwa beim Herzinfarkt, dass sie auf manche Medikamente ganz anders reagieren und dass sie ganz andere Gelenke haben, also auch ganz andere Gelenkersatzprothesen brauchen als Männer. Frauen sind in der Medizin überhaupt auf dem Vormarsch. Es gibt längst deutlich mehr Medizinstudentinnen als –studenten. Die Medizin wird davon profitieren. In Berlin gibt es einen Lehrstuhl für frauenspezifische Gesundheitsforschung. Und nicht ohne Grund wird an vielen medizinischen Fakultäten inzwischen Kommunikation gelehrt. Männer haben sich all die Jahrzehnte zuvor dergleichen nicht ausgedacht.
Bei welchen Themen wiederum hat sich so gar nichts getan?
Bei der Krankenversicherung hat sich nichts getan, der Weg in die Bürgerversicherung ist immer noch verschlossen und es können sich immer noch zehn Prozent Gutverdienende in der privaten Krankenversicherung aus der Solidarität verabschieden, ein Skandal. Auch beim Thema Privatisierung ist kein Umdenken zu sehen, im Gegenteil, das wird immer schlimmer. Konzerne machen sich nicht mehr nur in Kliniken breit und locken mit hohen Dividenden, sondern auch der ambulante Bereich wird zunehmend privatisiert. Was hat ein kanadischer Lehrerpensionsfond für ein Interesse an unserer Gesundheit? Warum wohl besitzt dieser Fond über 100 Augenarztpraxen und medizinische Versorgungszentren in Deutschland? Und dann gibt es Zweige, die mindestens genauso wichtig sind, die Kinderheilkunde zum Beispiel, aber dort schreibt man rote Zahlen. Um die Kinderheilkunde kümmert sich kein Investor. Auch ein großer Skandal ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die in der geplanten Form niemand anderem nutzen wird als der IT-Industrie.
Was fühlen Sie häufiger: Wut oder Verzweiflung?
Ich bin schon manchmal verzweifelt über die zunehmende Destruktion unseres Gesundheitswesens. Verhältnisse wie in den USA sind nicht mehr fern, wo Gesundheitsversorgung eine Frage des Geldes ist. Aber es sind trotzdem erstmal andere Dinge, die mich an den Rand der Verzweiflung bringen. Die Verkehrspolitik, die Klimakrise, und jetzt ist auch noch Krieg in Europa! Das sind Anlässe, wirklich verzweifelt zu sein, denn davon sind wir alle betroffen, ob krank oder gesund. Da kann man das Gesundheitswesen hinten anstellen. Aber man kann schon auch wütend werden, wenn man mit anschauen muss, wie Gemeineigentum urplötzlich nur noch dem Reichtum weniger dient.
Apropos Wut: Mit wem legen Sie sich lieber an – mit Pharmakonzernen oder den Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik?
Was den Pharmabereich angeht, hat man in der Coronapandemie gesehen, welche unglaubliche Macht die Konzerne haben. Sie haben nicht nur mit Steuergeld die Impfungen entwickelt und dann später die Preise diktiert, sondern haben sich von jeder Verantwortung befreien lassen, für unerwünschte Impf-Nebenwirkungen oder -Schäden zu haften. Das kann man nicht verstehen. Jetzt kommt es zunehmend zu Dokumentationen von Impfreaktionen – aber niemand will zuständig sein, die Patient:innen werden allein gelassen. Die Pharmakonzerne schwimmen in Geld, aber denken nicht daran, sich für die Folgen ihres Tuns verantwortlich zu zeigen. Mit den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik ist es ein bisschen anders: Gesundheitspolitik müsste dafür da sein, Medizin möglich zu machen. Aber davon kann keine Rede sein. Gesundheitspolitik ist nach wie vor ein Ergebnis des Kampfes zwischen verschiedenen Lobby-Gruppen, die es in diesem Haifischbecken gibt. Wenigstens hat Gesundheitsminister Lauterbach jetzt eingeräumt, dass die Fallpauschalen nicht das Wahre sind – schade nur, dass er für diese Einsicht 20 Jahre gebraucht hat.
Auf welche Ihrer Kolumnen haben Sie die heftigsten Reaktionen bekommen?
Die gab es während der Coronapandemie, weil ich das, was in der Zeit gemacht wurde, nicht einfach hinnehmen wollte und immer wieder Fragen gestellt habe. Ich bin ja selbst geimpft, und ich habe auch nie geschrieben, dass man sich auf keinen Fall impfen lassen sollte, aber ich habe eben immer wieder gefragt: Was geht hier eigentlich vor? Und da bin ich in den Kommentarspalten aufs Übelste beschimpft worden. Menschenverachtend sei das, was ich da schreibe. Man kann mir ja vieles vorwerfen, aber Menschenverachtung ganz sicher nicht!
Hat das dazu geführt, dass Sie zu bestimmten Themen lieber nichts mehr sagen?
Überhaupt nicht! Aber es kommt vor, dass Menschen mir schreiben, es sei mutig, dass ich dies oder das geschrieben habe. Das ist ja nett, dass man mich mutig findet, aber: Mir kann doch keiner was, man kann mir nichts wegnehmen. So gesehen gehe ich mit dem Schreiben keinerlei Risiko ein, auch wenn ich mich noch so kritisch äußere. Mutig sein, das heißt für mich, dass Menschen etwas riskieren. Es gibt Menschen, die riskieren ihr Leben für ihre Sache. Ich riskiere höchstens, dass ich für die Frankfurter Rundschau keine Kolumnen mehr schreiben darf.
Zum Abschluss wüsste ich gern, ob Sie auch Zuschriften bekommen, die zu Herzen gehen?
Oh ja. Einmal hatte ich über den Einsatz von Robotern im OP geschrieben, angeregt durch den sogenannten Robodoc, den die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Frankfurt angeschafft hatte. Später hatte sich rausgestellt, dass der Robodoc gar keine Zulassung hatte, aber da hatte man ihn schon bei mehreren Hüftgelenksoperationen eingesetzt mit dem Ergebnis, dass bei manchen Patientinnen und Patienten das ganze Nervensystem in diesem Bereich zerstört worden war. Ich kann diese OP-Technik hier nicht erklären, aber etwas Gefühlloseres als einen Roboter kann mich sich ja gar nicht vorstellen. Nach der Kolumne habe ich Zuschriften bekommen von Leuten, die auch mit dem Robodoc operiert worden waren und danach vor den Trümmern ihrer Existenz standen: Beruf verloren, Ehe kaputt, Schmerzen rund um die Uhr. Das ging mir wirklich nah! Wissen Sie, ich bin mit Leib und Seele Chirurg, und mit 40 Jahren Erfahrung kann ich sagen: Die Chirurgie kann Menschen wirklich helfen, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen kann man oft noch etwas tun. Aber für mich ist unerträglich, wenn Medizin aus pekuniären Gründen missbraucht wird.
Zur Person Bernd Hontschik , geboren 1952 in Graz, ist Chirurg und Publizist. Bis 1991 war er Oberarzt am Klinikum Frankfurt-Höchst, bis 2015 in seiner chirurgischen Praxis in Frankfurt tätig. Seine Doktorarbeit über unnötige Blinddarmoperationen erregte großes Aufsehen. Er ist auch Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ bei Suhrkamp, die er 2006 mit dem Bestseller „Körper, Seele, Mensch“ eröffnete.
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10.05.2023 10:45
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Vermittlungsausschuss schwächt Schadensersatzanspruch für Whistleblower
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Bund und Länder haben sich im Vermittlungsausschuss auf ein Hinweisgeberschutzgesetz und die damit verbundene, längst überfällige nationale Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie geeinigt. An einigen inhaltlichen Punkten stellt der Kompromiss im Vergleich zum Koalitionsentwurf leider eine Verschlechterung für Whistleblower dar.
Whistleblower weisen auf Missstände und Fehlentwicklungen hin und ermöglichen so frühzeitig Abhilfe. Sie selbst zahlen dafür oft einen hohen Preis und sind schwerwiegenden Repressalien wie Mobbing ausgesetzt. Repressalien, die gravierende und langanhaltende Auswirkungen auf ihr Leben haben, deren Schaden aber aus juristischer Sicht meist von immaterieller Natur ist.
Die EU-Whistleblowing-Richtlinie und der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen (§ 37) haben daher zurecht ein Schmerzensgeld für „immaterielle Schäden“ vorgesehen. Dieser Entschädigungsanspruch ist dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss zum Opfer gefallen. „Die Streichung des immateriellen Schadensersatzanspruches kann gravierende Auswirkungen für Whistleblower haben. Damit fällt ein Schmerzensgeldanspruch für sehr viele Repressalien, von denen Whistleblower betroffen sind, weg. Zudem wird gegen europäische Vorgaben verstoßen, obwohl gegen Deutschland bereits jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig ist““, kritisiert Dr. Simon Gerdemann, Leiter eines DFG-geförderten Forschungsprojekts zum Whistleblowing-Recht.
Wie zu erwarten war, konnten CDU/CSU im Vermittlungsausschuss weitere Änderungen zum Nachteil von Whistleblowern durchsetzen: - Die Anpassungen beim Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung (§ 7) sehen vor, dass sich Whistleblower bevorzugt an eine (organisations-)interne Stellen wenden „sollten“. Dies könnte auf Whistleblower wie eine Abschwächung der von der EU-Richtlinie zwingend vorgesehenen Gleichrangigkeit von internem und externem Whistleblowing wirken. Studien und Erfahrungen belegen, dass sich Whistleblower an eine interne Stelle wenden, wenn sie das Gefühl haben, den Ansprechpartner*innen vertrauen und auf diesem Weg Veränderungen bewirken zu können. Eine Gleichrangigkeit der Meldewege schafft einen Anreiz für gutaufgestellte interne Hinweisgebersysteme und eine whistleblower-freundliche Organisationskultur. - Die Einrichtung anonymer Meldekanäle ist nicht mehr verpflichtend. Die Pflicht anonymen Meldungen nachzugehen, wird zu einer „Sollte“-Bestimmung abgeschwächt. Anonyme Meldekanäle ermöglichen es Whistleblowern, Vertrauen zur Anlaufstelle aufzubauen, bevor sie ihre Identität preisgeben, und ermutigen sie so zu Meldungen. Systematische Befragungen von Unternehmen haben ergeben, dass die Einführung anonymer Hinweisgeberkanäle keinesfalls Denunziantentum fördert. Der Nutzen anonymer Hinweisgeberkanäle überwiegt die (überschaubaren) Kosten bei weitem. „Der Kompromiss zeigt, dass es bei den Unionsparteien und Teilen der Wirtschaft nach wie vor große Vorbehalte gegen Whistleblower gibt, obwohl diese im Interesse von Gesellschaft und Wirtschaft handeln“, so der Geschäftsführer von Whistleblower-Netzwerk, Kosmas Zittel. „Erfreulicherweise hat sich wenigstens die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit einer Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs keinem gedient gewesen wäre.“
Der sachliche Anwendungsbereich beinhaltet nach wie vor Hinweise zu Straftatbeständen und bestimmten Ordnungswidrigkeiten. Die von CDU/CSU geforderte Beschränkung des Anwendungsbereichs auf möglichst wenige Rechtsbereiche hätte deutlich mehr Aufwand für Unternehmen und Behörden zur Folge gehabt. Nach Eingang einer Meldung hätte jedes Mal geprüft werden müssen, ob der Verstoß in den Anwendungsbereich fällt oder nicht. Eine Abgrenzung, die bereits erfahrenen Jurist*innen in vielen Fällen schwer gefallen und für juristische Laien, wie die meisten Whistleblower, fast unmöglich gewesen wäre. Dies hätte zu Rechtsunsicherheit geführt und Whistleblower abgeschreckt.
Bedauerlicherweise hat der Gesetzgeber diese wahrscheinlich letzte Chance nicht genutzt, die Mängel des Gesetzentwurfes zu beheben. Whistleblower-Netzwerk bemängelt u.a. die restriktiven Vorgaben für Offenlegungen gegenüber den Medien und die weitgehenden Ausnahmen für Whistleblower aus dem Geheimschutzbereich. Außerdem fordert WBN eine Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs auf sonstiges erhebliches Fehlverhalten oder Missstände unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße (s. Pressemitteilung mit Reporter Ohne Grenzen).
Weitere Informationen • Bundesrats-Pressemitteilung zur Einigung im Vermittlungsausschuss (09.05.2023) • Gesetzesbeschluss des Bundestags (16.12.2022) • WBN-Pressemitteilung und Stellungnahme für die zweite öffentliche Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses (27.03.2023) • WBN-Pressemitteilung zur ersten Lesung des Bundestags (15.03.2023) • WBN-Pressemitteilung zum Bundestagsbeschluss (16.12.2022) • WBN-Pressemitteilung zur ersten öffentlichen Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses (19.10.2022) • Podcast-Interviews zum Regierungsentwurf
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04.05.2023 08:13
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Die Kreislaufflasche mit Günther Jauch
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Der Moderator Günther Jauch bewirbt Einweg-Flaschen als ökologisch. Unter dem Motto: „Die Kreislaufflasche“. Ist das Irreführung? Ja, und damit keine faire Werbekampagne, denn nun gibt es auch heftige Kritik daran und – und eine Gegenkampagne. Die Frankfurter Rundschau dokumentiert das heute (4.5.23) wie folgt:
Immerhin beim Bier ist die Welt noch wie früher, zumindest wenn es um die Flaschen geht: Die Deutschen greifen nach wie vor meist zu Mehrweg. Aber sonst? Beispiel Mineralwasser: 1991 lag die Mehrwegquote noch bei 93 Prozent, heute beträgt sie kaum 43 Prozent. Und Limos gibt es auch immer häufiger in Einwegpullen aus Plastik. Die Bundesregierung will gegensteuern, auch die EU-Kommission.
Aber stimmt das überhaupt: Einweg ist böse, mitverantwortlich für wachsende Müllberge? Darüber ist Streit entbrannt.
Auf der einen Seite steht: der Discounter Lidl mit Fernsehmoderator Günther Jauch. „Es lohnt sich, manchmal etwas genauer hinzusehen“, sagt er in einer Werbekampagne des Discounters für seine Einweg-Plastikflaschen. Das Unternehmen aus Neckarsulm verkauft darin zum Beispiel Wasser der Marke Saskia, nennt sie selbst Kreislaufflasche, behauptet, diese sei eine der ökologischsten Getränkeverpackungen, die es gibt.
Jauch gibt sich skeptisch, investigativ, geht der Frage nach: Wie kann das sein? Antwort: Aus alt werde neu, die Flasche bestehe zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial, sei 50 mal leichter als Glas. Und für ihren Transport seien weniger LKW nötig. Schon seit einigen Tagen hängen allerorten dazu Plakate, laufen Spots im Internet, Radio, Fernsehen.
Mehrweg-Allianz kritisiert Jauch und Lidl für Einwegplastik
Auf der anderen Seite: die „Mehrweg-Allianz“. Zu ihr gehören die Deutsche Umwelthilfe, die Stiftung Initiative Mehrweg sowie Verbände des Getränkegroß- und -einzelhandels und der Privatbrauereien. Die Allianz startete Mittwoch eine Gegenkampagne. Es ist ein Gewinnspiel: „Wir verlosen einen Jahresvorrat an Freigetränken im Wert von 800 Euro. Und das 20 Mal. Egal ob Wasser, Limo, Saft oder Bier – Hauptsache in regionalen Mehrweg-Pfandflaschen!“
Die Allianz hält Lidl entgegen: Mehrwegflaschen aus Glas könnten bis zu 50 Mal wieder befüllt werden. Im Gegensatz dazu würden die 16,4 Milliarden Einwegplastikflaschen, die in Deutschland jährlich geleert werden, nur ein Mal benutzt und direkt zu Abfall. Auch Getränkedosen seien ein Problem: 4,5 Milliarden Stück gingen davon jährlich über die Ladentheken und verbrauchten 76 000 Tonnen Metall. Und nun?
Einweg-Plastikflasche von Lidl entspricht nicht den Anforderungen des Umweltbundesamts
Nachfrage bei Gerhard Kotschik, Experte für Verpackungen beim Umweltbundesamt. Er erklärt: „Lidl hat seine Flasche sehr, sehr optimiert, der Rezyklateinsatz ist hoch.“ So schneide die Flasche in der von Lidl beauftragten Ökobilanz gut ab. Aber die Flasche löse die Probleme nicht. Und das Vorgehen bei der Ökobilanz entspreche nicht den Mindestanforderungen des Umweltbundesamtes.
Es sei eben noch lange nicht gang und gäbe, dass jede Flasche so wie in der Lidl-Werbung wieder zu einer Flasche wird. In Deutschland würden bisher nur um die 45 Prozent aller Einwegflaschen aus Rezyklat produziert. Und selbst beim besten Willen werde das Lidl-Modell auch nie auf alle Einwegflaschen übertragbar sein.
Kein echter Kreislauf bei Einweg-Plastikflasche von Lidl
Damit die Lidl-Flasche zu 100 Prozent aus Rezyklat hergestellt werden kann, müsse immer an anderer Stelle neues Plastik eingesetzt werden. Den perfekten Kreislauf gibt es nicht. Das Problem, so Kotschik, erstens: „Verbraucher bringen nie alle Flaschen zurück. Da gehen welche verloren.“ Zweitens: „Im Recyclingprozess gibt es Materialverluste. Es braucht immer mehr als eine alte Flasche, um daraus eine neue zu machen.“ Sollen in Deutschland immer gleich viele Flaschen produziert werden, muss also irgendjemand neues Plastik nutzen. Entscheidend sei, sagt Kotschik, „möglichst wenig Abfall entstehen zu lassen, ihn zu vermeiden, auch um Ressourcen zu schonen. Dafür ist Mehrweg besser geeignet.“
Eigentlich sollen Mehrwegverpackungen bei bepfandeten Getränken laut Gesetz heute schon 70 Prozent ausmachen. Nur halten sich die Handelskonzerne nicht daran. Zur Rechenschaft gezogen werden sie dafür nicht. Lidl bietet gar keine Getränke in Mehrweg an. Konkurrent Aldi übrigens auch nicht.
Kotschiks Tipp für den Einkauf: „Mit Mehrweg-Flaschen, die in der Region abgefüllt werden, so dass lange Transportwege vermieden wurden, sind Sie auf der sicheren Seite.“
"Günthers Jauchs und Lidls Kreislaufflasche"
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