Blog nach Kategorie: Politik

13.08.2024 08:42
Für eine faire Pflegeversichung und gegen strukturelle Unfairness
Zu Recht schreibt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VDK Deutschland, zugunsten einer solidarische Pflegeversicherung mit Zukunft. Denn fair ist die Pflege bislang nicht organisiert. Also gilt es, mehr Fairness ins System zu bringen und eine faire Pflege zu entwickeln. Sie schreibt dazu (in der Frankfurter Rundschau am 9.8.24):

In Deutschland sind 5,6 Millionen Menschen pflegebedürftig. Das Statistische Bundesamt geht davon aus, dass bis 2055 die Zahl um 37 Prozent zunehmen wird. Um heutigen Herausforderungen gerecht zu werden und sich auf zukünftige Aufgaben vorzubereiten, muss die Pflegeversicherung stabil und gerecht finanziert werden.

Da es keinen Goldesel für die Finanzierung der Pflege geben wird, müssen weniger märchenhafte Lösungen gefunden werden. Eine wäre, dass endlich die gesetzliche und private Pflegeversicherung zusammengelegt wird. Mit den Beiträgen von Beamtinnen und Beamten, Abgeordneten und Selbstständigen entstünde ein starkes finanzielles Fundament.

Pflegeversicherungen prognostizieren schon jetzt Milliardendefizite

Anders als bei der Krankenversicherung sind die Leistungen der Pflegeversicherung für privat und gesetzlich Versicherte identisch. Aus Sicht des Sozialverbands VDK ist die Zusammenlegung deshalb gut realisierbar. Vor allem ist sie aber eine Frage der Solidarität. Pflege ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die besser von allen Schultern gemeinsam getragen wird. Wir erwarten, dass sich die Regierung zugunsten der Pflegebedürftigen zügig einigt und nicht aus taktischen Gründen wieder viel Zeit verstreichen lässt.

Die Pflegeversicherungen prognostizieren schon jetzt Milliardendefizite. Die Beiträge drohen zu explodieren. Ohne eine gesicherte Finanzierung kippt das System, das bereits am Limit ist. In der größten Not springt dann eben doch immer die Gemeinschaft aller Steuerzahler ein und finanziert das System durch die Hilfe zur Pflege. Dramatisch ist vor allem, dass Angehörige mit ihren Kräften am Ende sind, weil sie oft nicht die nötigen Pflegeleistungen bezahlen können oder die Angebote fehlen.

Die Ampel hat mit dem Expertenbericht zur Finanzierung der Pflegeversicherung alle Fakten auf dem Tisch. Herr Lauterbach hat angekündigt, dass er nach der Sommerpause liefern will. Interessieren wird ihn hoffentlich, dass er mit einer einheitlichen Pflegeversicherung einen großen Wählerwunsch umsetzen würde: Mit 77 Prozent ist eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger in einer repräsentativen Civey-Umfrage im Auftrag des VDK für eine einheitliche Pflegeversicherung. Falls der Minister noch widerspenstige Koalitionäre überzeugen muss: Auch fast jeder zweite FDP-Anhänger ist für eine Pflegeversicherung für alle.

22.07.2024 08:41
Verdacht auf Etikettenschwindel bei Palmöl - Greenwashing in großem Stil
Bauernverband prangert Betrug mit Biodiesel an
Mutmaßlicher Betrug bei Biodiesel empört den Bauernverband. Der Lobbyverband kritisiert Importe aus ökologisch fragwürdigen Quellen nach Deutschland – während heimische Landwirte auf ihrer Ware sitzen bleiben.

Der Deutsche Bauernverband klagt über betrügerische Geschäfte bei Biodiesel-Importen aus China. »Wir erleben, wie der deutsche Markt mit angeblich fortschrittlichem Biodiesel auf Basis von Altfetten aus China überschwemmt wird, der aber offensichtlich aus umetikettiertem Palmöl stammt«, sagte der Generalsekretär des Verbands, Bernhard Krüsken, der »Augsburger Allgemeinen «. Wenn die Politik in Brüssel und Berlin nichts dagegen unternehme, »ist das ein Skandal«.

Mineralölkonzerne könnten die kaum kontrollierten Zertifikate der fragwürdigen Importkraftstoffe in ihrer CO2-Bilanz anrechnen, ergänzte Krüsken. Sie kauften entsprechend weniger heimisches Rapsöl oder Bioethanol zur vorgeschriebenen Beimischung in Diesel und Benzin. Die Vorwürfe fallen in eine Zeit, in der bei vielen Bauern noch großer Unmut über die zu Jahresbeginn beschlossenen Einschnitte beim subventionierten Agrardiesel herrscht.

Millionenschaden befürchtet

Der Schaden durch den mutmaßlichen Etikettenschwindel sei nicht genau zu beziffern, sagte Krüsken. »Doch man kann für die deutschen Landwirte von einem mehrstelligen Millionenbetrag ausgehen.« Dazu komme der allgemeine Schaden für die Klimapolitik und das Vertrauen in die Zertifizierung in Drittländern. Die meisten Ölpalmen wachsen in riesigen Plantagen in Malaysia und Indonesien.

Der mutmaßliche Betrug liege »seit mehr als anderthalb Jahren mehr oder weniger offen auf dem Tisch«, sagte der Verbandsvertreter. Doch trotz Bitten der einheimischen Erzeuger sehe das Bundesumweltministerium offensichtlich keinen dringenden Handlungsbedarf. Das von der EU aufgelegte Zertifikate-System für im Ausland erzeugten Biokraftstoff lade zu Betrug und Missbrauch ein, wenn das beauftragte Unternehmen nicht in der Lage sei, die Einhaltung der Standards zu kontrollieren und zu überwachen.

Umweltministerin Lemke verkündet Stopp von Klimaprojekten in China

In den vergangenen Wochen hatte eine Affäre um mutmaßlichen Betrug bei Klimaschutzprojekten in China für Aufsehen gesorgt. Hintergrund ist, dass sich deutsche Konzerne möglicherweise einen Klimaschutzbeitrag anrechnen ließen, den es nie gegeben hat – weil einige Projekte in China wohl nicht existiert haben. Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sprach von einem »Betrugsgeflecht« und »schwerer Umweltkriminalität«.

Insgesamt geht es laut Lemke um 40 von 69 Projekten in China, die derzeit unter Betrugsverdacht stünden. Ermöglicht wurde der Betrug durch einen Mechanismus, der es Mineralölkonzernen in Deutschland erlaubt, mithilfe von Klimaschutzprojekten in China gesetzlich vorgegebene Klimaziele zu erreichen.

apr/dpa

23.05.2024 20:11
Parteien geben sich einen Verhaltenskodex für Fairness im Wahlkampf
Die Parteien geben sich einen Verhaltenskodex für Fairness im Wahlkampf. Der Kodex besteht aus fünf Punkten:

1. „Wir bekämpfen Extremismus“
2. „Wir fördern eine respektvolle Demonstrationskultur“
3. „Wir setzen auf sachliche Diskussion“
4. “Wir sagen Desinformation und Falschinformationen den Kampf an“
5. „Wir werben für das Engagement in demokratischen Parteien“

Angriffe auf Politiker, Lügen und Propaganda: Um unter diesen Umständen die Demokratie zu schützen, geben sich mehrere Parteien einen Verhaltenskodex. Mit der AfD schließen sie jede Zusammenarbeit aus. Darüber schreibt aktuell Jonas Schaible in Spiegel Online

Die demokratischen Parteien von CSU bis Linke haben sich gemeinsame Regeln für faire Wahlkämpfe gegeben. Die Erklärung trägt den Titel »Fu¨r den Schutz unserer Demokratie und Fairness unter Demokratinnen und Demokraten« und liegt dem SPIEGEL vor. Die Wahlkampfstrategen der Parteizentralen haben den Text über Wochen erarbeitet und abgestimmt.

»Als demokratische Parteien verstehen wir es als unsere Aufgabe, den Raum des fairen demokratischen Wettstreits zu schu¨tzen und zu pflegen – in der analogen Welt ebenso wie online«, heißt es in dem Dokument. Es wurde von CDU und CSU, SPD, Grünen, FDP und der Linken gemeinsam erarbeitet und wird von all diesen Parteien getragen.

Namentlich stehen die Generalsekretäre Carsten Linnemann (CDU), Martin Huber (CSU), Kevin Kühnert (SPD) und Bijan Djir-Sarai (FDP), die Politische Bundesgeschäftsführerin der Grünen, Emily Büning, und die Bundesgeschäftsführer der Linken, Katina Schubert und Ates Gürpinar, für die Übereinkunft ein.

Angriffe auf die freiheitliche Demokratie nähmen zu, von innen und von außen, heißt es im Text. „Wir treten ihnen geschlossen entgegen. Wir pflegen untereinander einen fairen Umgang.“

Erklärung im Superwahljahr

In den vergangenen Monaten waren mehrere Propaganda-, Spionage- und Desinformationskampagnen autoritärer Staaten bekannt geworden. Außerdem waren Vertreter mehrerer Parteien zuletzt beim Plakatieren im Wahlkampf attackiert und teils verletzt worden.

„Die aktuellen Angriffe auf Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer sind bestu¨rzend und betreffen uns alle. Wahlkampf darf nicht zum Sicherheitsrisiko werden“, teilen die Generalsekretäre, Bundesgeschäftsführerinnen und Bundesgeschäftsführer dazu in einer gemeinsamen Presseerklärung mit.

In diesem Jahr finden Europawahlen, Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg und Kommunalwahlen in neun Bundesländern statt. Im kommenden Jahr steht die nächste reguläre Bundestagswahl an.

In dieser Lage bekennen sich die Parteien zu grundlegenden Prinzipien – und verpflichten sich dazu, sich daran zu halten.

Unter der ersten Überschrift findet sich eine klare Verurteilung der AfD – und eine unmissverständliche Absage an jede Kooperation mit ihr: „Die ju¨ngst bekannt gewordenen Deportations-Pläne von Vertretern der AfD sind menschenverachtend und widerwärtig. Mit der AfD und mit Parteien, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, wird es keinerlei Zusammenarbeit geben“.

Die Massenproteste für Freiheit und Demokratie werden ausdrücklich begrüßt. „Durch irrefu¨hrende Formulierungen du¨rfen demokratische Parteien im Mitte-Rechts-Spektrum keinesfalls mit rechtsextremen Parteien gleichgesetzt werden“, stellen die Parteien aber auch klar. Vor allem in der Union hatten Protestaufrufe gegen »rechts« für Irritationen und das Gefühl gesorgt, mancher Protest habe sich auch gegen sie gerichtet.

Gleich in zwei Abschnitten geht es um Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit: »Der demokratische Wettbewerb beruht auf Wahrhaftigkeit und Respekt im Miteinander. Wir dulden keine Lu¨gen oder Verleumdungen«, heißt es unter der dritten Überschrift: »Unwahren Behauptungen werden wir entschieden entgegentreten.«

Man dulde die Verbreitung von Lügen nicht, heißt es dann erneut im vierten Abschnitt. Man werde bei der Veröffentlichung von Informationen von Dritten prüfen, »ob die Meldung durch Manipulation oder durch die Nutzung entwendeter Daten entstand.«

Wir sind in einer neuen Ära der Propaganda

Zuletzt werben die Parteien um Mitglieder und betonen die Rolle, die Parteien im politischen System der Bundesrepublik spielen – laut Grundgesetz wirken sie an der Meinungs- und Willensbildung mit.

Der Kodex dient dazu, dieses System zu schützen. In der gemeinsamen Erklärung drücken das die Generalsekretäre, Bundesgeschäftsführerinnen und Bundesgeschäftsführer so aus: „Unser gemeinsamer Verhaltenskodex ist ein klares Bekenntnis zum Schutz unserer Demokratie und zur Förderung eines fairen politischen Diskurses“.

Ob der Verhaltenskodex für Fairness der Parteien im Wahlkampf 2024 hält, was er verspricht? Jedenfalls müssten böswillige Unterstellungen, Lügen und Täuschungen, Angriffe unter die Gürtellinie, Annäherungen der CDU/CSU an Melonis postfaschistische Partei, die Erklärung der Grünen zum Hauptgegner (MP Söder auf dem CDU-Parteitag) sowie das Bashing von armen, arbeitslosen und kranken Menschen zur angeblich notwendigen Begründung der Schwächung des Sozialstaats, um die Reichen und Superreichen zu schonen, so dass sie nicht mehr als bisher für den Staat, die Verteidigung, die Stabilisierung des Staates und zukunftsnotwendige Institutionen in Bildungsstätten, Aus- und Verbesserung der Infrastruktur, die Stärkung von Steuerfahndung, Polizei und das Gesundheitswesen aufwenden müssen, aufhören. Fairness im Wahlkampf beginnt mit Redlichkeit, Wertschätzung und ausgleichender Gerechtigkeit – los geht’s!

15.05.2024 09:56
Mobbing auch im chinesischen Sprachgebrauch der Politik
Jetzt ist der Begriff Mobbing nochmals in der globalen Politik angekommen. Spiegel-Online schrieb gestern:

"Die Ankündigung der US-Regierung, neue Sonderzöllen auf Elektroautos, Solarzellen, Halbleiter und andere Produkte aus China erheben zu wollen, hat die Spannungen zwischen den beiden größten Volkswirtschaften der Welt erhöht. Die chinesische Regierung reagierte umgehend und empört: Die Zölle würden »die Atmosphäre der bilateralen Zusammenarbeit ernsthaft beeinträchtigen«, heißt es in einer offiziellen Erklärung. Das chinesische Außenministerium sprach gar von »Mobbing«."

Es ist inzwischen ein eigenes Problem, dass der Begriff Mobbing infaltionär benutzt wird und dabei eine genau Begründung für seine Verwendung in einem bestimmten Kontext fehlt. Wir verstehen Mobbing https://www.fairness-stiftung.de/Mobbing.htm in ganz bestimmten Sachverhalten und mit ganz konkretem Kontext. Nur dann lässt sich dazu analysieren, reflektieren und zur Bewältigung von Mobbing beraten: https://www.fairness-stiftung.de/Fairness-Beratung.htm

Politischer Streit und Prozesse im Kontext eines Handelskriegs gehören sicher nicht dazu. Der Begriff wird sonst zusehends unscharf und damit unbrauchbar.

12.03.2024 10:34
Wenn Konkurrenz die Fairness bedroht oder zerstört
Das EU-Lieferkettengesetz darf nicht scheitern, fordern Gerd Müller und Kailash Satyarthi. Immer billiger zu produzieren sei der falsche Weg. Ohne die europäische Richtlinie könne die Globalisierung auf Dauer nicht erfolgreich sein.

Gerd Müller war Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und ist heute Generaldirektor der Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung (Unido). Kailash Satyarthi ist Kinderrechts- und Bildungsaktivist und Friedensnobelpreisträger (2014). Und schreiben für das „Handelsblatt“ (6.3.24) wie folgt:
Was meinen Sie: Wenn ein europäischer Modekonzern eine Jeans für zehn Euro in Indien produzieren lässt und in Hamburg oder Rom für 100 Euro verkauft, sollte er sich darum kümmern, dass sie nicht von Kindern genäht wurde? Und dass die Abwässer kein Trinkwasser verseuchen?

Viele Unternehmen und Menschen sind der Meinung: Ja, das sollte er. Damit dies für alle Unternehmen gilt, wurde in Brüssel intensiv an einer Richtlinie gearbeitet. Sie soll die Sorgfaltspflichten von Unternehmen in globalen Lieferketten einheitlich regeln. Ziel ist nicht, Europas Sozialstandards der Welt überzustülpen, sondern grundlegende Menschenrechtsstandards endlich umzusetzen.
Rund 80 Millionen Kinder arbeiten unter ausbeuterischen Bedingungen – auch für Europa

Für Millionen Beschäftigte in der Welt wäre die Richtlinie daher sehr relevant. Scheitert sie aufgrund von Last-Minute-Bedenken aus Deutschland und Italien nun endgültig, wäre dies ein katastrophales Signal an den globalen Süden: Grundlegende Standards wie das Verbot von Kinderarbeit oder die Verschmutzung von Trinkwasser können von international tätigen europäischen Unternehmen weiterhin unterlaufen werden. Nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn. Alles läuft wie bisher.

Dabei besteht dringend Grund zum Handeln: 25 Millionen Menschen müssen in Zwangsarbeit schuften. Rund 80 Millionen Kinder arbeiten unter ausbeuterischen Bedingungen – auch für Produkte in Europa. Kinderarbeit ist keine historische Episode, sondern endemisch in vielen Lieferketten. Millionen Kinder arbeiten in Minen. Vor allem in Afrika arbeiten Millionen Kinder auf Kosten ihrer Kindheit, ihrer Bildung, ihrer Zukunft.

Jedes Jahr sterben über 20.000 Kinder bei der Arbeit.

So kann Globalisierung auf Dauer nicht erfolgreich sein. „Immer billiger“ ist der falsche Weg! Die Menschen brauchen Löhne, von denen sie leben können, um Kinderarbeit zu beenden. Die europäische Richtline würde zudem dafür sorgen, dass Mindeststandards bei Arbeits- und Umweltschutz auf globalen Märkten durchgesetzt würden. Einheitliche Berichtspflichten würden gleiche Wettbewerbsbedingungen in ganz Europa schaffen und verhindern, dass Vorreiter benachteiligt werden. Aus diesem Grund unterstützen Unternehmen wie Aldi, Bayer, Vaude und Tchibo ein EU-Gesetz.

Die Umsetzung von Mindeststandards führt zu mehr Qualität und weniger Produktionsausfällen

Made in Europe stand immer für hohe Qualität und sollte auch für hohe Zuverlässigkeit bei Sozial- und Umweltfragen stehen. Wichtig ist, dass die Europäische Union (EU), die Vereinten Nationen (UN) und Unternehmen die Zulieferer im globalen Süden auch dabei unterstützen, neue Regeln anzuwenden.

04.03.2024 15:31
Situation der Frauen strotzt weltweit von Unfairness - auch in Deutschland
Kein Land bietet Frauen gleiche Chancen – nicht einmal die wohlhabendsten Volkswirtschaften. Weltweit genießen Frauen nicht einmal zwei Drittel der Rechte von Männern, wie eine Analyse der Weltbank zeigt und von Spiegel Online berichtet wird. Dabei könnte ihre Gleichberechtigung die Wirtschaft in kurzer Zeit erheblich ankurbeln.

Es ist kein Geheimnis, dass Frauen oftmals immer noch weniger verdienen als Männer, oder dass traditionelle Familienbilder sich nach wie vor hartnäckig in den Köpfen der Gesellschaft halten. Die Zahlen, die eine neue Analyse der Weltbank ermittelt hat, sind trotzdem ernüchternd: Frauen genießen demzufolge weltweit im Schnitt nur 64 Prozent der Rechte, die Männer haben. In der Praxis sei die Kluft zwischen den Geschlechtern noch größer, heißt es in dem Bericht. Ein Hauptgrund sei, dass es an den Maßnahmen zur Umsetzung erlassener Gesetze fehle.

Als Beispiel nennt die Weltbank, dass 98 Volkswirtschaften Rechtsvorschriften erlassen hätten, die Frauen für gleichwertige Arbeit gleiches Entgelt vorschreiben. Doch nur 35 Volkswirtschaften hätten Maßnahmen zur Lohntransparenz oder Mechanismen zur Bekämpfung des Lohngefälles verabschiedet.

Was für eine Verschwendung von Talenten. Und wie tragisch, dass in den Volkswirtschaften, in denen Talente am knappsten sind, diese am meisten verschwendet werden«, heißt es in der Analyse. Der Bericht hat Gesetze und Vorschriften in zehn verschiedenen Bereichen in 190 Volkswirtschaften untersucht.

Dabei hat sich die Weltbank unter anderem die Situation in den Bereichen Mobilität, Arbeitsplatz, Ehe, Elternschaft, Vermögen oder Ruhestand angeschaut. Als neue Indikatoren hinzugekommen sind Sicherheit vor Gewalt und Zugang zu Kinderbetreuungseinrichtungen. Wenn man alle untersuchten Bereiche einbezieht, bietet kein Land Frauen gleiche Chancen.

Deutschland kommt auf 85 von 100 möglichen Punkten und liegt damit zwar im oberen Mittelfeld, aber hinter Ländern wie zum Beispiel Italien, Neuseeland, Portugal, Belgien oder Kanada. Doch nicht in allen Ländern, die gut abschneiden, sind auch die unterstützenden Maßnahmen zur Umsetzung von Gesetzen sehr gut bewertet – ein Beispiel dafür ist Italien.

„Frauen haben die Macht, die Weltwirtschaft anzukurbeln“, aus dem Bericht der Weltbank

Deutschland und Frankreich haben einen geringen Abstand zwischen ihren Gesetzen und Maßnahmen zur Umsetzung, wie es weiter heißt. Beide Länder benötigten aber erhebliche Verbesserungen im Bereich Schutz vor Gewalt.

Ohne die beiden neuen Indikatoren haben wie im vergangenen Jahr Frauen in 14 von 190 Volkswirtschaften die gleichen gesetzlichen Rechte wie Männer – darunter in Deutschland. »Frauen haben die Macht, die Weltwirtschaft anzukurbeln, und doch werden sie durch Gesetze und mangelnde Umsetzung oft im Abseits gehalten«, so der Bericht.

Beseitigung geschlechtsspezifischer Unterschiede könnte Wachstumsrate verdoppeln

Die Beseitigung geschlechtsspezifischer Unterschiede bei Beschäftigung und Unternehmertum könne das globale Bruttoinlandsprodukt um mehr als 20 Prozent steigern, die globale Wachstumsrate könne sich in den kommenden zehn Jahren verdoppeln. »Doch überall auf der Welt hindern diskriminierende Gesetze und Praktiken Frauen daran, gleichberechtigt mit Männern zu arbeiten oder Unternehmen zu gründen.«

Als größte Schwäche wurde laut Bericht die Sicherheit von Frauen ausgemacht: Sie läge weltweit im Durchschnitt bei nur 36, was bedeutet, dass Frauen kaum ein Drittel des erforderlichen gesetzlichen Schutzes vor häuslicher Gewalt, sexueller Belästigung, Kinderheirat und Femiziden erhielten.

Mit Material von eru/dpa/AFX
"Der Weltbank-Bericht 2024 zum Thema"

18.01.2024 12:40
Greenwashing: EU will irreführender Werbung Einhalt gebieten
Das EU-Parlament stimmte über Greenwashing ab.
Klimaneutral oder umweltneutral: Manche Etikette sorgen am Supermarktregal für Verwirrung. Das Europäische Parlament will jetzt für mehr Transparenz bei Verbraucherinnen und Verbrauchern sorgen – und Slogans verbieten, wenn sie nicht belegt werden können.

Das Europäische Parlament hat am Mittwoch für ein Verbot irreführender Werbung mit Umweltangaben („Greenwashing“) gestimmt. Demnach dürfen Produkte nicht mehr als „umweltfreundlich“, „natürlich“, „biologisch abbaubar“, „klimaneutral“ oder „öko“ beworben werden, wenn dies nicht durch Nachweise belegt werden kann. Die neuen Regeln sollen mehr Transparenz für Verbraucher schaffen.

Strengere Anforderungen gelten auch für die Verwendung von Nachhaltigkeitssiegeln. Bislang gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Siegel auf Produkten, die nur schwer zu vergleichen sind. In Zukunft sind in der EU nur noch Nachhaltigkeitssiegel erlaubt, die von staatlichen Stellen vergeben werden oder auf einem offiziellen Zertifizierungssystem beruhen.

Außerdem werden unbewiesene Behauptungen über die Nachhaltigkeit von Produkten verboten. So dürfen Hersteller von Waschmaschinen nicht mit 5000 Waschzyklen werben, wenn das Gerät in der Regel früher kaputtgeht. Außerdem sollen Informationen über die Garantie von Produkten besser sichtbar sein und ein neues Etikett eingeführt werden, das Produkte mit einer längeren Garantie hervorhebt.

„Wir werden von der Wegwerfkultur wegkommen“, sagte die EU-Politikerin Biljana Borzan. Unternehmen könnten nun nicht mehr behaupten, Plastikflaschen seien umweltfreundlich, weil irgendwo Bäume gepflanzt würden. „Die Menschen werden in der Lage sein, sich für Produkte zu entscheiden, die dank zuverlässiger Kennzeichnung und Werbung langlebiger, leichter zu reparieren und nachhaltiger sind“, fügte sie hinzu.

Lemke: Lange Nutzungszeit hilft Umwelt und Geldbeutel

Bundesumwelt- und Verbraucherschutzministerin Steffi Lemke (Grüne) begrüßte die Entscheidung: „Mit den neuen Regeln können sich Verbraucherinnen und Verbraucher in der EU künftig besser auf diese Angaben verlassen.“ Eine lange Nutzungszeit von Konsumgütern helfe nicht nur der Umwelt, sondern auch dem Geldbeutel.

Die neue EU-Richtlinie muss noch vom Europäischen Rat gebilligt werden. Danach haben die Mitgliedsstaaten 24 Monate Zeit, die neuen Regeln in nationales Recht zu überführen.

29.08.2023 09:57
Die kalte Spitze krasser Unfairness mit tödlicher Neigung
Zur politischen Hetze gegen Zuwanderung und das Recht auf Asyl. Ein wütender Essay von Bascha Mika in der Frankfurter Rundschau (14.8.23):

„Worte sind Waffen. Gezielt eingesetzt können sie Wellen der Gewalt und Zerstörung auslösen und dabei nicht nur einzelne Menschen treffen, sondern ganze Gesellschaften schleichend zersetzen. „Worte können sein wie winzige Arsendosen“, schreibt der Schriftsteller Victor Klemperer. „Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Ist es also Dummheit, Fahrlässigkeit oder kaltblütiges Kalkül, was sich Politiker und Politikerinnen der bürgerlichen Parteien derzeit leisten? Seit Monaten befeuern sie – mal grob, mal subtiler – den Diskurs über Zuwanderung und Asyl. Verunglimpfen Ausländer und Ausländerinnen, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge. Bedienen rassistische Argumentationsmuster und entmenschlichen ihre Opfer. Mit ihren verbalen Attacken schrammen sie manchmal nur knapp an der Volksverhetzung vorbei – und die AfD freut sich.

Welche Synapsen haben sich wohl im Hirn des CSU-Politikers Peter Ramsauer verschaltet, als er in einer bösartigen Assoziationskette das Thema Fachkräftemangel mit ekligen Tieren verknüpfte? O-Ton: „Deng Xiaoping hat einmal gesagt: Wenn man die Fenster zu weit aufmacht, kommt auch viel Ungeziefer mit rein.“ Was macht man denn mit Ungeziefer, Herr Ramsauer? Man muss es vernichten, oder? Wer braucht schon Schädlinge im Haus oder Land?

Die Grundwerte einer pluralen Gesellschaft beginnen zu faulen, wenn mit ihnen gezockt wird. Die Brandmauer fällt, wenn an Menschenrechte der doppelte Standard angelegt wird, weil es politstrategisch gerade mal passend erscheint. Dabei ist der bayerische Bundestagsabgeordnete ja nur deshalb öffentlich aufgefallen, weil er einen besonders hässlichen Vergleich angestellt hat. Andere Politiker und Politikerinnen der etablierten Parteien, ob von SPD, FDP oder CDU, äußern sich in der Debatte um Asyl und Migration vielleicht weniger drastisch – aber keineswegs weniger menschenverachtend. Und suhlen sich fröhlich im braunen Gesinnungssumpf à la AfD.

Seid Ihr Volksvertreter noch ganz bei Trost? Oder schon völlig verantwortungsvergessen? Hört endlich auf damit! Tut doch nicht so, als wüsstet Ihr nicht, wo das endet. Inzwischen werden in Deutschland wieder jeden Tag zwei bis drei Geflüchtete attackiert. Bereits im vergangenen Jahr – auch provoziert durch die elende Asyldebatte in der Europäischen Union – sind die Angriffe auf Flüchtlingsheime gestiegen, zum ersten Mal seit 2015. In diesem Jahr werden sie weiter zunehmen, denn bis Juli wurden bereits 80 Anschläge oder Sachbeschädigungen registriert.

Selbstverständlich sind Fluchtbewegungen eine globale Herausforderung und Fluchtgründe so vielfältig wie die Menschen, die ihre Heimat verlassen – und zwar selten freiwillig. Nicht nur Deutschland und Europa müssen Lösungen rund um Fragen von Migration und Zuwanderung finden, was keineswegs einfach ist. Doch wollen wir in der aufgeklärten Moderne in die Barbarei zurückfallen oder uns dabei auf Errungenschaften der Zivilisation besinnen? Dass Menschenrechte unteilbar sind, zum Beispiel.

Bayern – wo sich Ministerpräsident Söder, Innenminister Herrmann und der Vorsitzende der Freien Wähler, Aiwanger, besonders gern einer menschenfeindlichen Rhetorik bedienen und Zuwanderung als bedrohlich markieren – steht bundesweit an der Spitze der rassistisch motivierten Attacken auf Schutzsuchende. 105 Angriffe auf Geflüchtete und 14 Anschläge auf Unterkünfte gab es bereits in diesem Jahr, meldet der bayerische Flüchtlingsrat.

So wird über Sprache ein Klima geschaffen, in dem Gewalt gegen spezifische Gruppen gesellschaftlich akzeptiert erscheint und dann auch weniger Mitgefühl in der Bevölkerung hervorruft. Wollt Ihr den Zusammenhang leugnen? Wie weit ist es wohl von Euren Worten zu Taten? Vom Schlagwort zum Brandsatz? Wie viele Neonazis sind denn in den vergangenen Jahrzehnten schon losgezogen – aufgestachelt von einer aggressiv fremdenfeindlichen Stimmung im Land, die Ihr mit aufgeheizt habt? Gewaltverliebte Jungmänner, Mordlust im Auge, die glaubten, des Volkes Willen zu vollstrecken: „Wir tun was, wo andere nur quatschen!“

Muss man Euch wirklich erinnern?

Eberswalde 1990: Amadeu Antonio wird von Neonazis gejagt und totgeschlagen.

Hoyerswerda 1991: Unter dem Beifall der umstehenden Menge attackieren Rechtsextremisten über Tage die Heime von Asylsuchenden, Vertragsarbeitern und -arbeiterinnen, vertreiben die Menschen, die hier wohnen, mit Steinen und Brandflaschen.

Mölln 1992: Beim Brandanschlag auf Wohnhäuser türkischer Familien werden Bahide Arslan und zwei ihrer Enkelinnen ermordet.

Rostock-Lichtenhagen 1992: Tagelang belagern Hunderte Neonazis und Tausende Schaulustige die Unterkünfte von Asylsuchenden, Vertragsarbeitern und -arbeiterinnen. Ein Heim, in dem sich 100 Vietnamesen und Vietnamesinnen verschanzt haben, wird in Brand gesteckt.

Solingen 1993: Bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf das Haus der türkischstämmigen Familie Genc werden fünf Mädchen und Frauen getötet.

Schlaglichter auf die rassistische Gewalt nach der deutschen Wiedervereinigung. Mindestens 42 Menschen wurden zwischen 1990 und ’92 von Neonazis ermordet. Allein 1992 wurden über 2500 rechtsextreme Gewalttaten gezählt. Ein überbordender, vernichtender Hass. Und der kam auch damals keineswegs von ungefähr. Angestachelt von einer lang anhaltenden, erbitterten Debatte um Flüchtlinge und Asylrecht nach der Wende, war er eingebettet in eine weit verbreitete, extrem ausländer- und migrationsfeindliche Stimmung im Land.

„Asylantenschwemme“, „Asylschmarotzer“, „Flüchtlingsflut“, „Überfremdung“. So die Worte – die Taten folgten. Als Anpeitscherin trieb die Union die übrigen Parteien vor sich her, um eine Änderung des Grundrechts auf Asyl zu erzwingen. Das ist ihr zwar zynischerweise nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen mit dem sogenannten Asylkompromiss gelungen, aber profitiert haben vor allem die rechtsextremen Republikaner. Auf der Woge des „Asylmissbrauchs“ konnte die Partei in Berlin und Brüssel in die Parlamente einziehen.

Es gibt eine lange Geschichte des militanten Rassismus in Deutschland, eine bittere Kontinuität rechter und rechtsterroristischer Gewalt auch nach den 1990er Jahren. Die Morde des NSU, der Anschlag von Halle, das Attentat in Hanau ... Dennoch zeigt die Statistik des Schreckens immer dann Höhepunkte auf, wenn über öffentliche Hetzreden ein gesellschaftliches Umfeld geschaffen wird, das die Hemmschwellen senkt, von dem die Täter sich legitimiert und getragen fühlen.

Und heute?

Da gibt Innenministerin Nancy Faeser die sicherheitspolitische Hardlinerin, operiert gezielt mit dem Reizwort „Clankriminalität“ und distanziert sich nicht von Vorschlägen der Länder, „Clanmitglieder“ umstandslos abzuschieben – obwohl dies rechtsstaatlich kaum möglich ist. Hauptsache, es werden virulente Ressentiments bedient, um dann die Law-and-Order-Lösung zu präsentieren. Und weil es sich unter den Taliban so gut leben lässt, will Faeser auch gleich noch das Abschiebeverbot nach Afghanistan aufheben.

Da schwadroniert Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der Union, von „Asylmissbrauch“ und fordert, das Individualrecht auf Asyl in der Europäischen Union ganz abzuschaffen. Stattdessen plädiert er für eine Kontingentlösung. Interessant. Wollen wir dann nicht auch für andere Grundrechte eine mengenmäßige Quote einführen? Applaus für Frei kommt vom Parteivorsitzenden Friedrich Merz; der freut sich offenbar, dass sein Kollege das Gedankengut der Rechtsextremisten bereits so wunderbar inhaliert hat. „Manche mögen’s rechts“, spottet die Satiresendung Extra3 über das Fischen der Union im trübbraunen Teich. Jan Böhmermanns Urteil über die CDU fällt eindeutig härter aus: „Nazis mit Substanz.“

Da palavert Thüringens FDP-Vorsitzender Thomas Kemmerich über Flüchtlinge aus der Ukraine und ärgert sich, dass die noch im Land sind. Schließlich kämen ja nicht alle aus Kriegsgebieten, deshalb solle man sie doch abschieben. Das sagt derselbe Kemmerich, der kein Problem damit hat, sich mit Reichsbürgern und AfD-Spitzenpersonal sehen zu lassen. Und der parlamentarische Mehrheiten im Thüringer Landtag, die mit Obernazi-Höckes Gnaden zustande kommen, völlig okay findet.

Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2022 belegt, dass über zwei Millionen Deutsche ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Dazu gehören Fremdenhass, Antisemitismus, Chauvinismus und Sozialdarwinismus, es geht gegen Migranten und Migrantinnen, Muslime und Musliminnen und andere marginalisierte Gruppen – aber auch Frauen. Wie sagte es doch Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl: „Echte Männer sind rechts.“ Und frauenfeindlich.

Dabei stellt die Leipziger Studie fest, dass die manifeste Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen zwar seit zwei Jahren abnimmt, die latente Zustimmung hingegen wächst, vor allem im Blick auf Ausländerfeindlichkeit. Es sind diese, in ihrer Einstellung noch nicht gefestigten Bevölkerungsgruppen, bei denen die AfD ihr Mobilisierungspotenzial sieht.

Und demokratische Politiker und Politikerinnen haben offenbar nichts Besseres zu tun, als die grassierende, feindliche Gesinnung im Land durch ihr gewissenloses Gerede zu bestärken – auf dass aus verkappten Rechtsextremen entschlossene Überzeugungstäter werden. Das ist zum Fürchten".

21.08.2023 13:32
Diskriminierung stoppen - AGG verbessern - Antidiskriminierung fördern
Anlässlich des Jahrestags des Inkrafttretens des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) kritisierten die Vertreter*innen des Bündnisses AGG Reform – Jetzt! die Untätigkeit der Ampelkoalition bei der Verbesserung des Diskriminierungsschutzes. Deutschland hat eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze in Europa und trotzdem bleibt der von der Ampel im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte Fortschritt bei der Reform des AGG aus. Dieser Zustand ist insbesondere angesichts des stetig wachsenden Zuspruchs fu¨r rechtsextreme Parteien und ihre Bewegungen fu¨r Betroffene und ihre Vertreter*innen nicht hinnehmbar.

Diskriminierung ist antidemokratisch und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deutschland ist Schlusslicht, wenn es um die Gewinnung von Fachkräften geht. Als Wirtschaftsstandort sollte das Land alles im globalen Wettbewerb um Fachkräfte dafu¨r tun, um diese fu¨r den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen und auch zu halten. Auf der Pressekonferenz hat das Bu¨ndnis AGG Reform – Jetzt! mit verschiedenen Betroffenenperspektiven auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und seine Schutzlu¨cken geblickt und verdeutlicht, welche beachtlichen Auswirkungen der Mangel an Diskriminierungsschutz fu¨r das Leben von Betroffenen hat.

Der ehemalige kommissarische Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, der sich jetzt ehrenamtlich in dem Bu¨ndnis engagiert, erklärt, dass es bei der Reform auch um die Stärkung von Grundrechten Betroffener durch einen besseren Rechtsschutz und kollektive Klagemöglichkeiten geht. Diskriminierung sollte abschreckend sanktioniert werden und Betroffene nicht Entschädigungssummen tolerieren mu¨ssen, “die sich quasi aus der Portokasse begleichen lassen.”, sagt Bernhard Franke.


Oriel Klatt von der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung (GgG) stellt fest, dass dicken Amtsanwärter*innen häufig eine Verbeamtung versagt wird und somit “Gleicher Lohn fu¨r gleiche Arbeit” fu¨r sie nicht gilt. Daher fordert das Bu¨ndnis AGG Reform – Jetzt! die Erweiterung des Diskriminierungsmerkmalskatalogs im AGG unter anderem um die Kategorie “Körpergewicht”, denn “in Diskriminierungsfällen, bei denen kein Bezug zu den im AGG genannten Kategorien hergestellt werden kann, ist das AGG nutzlos und die Betroffenen damit schutzlos”, sagt Oriel Klatt (GgG).

Prof. Dr. Sigrid Arnade vom Deutschen Behindertenrat (DBR) betont, dass es unbedingt eine Verpflichtung fu¨r angemessene Vorkehrungen im AGG und somit auf dem Arbeitsmarkt, im Dienstleistungsbereich und dem Waren- und Gu¨terverkehr braucht. “Als Rollstuhlfahrerin habe ich keine freie Arztwahl, wie sie in § 76 SGB V eigentlich jeder Bu¨rgerin garantiert wird. Ärzt*innen sind nicht grundsätzlich zur Barrierefreiheit verpflichtet. Um diese Diskriminierungen zu beenden, muss das AGG ergänzt werden”, sagt Prof. Dr. Sigrid Arnade (DBR).

Karen Taylor von der Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen (BKMO) macht darauf aufmerksam, dass zu viele Menschen aufgrund von Diskriminierung und Rassismus schlechtere Lebenschancen haben. Damit das Chancenland Deutschland fu¨r alle Realität wird, fordert Karen Taylor die FDP und insbesondere Justizminister Buschmann auf, die Blockadehaltung aufzugeben und endlich das AGG als wichtigen Baustein im Kampf gegen Rassismus zu gestalten.

Pia Sombetzki von AlgorithmWatch betont, dass algorithmenbasierte Diskriminierung jede*n betreffen kann und es aktuell keinen Schutz davor gibt. “Wenn das AGG so bleibt, wie es jetzt ist, blicken Betroffene von Diskriminierung in eine du¨stere Zukunft – denn es wird unter den gegebenen Umständen so gut wie unmöglich sein, gegen Diskriminierung dieser Art vorzugehen”, sagt Pia Sombetzki (Algorithm Watch).

Besonders häufig und existenziell bedrohlich ist Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Alexander Thom von der Fachstelle Fair mieten – Fair wohnen in Berlin macht darauf aufmerksam, dass Wohnraum essentiell fu¨r die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen ist. Dabei sei es aber vor allem wichtig , dass neben den Maßnahmen gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt im AGG auch die Rechtsdurchsetzungmöglichkeiten von Betroffenen gestärkt
werden mu¨ssen. U.a. durch Beweislasterleichterung und Auskunftsrechte, da Diskriminierung nicht leicht nachzuweisen ist. “Unsere Ratsuchenden können bei der Bewerbung auf eine Wohnung gar keine Einsicht in die internen Abläufe der Unternehmen gewinnen, um die Diskriminierungen widerspruchsfrei zu beweisen. Ohne Beweislasterleichterung wäre der Gang vors Gericht in diesen Fällen aussichtslos und der Schutz vor Diskriminierung damit nur theoretisch”, sagt Alexander Thom (Fair mieten-Fair wohnen).

Larissa Hassoun vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) weist Deutschland auf seine internationalen Verpflichtungen zum Schutz vor sexueller Belästigung auf dem Arbeitsmarkt hin. Hassoun betont auch, dass es fu¨r den Diskriminierungsschutz von allen Beschäftigten, funktionierende Beschwerdestellen in Betrieben braucht. “Fakt ist: 17 Jahre nach Einfu¨hrung des AGG tun viele Arbeitgeber*innen noch zu wenig, um Diskriminierungsschutz im Unternehmen umzusetzen. Es braucht eine klare Botschaft an Arbeitgeber*innen: Die Erfu¨llung ihrer Schutzpflichten ist keine freiwillige Leistung”, sagt Larissa Hassoun von bff. Es fehle außerdem, so Hassoun, “im AGG der Schutz vor sexueller Belästigung in allen anderen Lebensbereichen, denn sexuelle Belästigung geschieht nicht nur am Arbeitsplatz sondern auch beim Einkauf, bei Behördenterminen oder beim Arzt – auch hier mu¨ssen Betroffene sich rechtlich wehren können.”

Eva Andrades vom Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) stellt außerdem fest, dass Antidiskriminierung nachweislich auch die Wirtschaft und Unternehmen stärkt, da Arbeitskräfte besser eingesetzt werden und es weniger personelle Fluktuation gibt. Eine starke Antidiskriminierungspolitik in Unternehmen erzeuge motiviertere Mitarbeiter*innen, da Karriereoptionen besser gestaltet werden und ein höheres Gerechtigkeitsempfinden im Unternehmen herrscht. Außerdem betont Eva Andrades im abschließenden Resu¨mée, dass Antidiskriminierung kein Nischenthema ist und die Verbände im Bu¨ndnis Millionen von Menschen vertreten. Ein effektives AGG wu¨rde, laut Eva Andrades, mehr Partizipation und Fairness in der Gesellschaft ermöglichen und mit der Stärkung der Grundrechte einhergehen. Das Bekenntnis zu einem umfassenden Diskriminierungsschutz sei aber auch ein gesellschaftliches Signal, das internationale Resonanz erzeugt. Es vermittelt die Zuversicht, dass wir uns den Barrieren und Ungleichbehandlungen in unserem Land bewusst sind und durch umfassenden effektiven Rechtsschutz und politische Maßnahmen konsequent dagegen angehen werden.

"Antidiskriminierung praktizieren"

07.08.2023 10:27
Globale Unfairness - heftige Kritik aus dem Süden der Erde
Solange sich ärmere Staaten immer noch wie Bettler fühlen, braucht sich niemand zu wundern, wenn sich der Süden anderswo Bündnispartner sucht als in Europa und den USA. Dazu schreibt Thomas Gebauer in der Frankfurter Rundschau (6.8.23) auf Seite 16:

„Wie der weltweiten sozial-ökologischen Krise begegnen? Was konkret ist zu tun? Fragen, die sich Ende Juni ein „Summit for a New Global Financing Pact“ stellte, zu dem der französische Präsident Emmanuel Macron eingeladen hatte. Gekommen waren zahlreiche Regierungschefs, Vertreter:innen internationaler Organisationen, der Zivilgesellschaft und der Finanzwirtschaft. Zentrales Anliegen des Gipfels war die Verbesserung der globalen Zusammenarbeit, um jene Mittel bereitstellen zu können, die für die Verwirklichung der nachhaltigen Entwicklungsziele, den Klimaschutz und die Armutsbekämpfung dringend benötigt werden.

Für die Bundesregierung betonte Kanzler Olaf Scholz die Bedeutung einer gemeinsamen Verantwortung. Man dürfe die Länder des globalen Südens mit ihren großen Herausforderungen nicht allein lassen.

In seiner Abschlussrede dankte der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa Präsident Macron für die Initiative und würdigte auch die Ideen, die auf den Tisch gekommen waren. Was ihn dennoch zweifeln ließe, seien die negativen Erfahrungen, die man in der Vergangenheit gemacht habe.

„Es gab Zeiten“, so Ramaphosa, „da haben wir uns wie Bettler gefühlt.“ Zuletzt etwa, als es darum ging, die Covid-Pandemie zu bekämpfen. Gerade als der Süden Impfstoffe am nötigsten gebraucht hätte, seien die Märkte von den Ländern des Nordens leer gekauft worden. „Darüber haben wir uns sehr geärgert, aber es kam noch schlimmer, als wir auch in unserem Wunsch gehindert wurden, eigene Impfstoffe herzustellen.“ Höflich vermied es Ramaphosa, die Namen derjenigen zu nennen, die bei den Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) dafür gesorgt hatten, dass es keine Freigabe der Patente gab, nicht einmal für die Dauer der Krise. Müßig zu betonen, dass zu den Blockierern zuvorderst die deutsche Bundesregierung zählte.

Ramaphosa endete seine Rede mit der Frage, was denn wichtiger sei: „Das Leben oder die Profite Eurer großen Pharma-Unternehmen? Was unsere Enttäuschung verstärkt hat, war das Gefühl, dass das Leben in der nördlichen Hemisphäre offenbar wichtiger sei als das im globalen Süden. Das sind die Dinge, die angegangen werden müssen.“

Und solange das nicht geschieht, sollte sich niemand wundern, wenn sich der Süden anderswo Bündnispartner sucht als in Europa und den USA“.

Der Autor war viele Jahre Geschäftsführer von medico international

29.06.2023 10:34
FDP - der lange Arm der Klimawandelverschärfer
Ist die FDP der verlängerte Arm der Klimaleugner, der Blockade-Politik von bestimmten Konzernen und Teilen der Wirtschaft - auf Kosten der künftigen Generationen und eines erdverträglichen Fortschritts unserer Gesellschaft?

Diesen Eindruck kann man gewinnenn, wenn man die folgende Kolumne von Christian Stöcker über „Die heimlichen Einflüsterer der FDP“ im Spiegel am 25.6.2023 liest und die Information zur Kenntnis nimmt. Die FDP-Strategie befördert auch rechte Entwicklungen und den Aufstieg der AFD, hoffentlich nicht absichtlich, zumindest aber töricht und sehr egozentrisch:

„Die FDP versucht in der Ampel jedes relevante Klimaschutzgesetz zu torpedieren, mit erschreckendem Erfolg. Warum? Eine zentrale Rolle spielen radikale Ideologen – und ein libertärer US-Milliardär.

»Es gibt eben keine andere Wahl als die: entweder von isolierten Eingriffen in das Spiel des Marktes abzusehen oder aber die gesamte Leitung der Produktion und der Verteilung an die Obrigkeit übertragen. Entweder Kapitalismus oder Sozialismus; ein Mittelding gibt es eben nicht«. Ludwig von Mises (1929): »Kritik des Interventionismus. Untersuchungen zur Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsideologie der Gegenwart«
»Je politisch einflussreicher Koch Industries wurde, desto mehr betonte es, dass seine Lobbyisten eine ausschließlich ideologische Mission verfolgten. Kochs Lobbyisten und Public Relations Teams erklärten, ihr Ziel sei es nicht, die Profite von Koch Industries zu mehren, sondern nur die Idee von Freiheit und Wohlstand zu verfechten.« Christopher Leonard, »Kochland« (2019)

Der oben zitierte Ludwig von Mises, ein österreichischer Ökonom, war ein Radikaler. Von Mises, der nicht ganz so berühmt wurde wie später sein Schüler Friedrich von Hayek, war der Überzeugung, dass jede Form staatlicher Regulierung mit »Sozialismus« gleichzusetzen sei. Er verabscheute nicht nur die Idee eines Mindestlohns, sondern sogar das Konzept des Kartellrechts: Regulierung zur Verhinderung von Monopolen hätte nur eine »produktivitätsmindernde Wirkung«.

Der reichste und mächtigste lebende Fan Ludwig von Mises und Friedrich von Hayek ist der in Deutschland bis heute kaum bekannte US-Multimilliardär Charles Koch (Laut »Forbes« derzeit 57 Milliarden Dollar schwer). Das Buch »Kochland«, eine Art kombinierte Unternehmens- und Personenbiografie von dem US-Investigativjournalisten Christopher Leonard, ist auf Deutsch leider nie erschienen. Dabei ist es sehr hilfreich, wenn man verstehen will, was in der deutschen Politik gerade passiert.

»Apparat zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung«

Charles Koch verehrte von Mises und von Hayek, Pioniere des libertären Denkens, schon seit den Sechzigerjahren, als er mit seinen Brüdern das Ölgeschäft seines Vaters übernahm. Bald gründete Koch ein Institut zur Verbreitung radikallibertären Gedankenguts, das bis heute zu den einflussreichsten Lobbyorganisationen der USA gehört: das Cato Institute. Damals begann er auch, »einen Apparat zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung zu konstruieren, der in der Geschichte amerikanischer Unternehmen einzigartig sein dürfte«, wie Leonard schreibt.

Koch Industries war schon ab den Siebzigerjahren ein sektenhaft geführtes Unternehmen, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Indoktrinationsseminaren zur Unternehmensphilosophie des »Market based Managements« teilnehmen mussten. Jahrelang hielt Koch diese Seminare selbst. Sein Unternehmen wird vom »Political Economy Research Institute« an der University of Massachusetts gleich in drei Hitlisten geführt : den Top 100 der Firmen, die am meisten zum Klimawandel, am meisten zur Luftverschmutzung und am meisten zur Wasserverschmutzung beitragen. Allein seit dem Jahr 2000 hat Koch Industries über eine Milliarde Dollar an Strafzahlungen leisten müssen, 815 Millionen nur für die Verletzung von Umweltauflagen.

Teure Reisen für wertvolle Richter

Koch ließ schon sehr früh kostspielige Seminarreisen für Richterinnen und Richter organisieren, in deren Verlauf die Eingeladenen auf die Prinzipien eines möglichst unreglementierten Marktes eingeschworen wurden. Charles Koch und sein Bruder David spendeten viel Geld an die sogenannte Federalist Society, eine Vereinigung »konservativer« Richterinnen und Richter, aus deren Kreis die Republikaner in Washington gerne Leute an möglichst hohe Gerichtshöfe berufen. Zu den Leuten, die auf Koch-Kosten auf Reisen gingen gehörte zum Beispiel Clarence Thomas , einer der stramm rechten Richter am Supreme Court, der gerade wieder Ärger wegen teuren Reisen mit Milliardären hat, genau wie sein Supreme-Court-Kollege Samuel Alito . Als der Supreme Court 2022 gegen die US-Umweltbehörde EPA entschied und so deren Möglichkeiten zum Klimaschutz drastisch beschränkte, titelte das Investigativportal »The Intercept «: »Wie Charles Koch sich die EPA-Entscheidung des Supreme Courts kaufte.«

Charles Koch ist aber nicht nur ein Pionier der Methode, mit sehr langem Atem einem selbst gewogene Gerichte zu erzeugen. Er ist auch einer der wichtigsten Finanziers der Lüge, dass es keinen menschengemachten Klimawandel gebe. Es gelang Koch sogar, die um das Jahr 2009 in den USA entstehende »Tea Party«-Bewegung, die eigentlich ganz andere Interessen verfolgte, auf den Kampfschrei »der Klimawandel ist ein Hoax!« einzuschwören. Er nutzte dazu eine üppig finanzierte Pseudo-Graswurzelorganisation namens Americans for Prosperity, die Scharen von Demonstranten und Zwischenrufer mit Sprechzetteln losschickte, um Politiker unter Druck zu setzen.

Hunderte Millionen Dollar für Lobbyismus

Koch hat über die Jahre mindestens Hunderte Millionen Dollar in Desinformation und Lobbyismus gesteckt. »Die effektivste Quelle für Klimawandelleugnung war ein einzelner, entschlossener Libertärer, der glaubte, er schaffe eine bessere Welt«, schrieb »The Daily Beast « vergangenes Jahr über Koch.

Koch Industries verdankt seine immense Größe und seinen Reichtum maßgeblich Öl, Gas, Pipelines, Raffinerien, Tankern. Mittlerweile umfasst das absichtlich intransparente Konglomerat auch Rohstoffhändler, Chemie- und Düngemittelfabriken und anderes. Koch entwickelte schon ab den frühen Neunzigern das Instrumentarium, das noch heute gegen jede wirksame Klimaschutzregulierung in Stellung gebracht wird: Stiftungen, »Thinktanks«, »Bürgerinitiativen« mit undurchsichtigen Geld- und Propagandaquellen und so weiter.

2009 standen die USA kurz vor einer Gesetzesänderung, mit der die Lage der Menschheit heute nicht ganz so verzweifelt wäre. Das sogenannte Waxman-Markey-Gesetz hätte einen CO2-Preis und einen Emissionshandel in den USA eingeführt. Die Gesetzesvorlage schaffte es sogar durch das Repräsentantenhaus, auch mit den Stimmen von acht Republikanern.

Die Lüge als Hilfe beim Selbstbetrug

In diesem Moment setzte Charles Koch seine über Jahrzehnte aufgebaute Einflussoperation aus »Experten«, »Thinktanks«, »Stiftungen«, »Bürgerinitiativen« und natürlich traditionellen Lobbyisten in Marsch. In »Kochland« heißt es, Kochs Ziel sei es gewesen, »die Republikanische Partei neu zu formen und an diesen Abgeordneten ein Exempel zu statuieren«. Das Ergebnis ist die Republikanische Partei von heute. Das Waxman-Markey-Gesetz starb einen stillen Tod, es schaffte es nie in den Senat.

Offenbar reduzierten die hoch bezahlten Koch-Lobbyisten ihre kognitive Dissonanz angesichts ihrer Lügenkampagne mit der einfachsten Methode: Sie überredeten sich selbst, dass es keine menschengemachte Klimakrise gebe. Leonard zitiert aus den Erinnerungen eines ehemaligen Mitglieds der Washingtoner Lobbytruppe: »Die meisten der Anwesenden gaben bekannt, dass sie den Klimawandel für einen ›Hoax‹ hielten. Das war für ihn schwer nachvollziehbar.« Schließlich waren die Anwesenden doch »sehr intelligente« Leute, gut informiert über Kochs gewaltige Emissionen. Aber, »wenn die Erderwärmung nicht real war, dann gab es auch keinen Grund für so ein Gesetz«.

Für Marktradikale wie Charles Koch ist diese Lüge notwendig, damit sie ihr ideologisches System aufrechterhalten können. Die Logik funktioniert folgendermaßen: Märkte regeln alles zum Besten. Ein Eingriff ist höchstens bei sogenannten negativen Externalitäten zulässig, wenn also jemand Schäden verursacht, für die andere oder die Allgemeinheit anschließend aufkommen müssen. Diese Schäden müssen »internalisiert«, also vom Verursacher ausgeglichen werden, sonst herrscht »Marktversagen«.

Und damit zur FDP

Koch entschied sich augenscheinlich dafür, die Billionen Dollar schweren negativen Externalitäten, die CO2 nachweislich schon jetzt verursacht, für nicht existent zu erklären. Und doch verkniff sich Koch bei einem extrem seltenen Interview, das er 2016 der »Washington Post« gab, den Klimawandel nicht selbst explizit zu leugnen. Stattdessen stellte er jede Gegenmaßnahme infrage.

Und damit kommen wir zur FDP von heute. Als die Partei kürzlich das Gebäudeenergiegesetz torpedierte, dem sie selbst vorher bereits zugestimmt hatte, steckte dahinter vor allem ein Mann. Der Abgeordnete Frank Schäffler brachte den entsprechenden Antrag ein, versehen mit einem Feigenblatt: Der Gebäudesektor müsse früher in den Emissionshandel einbezogen werden. Noch auf dem Parteitag kassierte der Parteichef und Finanzminister Lindner diesen Teil des Antrags: Das gehe leider nicht. Das wäre ein Schachzug nach Charles Kochs Geschmack.

Schäffler selbst hat öffentlich zuletzt 2014 die Klimakrise geleugnet , in einem Beitrag fürs »Handelsblatt« (»Ich bin ein Klimaskeptiker«). Der sehr aggressive Text enthält lauter Talking Points, die heute noch gängig sind: »Klimahysterie«, »Schuldkomplex«, »Umerziehungsversuche«. Und sogar einen, mit dem auch Kochs ferngesteuerte Bürgerinitiativen schon fünf Jahre vorher antraten: »die Eisbären werden mehr«. Koch ließ 2009 sogar Leute im Eisbärkostüm bei Kundgebungen auftreten.

Vielfältige Verflechtungen

Die Verbindungen reichen aber weiter. Schäffler tritt beim nach Kochs Vorbild benannten »Ludwig von Mises Institut Deutschland« auf. Das amerikanische Mutterschiff wurde in den frühen Achtzigern von Leuten gegründet, denen Charles Koch libertäre Thinktanks nicht radikal genug waren , kein Witz. Bis 2021 war Schäffler auch Mitglied der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft, der auch ihre eigenen Mitglieder schon 2015 zuvor vorwarfen, »Staatshasser« und »rechte, reaktionäre Kräfte« zu dulden. Einen Tag nach Schäffler, Anfang 2021, trat auch Alice Weidel von der AfD aus der Gesellschaft aus, wegen der »aktuell aufgeheizten Stimmung«. Der Chef-Klimawandelleugner der AfD, Michael Limburg, ist bis heute Mitglied der Gesellschaft und hält dort Vorträge zu Klimathemen. Viele Mitglieder sind bekennende Klimawandelleugner.

Schäffler hat das sogenannte Prometheus-Institut gegründet, dessen Finanziers er nicht transparent machen will. Er verweist zu dieser Frage stets auf »ein paar Familienunternehmen«. Das ist eine interessante Wendung vor dem Hintergrund, dass Schäffler auch »Mitglied des Strategischen Beirats« des Unternehmensverbands »Die Familienunternehmer « ist, einer Organisation, die jede Art von Klimarschutzregulierung erbittert bekämpft .

Der Verband geht nach Angaben mehrerer Betroffener bei der Durchsetzung seiner Interessen auf extrem aggressive Weise vor. Die mittlerweile in der FDP bis hinauf zum Vorsitzenden hoffähige Formulierung, Klimapolitik sei »planwirtschaftlich« stammt aus dem Fundus der »Familienunternehmer« – Charles Koch und Ludwig von Mises hätten an alldem vermutlich ihre helle Freude.
Spender: ExxonMobil, Philip Morris, Koch

Schäfflers Prometheus-Institut gehört zum Atlas Network, benannt nach dem von US-Libertären gefeierten Roman »Atlas Shrugged« von Ayn Rand aus dem Jahr 1957. Zitat aus der »Lobbypedia «: »Zu den Spendern gehören/gehörten ExxonMobil, Philip Morris, die US-Milliardäre Charles G. Koch und David H. Koch.« (David Koch starb 2019, Charles Koch ist heute 87 Jahre alt.)

Atlas-Jahreseinnahmen 2021: über 18 Millionen Dollar. Alle weiteren Verflechtungen aufzuzählen würde hier zu weit führen – zum Beispiel ist einer der Atlas-Geschäftsführer auch für Kochs Cato Institute tätig. Es existiert ein internationales Netzwerk mit dem Ziel, ultralibertäre Zustände zu erreichen und Klimaschutz so weit wie möglich zu verhindern. Bis heute.

Frank Schäffler und seine Verbündeten, die das Gebäudeenergiegesetz mit einer Koch-typischen Strategie zu Fall brachten, stecken mittendrin. Auch der als »Klimareferent« der FDP in Erscheinung tretende Steffen Hentrich vertritt bis heute öffentlich »Klimaskeptiker«-Positionen , trat bei der wiederum gemeinsam mit einem berüchtigten US-Klimawandelleugner bei der mit den Koch-Netzwerken verbandelten Klimawandelleugnerbude EIKE auf. Der hört heute sonst nur noch die AfD zu.

Die Geschichte von Schäfflers Wärmepumpe

Wie Schäffler bis heute operiert, zeigte sich gerade erst wieder, ganz öffentlich. Am 12. Juni twitterte er: »Der Schornsteinfeger war kürzlich bei mir, wenn Sie eine Wärmepumpe einbauen wollen, investieren Sie mit allem Drum und Dran rund 150.000 Euro«. Weniger als zwei Wochen später verriet er bei »Markus Lanz«, dass er gerade eine Wärmepumpe bestellt habe, weil er sie in seinem Neubau »für geeignet gehalten« habe. Ständige Desinformation gehört für Leute wie ihn zum täglichen Geschäft. Wie in den USA.

Und libertäres Gedankengut à la Koch scheint in der FDP von heute auch weiterhin einen festen Platz zu haben. So erklärte Verkehrsminister Volker Wissing kürzlich im »Morgenmagazin« von ARD und ZDF: »2022 waren die Bürgerinnen und Bürger nicht in der Lage, so wenig zu emittieren wie vorgeschrieben.« Es sei schließlich »nicht die Politik, die mit vielen Autos durch die Gegend fährt«. Das ist die radikale Staatsablehnung libertärer Ideologen, vorgetragen von einem Bundesminister: Die Regierung kann nichts tun, die von ihr selbst gesetzten Ziele einzuhalten, das muss die Bevölkerung schon allein hinkriegen.

Interessanterweise gibt es eine Passage aus Friederich von Hayeks Hauptwerk »The Road to Serfdom« von 1944, das sich heute wie ein Plädoyer für harte internationale Klimaregulierung liest. Übersetzt heißt die Passage: »Es muss eine Macht geben, die die unterschiedlichen Nationen davon abhalten kann, ihren Nachbarn zu schaden, ein Regelwerk, was ein Staat tun darf, und eine Autorität, die fähig ist, diese Regeln durchzusetzen.«

Das müssen Leute wie Schäffler und Koch überlesen haben.


Christian Stöcker: Jahrgang 1973, ist Kognitions­psychologe und seit Herbst 2016 Professor an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Dort verantwortet er den Studiengang Digitale Kommunikation. Vorher leitete er das Ressort Netzwelt bei SPIEGEL ONLINE.


01.06.2023 12:13
EU-Parlament stimmt für strenges EU Lieferkettengesetz - für Menschenrechte und Umwelt
Das ist fast nicht zu glauben: Die Regeln sind strenger als ursprünglich geplant. Die Europaabgeordneten haben neue Vorgaben für Unternehmen beim Umgang mit Lieferanten beschlossen. Sie sollen nun auch für kleinere Firmen gelten. Spiegel-Online berichtet am 1.6.2023 wie folgt:

"Das EU-Parlament hat sich für ein verhältnismäßig strenges Lieferkettengesetz ausgesprochen. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte in Brüssel für Vorschriften, die Unternehmen für die Bekämpfung von Kinderarbeit, Ausbeutung und Umweltverschmutzung entlang ihrer weltweiten Lieferketten verantwortlich machen. Die Vorgaben sollen demnach über die im deutschen Lieferkettengesetz vorgesehenen Maßnahmen hinausgehen und etwa auch für den Finanzsektor gelten.

Die neuen Regeln übertreffen in ihrer Strenge vorherige Pläne. Denn ihnen sollen über alle Sektoren hinweg Unternehmen mit Sitz in der EU unterliegen, die mehr als 250 Angestellte und mehr als 40 Millionen Euro Jahresumsatz weltweit haben. Zunächst war das Lieferkettengesetz nur für Firmen ab 500 Beschäftigten und 150 Millionen Euro Umsatz gedacht. Auch Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU sollen sich an das neue Regelwerk halten müssen, wenn sie mehr als 150 Millionen Euro umsetzen und mindestens 40 Millionen Euro davon in der EU.

Die betroffenen Unternehmen sind künftig verpflichtet, negative Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Menschenrechte und Umwelt zu ermitteln »und erforderlichenfalls zu verhindern, zu beenden oder abzumildern«, beschloss das Parlament. Außerdem müssen sie die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards auch bei ihren Partnerunternehmen in der Wertschöpfungskette überwachen. Dazu gehören Lieferanten, Vertriebspartner, Transportunternehmen, Lagerdienstleister oder auch die Abfallwirtschaft.

Die EU-Kommission hatte das Gesetz im vergangenen Februar vorgeschlagen. Die 27 Mitgliedstaaten einigten sich im Dezember auf eine Position, die den Vorschlag der Kommission etwas abschwächen würde. Für die abschließenden Verhandlungen zwischen Mitgliedstaaten und EU-Parlament fehlte noch die Positionierung der Abgeordneten, die nun über die Vorschläge der Kommission hinaus geht. In Deutschland gilt bereits seit Januar ein Lieferkettengesetz, das eventuell an die EU-Vorgaben angepasst werden müsste.
Scharfe Kritik aus der Wirtschaft

Das deutsche und nun entsprechend auch das europäische Gesetzesvorhaben wird von Wirtschaftsvertretern scharf kritisiert. Sie warnen vor überbordender Bürokratie und einer Schwächung europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt.

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) kritisierte, dem Gesetzentwurf fehle es an Praxistauglichkeit, Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit. »Das Lieferkettengesetz bürdet den Unternehmen ein neues und unkalkulierbares Haftungsrisiko auf.« Von ihnen werde eine Kontrolle erwartet, die außerhalb ihrer eigenen Einflussmöglichkeiten liege, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. Lieferketten bestünden oft aus mehreren hundert, teils mehreren tausend Firmen. In der Regel sei einem Betrieb aber nur der direkte Zulieferer bekannt. Kleine und mittlere Unternehmen würden »komplett überfordert« durch die geplanten Richtlinien.

Der Arbeitgeberverband BDA warnt gar vor einer Abwanderung von Unternehmen durch mehr Regulierung. In Krisenzeiten brauchten Unternehmen Flexibilisierung und Spielräume für Innovationen – »und weniger Bürokratie aus Brüssel«, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der Vorschlag des EU-Parlaments zu den Lieferketten bringe mehr Regulierung und keinen zusätzlichen Schutz für Menschenrechte.

Tiemo Wölken, rechtspolitischer Sprecher der Europa-SPD, sieht in dem EU-Gesetz dagegen die Chance, dafür zu sorgen, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen werde, »sondern dass wir dafür sorgen, dass Menschenrechte und Umweltschutz überall auf der Welt gleichermaßen gelten«.

Insbesondere die CDU- und CSU-Delegation im Europaparlament hatte sich bis zuletzt für weniger strenge Vorschriften eingesetzt. Etwa sollten Subunternehmer sowie der Finanzsektor ausgenommen und nur größere Unternehmen betroffen sein. Der CDU-Europaabgeordnete Axel Voss forderte noch am Mittwoch in einer Debatte im Parlament, den bürokratischen Aufwand zu stoppen. Entsprechende Änderungsanträge fanden jedoch keine Mehrheiten.

366 Abgeordnete befürworteten das geplante EU-Lieferkettengesetz, 225 Abgeordnete stimmten dagegen, 38 enthielten sich".

Der Widerstand gegen diese Fassung der Lieferkettengesetzes durch Wirtschaftsverbände im Verbund mit Politikern der konservativen Parteien, allen voran CDU und CSU, war enorm. Um so eindrucksvoller der Entscheid einer starken Mehrheit des EU-Parlaments.

30.05.2023 10:50
Pflegenotstand - Anwerben ausländischer Pflegekräfte ist eine Schande
Der Arzt Dr. Bernd Hontschik ist Chirurg und Publizist. Bis 1991 war er Oberarzt am Klinikum Frankfurt-Höchst, bis 2015 in seiner chirurgischen Praxis in der Frankfurter Innenstadt tätig.

Das Zustand des Gesundheitswesens treibt ihn um. Er nennt das Anwerben von ausländischem Pflegepersonal in der Frankfurter Rundschau (26.5.23) „eine Schande“. Und schreibt weiter:

„Befragungen unter ausgestiegenen Pflegekräften ergaben in letzter Zeit immer wieder, dass die Hälfte von ihnen in ihren angestammten Beruf zurückkehren würde, wenn sie mit verträglichen Arbeitszeiten, Wertschätzung, Respekt und einer angemessenen Vergütung rechnen könnten. Was ist davon verwirklicht worden? Mehr als eine kärgliche Corona-Einmalzahlung für Wenige ist nicht herausgekommen. Ach halt, ich vergaß: Es gab außerdem auch noch sehr viel Beifall, sogar stehende Ovationen der Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Das war’s dann aber auch.

Statt sich mit einer grundsätzlichen Reform und Neuorientierung des Pflegeberufes zu befassen, bleibt das Problem seit Jahrzehnten ungelöst. Daher reist man in arme Länder, macht Werbung für die großartigen Arbeitsbedingungen in Deutschland und beraubt diese Länder ihrer qualifizierten Pflegekräfte. Das ist ein alter Hut, keine neue Idee.

Schon als ich vor über vierzig Jahren als Chirurg im Krankenhaus Höchst gearbeitet habe, kamen als Ergebnis großangelegter Anwerbekampagnen etwa ein Viertel der OP-Schwestern und -Pfleger aus Indonesien. Inzwischen sind sechzehn Gesundheitsminister:innen an mir vorbeigezogen, aber niemand hat sich an die Ursachen gewagt. Im Gegenteil. Inzwischen sind etwa die Hälfte der damals noch 4000 Krankenhäuser geschlossen worden, mehr als 50 000 Stellen im Pflegebereich gestrichen, die Anzahl der stationären Behandlungsfälle stieg um ein Viertel an, und diese Mehrarbeit mit immer weniger Personal führte zu unerträglichem Arbeitsdruck. So sind im Laufe der Zeit etwa 300 000 ausgebildete Pflegekräfte aus ihrem Beruf geflohen.

Unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) flog dessen Staatssekretärin Sabine Weiss zwecks „Anwerbung ausländischer Pflegekräfte“ auf die Philippinen. Auch Spahn selbst war sich nicht zu schade, in Mexiko und dem Kosovo höchstpersönlich Abkommen über die Anwerbung von Pflegekräften abzuschließen. Das nenne ich Pflegeimperialismus. Die Bundesagentur für Arbeit nennt dieses Programm aber ungeniert „Triple Win“ und ist damit unter anderem in Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Indien, Philippinen, Tunesien, Mexiko und Brasilien unterwegs: Das Herkunftsland gibt arbeitslose Kräfte ab, Deutschland besetzt freie Stellen, die Betroffenen lernen Deutsch und verdienen hiesige Löhne.

Man könnte das Ganze aber auch als „Triple-Lose“ bezeichnen: Das Herkunftsland verliert seine gut ausgebildeten jungen Menschen, in Deutschland erfüllen sie die Funktion von Lohndrückern, und die Betroffenen erhalten häufig skandalöse Arbeitsverträge, ja sie müssen sogar nicht selten „Anwerbekosten“ von mehreren tausend Euro bezahlen, falls sie – desillusioniert – kündigen wollen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Und nun – man glaubt es kaum – werden Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Juni nach Brasilien reisen, um wieder Pflegekräfte „anzuwerben“. Heil berichtet schon von solchen Absprachen mit Indonesien und Mexiko. Auch Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) steht nicht zurück und hat sich im Februar zusammen mit ihm in Westafrika nach Pflegepersonal umgetan, besonders in Ghana.

Der lächerliche Applaus, die schlechten Arbeitsbedingungen und der verzweifelte Versuch, anderen Ländern qualifizierte Arbeitskräfte wegzunehmen, werden die Probleme im Pflegebereich nicht lösen. Auf diese Katastrophe ist man sehenden Auges und untätig zugesteuert, und die Prognosen sind derart furchterregend, dass die Pflege zu einer Schicksalsfrage der Nation werden wird. Längst hätte es eine nationale Ausbildungsinitiative geben müssen, hätten Krankenhäuser und Pflegeheime mit ausreichenden finanziellen Mitteln zur Einrichtung von Schulen für Pflegekräfte ausgestattet werden müssen. Längst hätte man mit dem Ausbau der universitären Pflegestudiengänge die Attraktivität und Akzeptanz dieses Berufes erhöhen können. Längst hätten Karrierechancen in der Pflege geschaffen werden müssen, endlich verbunden mit einer angemessenen Bezahlung sowie lebens- und familienfreundlichen Arbeitszeiten.

Am wichtigsten aber wäre es, endlich die Privatisierung zu stoppen, auf allen Ebenen, in den Krankenhäusern, in der ambulanten Medizin der „Versorgungszentren“ und in den Pflegeheimen. Für die Arbeitshetze in der Pflege und im ärztlichen Bereich ist in erster Linie der Zwang zur Profitmaximierung, zu möglichst hohen Renditen für Aktionärinnen und Aktionäre verantwortlich. Pflege, Fürsorge und gute Medizin ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Das ist der Grund für den Exodus der Pflegekräfte, von dem inzwischen auch Ärztinnen und Ärzte massiv erfasst werden. Es wird nichts von selbst besser. Das Gesundheitswesen muss gemeinnützig und Teil staatlicher Daseinsvorsorge sein“.

10.05.2023 10:45
Vermittlungsausschuss schwächt Schadensersatzanspruch für Whistleblower
Bund und Länder haben sich im Vermittlungsausschuss auf ein Hinweisgeberschutzgesetz und die damit verbundene, längst überfällige nationale Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie geeinigt. An einigen inhaltlichen Punkten stellt der Kompromiss im Vergleich zum Koalitionsentwurf leider eine Verschlechterung für Whistleblower dar.

Whistleblower weisen auf Missstände und Fehlentwicklungen hin und ermöglichen so frühzeitig Abhilfe. Sie selbst zahlen dafür oft einen hohen Preis und sind schwerwiegenden Repressalien wie Mobbing ausgesetzt. Repressalien, die gravierende und langanhaltende Auswirkungen auf ihr Leben haben, deren Schaden aber aus juristischer Sicht meist von immaterieller Natur ist.

Die EU-Whistleblowing-Richtlinie und der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen (§ 37) haben daher zurecht ein Schmerzensgeld für „immaterielle Schäden“ vorgesehen. Dieser Entschädigungsanspruch ist dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss zum Opfer gefallen.
„Die Streichung des immateriellen Schadensersatzanspruches kann gravierende Auswirkungen für Whistleblower haben. Damit fällt ein Schmerzensgeldanspruch für sehr viele Repressalien, von denen Whistleblower betroffen sind, weg. Zudem wird gegen europäische Vorgaben verstoßen, obwohl gegen Deutschland bereits jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig ist““, kritisiert Dr. Simon Gerdemann, Leiter eines DFG-geförderten Forschungsprojekts zum Whistleblowing-Recht.

Wie zu erwarten war, konnten CDU/CSU im Vermittlungsausschuss weitere Änderungen zum Nachteil von Whistleblowern durchsetzen:
- Die Anpassungen beim Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung (§ 7) sehen vor, dass sich Whistleblower bevorzugt an eine (organisations-)interne Stellen wenden „sollten“. Dies könnte auf Whistleblower wie eine Abschwächung der von der EU-Richtlinie zwingend vorgesehenen Gleichrangigkeit von internem und externem Whistleblowing wirken. Studien und Erfahrungen belegen, dass sich Whistleblower an eine interne Stelle wenden, wenn sie das Gefühl haben, den Ansprechpartner*innen vertrauen und auf diesem Weg Veränderungen bewirken zu können. Eine Gleichrangigkeit der Meldewege schafft einen Anreiz für gutaufgestellte interne Hinweisgebersysteme und eine whistleblower-freundliche Organisationskultur.
- Die Einrichtung anonymer Meldekanäle ist nicht mehr verpflichtend. Die Pflicht anonymen Meldungen nachzugehen, wird zu einer „Sollte“-Bestimmung abgeschwächt. Anonyme Meldekanäle ermöglichen es Whistleblowern, Vertrauen zur Anlaufstelle aufzubauen, bevor sie ihre Identität preisgeben, und ermutigen sie so zu Meldungen. Systematische Befragungen von Unternehmen haben ergeben, dass die Einführung anonymer Hinweisgeberkanäle keinesfalls Denunziantentum fördert. Der Nutzen anonymer Hinweisgeberkanäle überwiegt die (überschaubaren) Kosten bei weitem.
„Der Kompromiss zeigt, dass es bei den Unionsparteien und Teilen der Wirtschaft nach wie vor große Vorbehalte gegen Whistleblower gibt, obwohl diese im Interesse von Gesellschaft und Wirtschaft handeln“, so der Geschäftsführer von Whistleblower-Netzwerk, Kosmas Zittel. „Erfreulicherweise hat sich wenigstens die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit einer Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs keinem gedient gewesen wäre.“

Der sachliche Anwendungsbereich beinhaltet nach wie vor Hinweise zu Straftatbeständen und bestimmten Ordnungswidrigkeiten. Die von CDU/CSU geforderte Beschränkung des Anwendungsbereichs auf möglichst wenige Rechtsbereiche hätte deutlich mehr Aufwand für Unternehmen und Behörden zur Folge gehabt. Nach Eingang einer Meldung hätte jedes Mal geprüft werden müssen, ob der Verstoß in den Anwendungsbereich fällt oder nicht. Eine Abgrenzung, die bereits erfahrenen Jurist*innen in vielen Fällen schwer gefallen und für juristische Laien, wie die meisten Whistleblower, fast unmöglich gewesen wäre. Dies hätte zu Rechtsunsicherheit geführt und Whistleblower abgeschreckt.

Bedauerlicherweise hat der Gesetzgeber diese wahrscheinlich letzte Chance nicht genutzt, die Mängel des Gesetzentwurfes zu beheben. Whistleblower-Netzwerk bemängelt u.a. die restriktiven Vorgaben für Offenlegungen gegenüber den Medien und die weitgehenden Ausnahmen für Whistleblower aus dem Geheimschutzbereich. Außerdem fordert WBN eine Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs auf sonstiges erhebliches Fehlverhalten oder Missstände unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße (s. Pressemitteilung mit Reporter Ohne Grenzen).

Weitere Informationen
• Bundesrats-Pressemitteilung zur Einigung im Vermittlungsausschuss (09.05.2023)
• Gesetzesbeschluss des Bundestags (16.12.2022)
• WBN-Pressemitteilung und Stellungnahme für die zweite öffentliche Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses (27.03.2023)
• WBN-Pressemitteilung zur ersten Lesung des Bundestags (15.03.2023)
• WBN-Pressemitteilung zum Bundestagsbeschluss (16.12.2022)
• WBN-Pressemitteilung zur ersten öffentlichen Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses (19.10.2022)
• Podcast-Interviews zum Regierungsentwurf

03.04.2023 10:05
Autobahnpläne der Bundesregierung ein Desaster
Die Prüfer des Bundesrechnungshofes gehen mit den Reformideen des Finanz- und Verkehrsministerium für die bundeseigene Autobahn GmbH hart ins Gericht. Sie sehen die Kontrollrechte des Bundestags in Gefahr. Der Spiegel (13/2023, S. 62) berichtet am 24.3.23:

„Die von Finanz- und Verkehrsministerium geplante Änderung des Gesellschaftsvertrags der bundeseigenen Autobahn GmbH stößt auf heftige Kritik des Bundesrechnungshofs (BRH). Die Prüfer aus Bonn nehmen in einem aktuellen Gutachten Anstoß daran, dass die Mitwirkungsrechte des Aufsichtsrats beschnitten, die Befugnisse der Geschäftsführung im Gegenzug gestärkt werden sollen.

»Einzelne Zustimmungsvorbehalte, wie zum Beispiel zum Erwerb von Unternehmen sowie zu Abfindungen bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, sollen künftig ganz entfallen«, kritisiert das Gutachten, das dem SPIEGEL vorliegt. Die BRH-Experten bemängeln zudem, dass die Pläne des inhaltlich zuständigen Verkehrsministeriums darauf hinauslaufen, die Kontrollrechte des Bundestags ein­zuschränken.

Auch wollen sich die Prüfer nicht damit abfinden, dass sie künftig nicht mehr dafür zuständig sein sollen, die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der Autobahngesellschaft zu untersuchen. Sie sehen die Gefahr, »dass die präventive Kontrolle der Autobahn GmbH schwindet«.

Den Haushaltsausschuss fordert der BRH auf, die geplanten Änderungen abzulehnen, solange das Verkehrsministerium »nicht in jedem einzelnen Punkt überzeugend darlegt, weshalb sein Vorschlag im Interesse des Bundes ist«. Stattdessen empfehlen die Rechnungsprüfer, »die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten des Bundes auf die Autobahn GmbH eher zu stärken«.

Gigantische Fehlkonstruktion

Die haushaltspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Gesine Lötzsch, bestärkt das Gutachten in ihrer Auffassung, dass die Autobahn GmbH »eine gigantische Fehl­konstruktion« sei. Sie koste ein Vermögen. »Schon jetzt ist für den Bundestag nicht nachvollziehbar, wie diese Firma ar­beitet«, sagt sie.

Besonders pikant sei, dass Zustimmungen zu Abfindungen bei Beendigung von Verträgen ganz entfallen sollen. »Da arbeiten wohl schon einige Manager an ihren eigenen Abfindungen.« Die Autobahn GmbH brauche mehr Kontrolle, nicht weniger.

Die Gesellschaft verwaltet im Auftrag des Bundes das mehr als 13.000 Kilometer umfassende Autobahnnetz in Deutschland. Von ihrer Gründung versprach sich die Politik Effizienzgewinne bei Verwaltung, Planung und Bau der Autobahnen“.

16.03.2023 10:35
Deutschland unternimmt nicht genug gegen Korruption
Nach Ansicht des Europarats tut Deutschland noch nicht genug gegen Korruption. Nur eine von vierzehn Empfehlungen des Anti-Korruptions-Gremiums Greco aus dem Jahr 2020 sei zufriedenstellend umgesetzt worden, kritisierte die Staatengruppe. Lobend erwähnt wurde das Lobbyregister des Bundestags.

Das Gremium hatte beispielsweise empfohlen, Gesetzgebungsverfahren transparenter zu gestalten und Einflüsse von Lobbyisten deutlicher zu machen. Dies sei nicht umgesetzt worden, hieß es. Bedauernswert sei auch, dass es immer noch keine schärferen Regeln für den Wechsel von Politikern in die Privatwirtschaft gebe, beispielsweise längere Karenzzeiten. Auch sei mehr Transparenz in Bezug auf finanzielle Interessen der Bundesministerinnen und -minister wünschenswert.

Nach einer Auswertung der Bürgerbewegung Finanzwende ist keine andere Branche unter den 100 finanzstärksten Lobbyakteuren so stark vertreten wie die Finanzbranche.
Lob gab es für die Einführung des Lobbyregisters im Bundestag, allerdings müsste es noch mehr Informationen über den Zweck von Kontakten mit Lobbyisten geben.

Transparency erhofft von Ampel-Koalition schärfere Lobbyregeln

Der Europarat mit Sitz im französischen Straßburg ist für den Schutz der Menschenrechte zuständig. Er ist kein Organ der Europäischen Union. Die Staatengruppe gegen Korruption wurde 1999 gegründet und zählt insgesamt 50 Mitgliedstaaten, deren Engagement im Kampf gegen Korruption sie in regelmäßigen Abständen beurteilen. Greco wird die deutsche Umsetzung der Empfehlungen 2024 bewerten.

RND/dpa

25.01.2023 10:52
Lieferkettengesetz in der Krise durch Lobbyisten der Wirtschaft
Wirtschaftsverbände wollen mit aller Macht ein starkes EU-Lieferkettengesetz verhindern. Bei der Bundesregierung und deutschen Abgeordneten im Europa-Parlament finden sie dabei Gehör. Die übernehmen Forderungen der Lobbyisten sogar wörtlich, wie eine Analyse von Misereor und des Global Policy Forum zeigt. Die Frankfurter Rundschau berichtet:

Einen regelrechten Lobbysturm haben deutsche Wirtschaftsverbände gegen das geplante EU-Lieferkettengesetz entfacht. Mit Erfolg – wie eine Analyse des Global Policy Forum (GPF) und des Hilfswerkes Misereor belegt. Dass der EU-Rat eine deutliche Entschärfung des Kommissionsvorschlages zu menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten verfolgt, geht demnach vor allem auf das Konto der Bundesregierung. Vorausgegangen waren massive Interventionen von Wirtschaftsverbänden, wie Dokumente belegen, die jetzt nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) zugänglich wurden.

Im Februar 2022 hatte die EU-Kommission einen Vorschlag für eine Richtlinie präsentiert. Sie soll europäische Unternehmen verpflichten, Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden in ihren Wertschöpfungsketten vorzubeugen, und Opfern eine Chance auf Schadensersatz ermöglichen. Die Vorlage der Kommission geht dabei in mehreren Punkten über das seit diesem Januar geltende deutsche Lieferkettengesetz (LKSG) hinaus – zum Missfallen der Wirtschaftslobby.

Lobbyisten sprechen mindestens dreimal im Ministerium vor

In einem Brief vom 11. April vergangenen Jahres baten hochrangige Vertreter:innen der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) daher Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) „nachdrücklich, unsere Bedenken bei der Positionierung zum Richtlinienentwurf der Kommission zu berücksichtigen und für den Ansatz des deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes zu werben“.

Dabei blieb es nicht – zusätzlichen Nachdruck verliehen Repräsentant:innen von BDI, der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) sowie der IHK Stuttgart ihrem Anliegen im Frühjahr 2022 bei mindestens drei Treffen mit Staatssekretär:innen aus dem Hause Buschmann.

Positionen, die dann offenbar in eine interne „Weisung“ zur deutschen Positionierung in den Ratsverhandlungen eingingen. Denn anders als die EU-Kommission wollen die Mitgliedstaaten nicht alle Stufen der Wertschöpfung menschenrechtlich betrachten, sondern nur eine sogenannte Aktivitätskette in den Blick nehmen. Außen vor blieben dann zum Beispiel Finanzinvestitionen, Waffenexporte oder die Verwendung von Produkten – also beispielsweise der Einsatz giftiger Pestizide.

Wie die Kommission will der Rat zwar Unternehmen verpflichten, Klimaschutzpläne aufzustellen. Die Mitgliedstaaten lehnen aber Sanktionen ab, sollten Firmen ihre Klimaziele nicht einhalten. Auch der von der Kommission verfolgte Ansatz, die Vergütung von Vorständinnen und Vorständen an der Nachhaltigkeit eines Unternehmens auszurichten, findet sich im Ratsbeschluss nicht wieder.

Forderung nach einer „Safe Harbour“-Regelung für Unternehmen

Für Misereor und das GPF sind das „Verwässerungen“, die zu großen Teilen auf die Bundesregierung zurückgehen. Welche Rolle die Wirtschaftsverbände dabei spielten, zeigen Recherchen des Investigativmagazins Correctiv. Demnach gab es zur Weisung vom 2. September 2022 eine Vorgängerversion, die vom 26. Juli des Jahres datiert. Darin hätten die drei Bundesministerien für Wirtschaft, für Arbeit und Soziales sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung eine viel ambitioniertere Positionierung für die Verhandlung unter den EU-Mitgliedstaaten formuliert.

Erst als Justizminister Buschmann intervenierte und mehrere „Leitungsvorbehalte“ einlegte, wurde die Weisung den Forderungen der Wirtschaft angepasst. Eingang fand dann auch die Forderung nach einer „Safe Harbour“-Regelung für Unternehmen, die bestimmte Zertifizierungen nutzen oder Branchenstandards umsetzen. Eine solche Bestimmung hätte zur Folge, das Unternehmen nur für Schäden haftbar zu machen sind, die sie vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht haben. Diese Tatbestände seien für Opfer ohne Zugang zu unternehmensinternen Unterlagen aber kaum zu belegen, schreiben Karolin Seitz (GPF) und Armin Paasch (Misereor) in ihrer Analyse.

Mit der „Safe Harbour“-Forderung kam die deutsche Seite in den Verhandlungen der Mitgliedstaaten allerdings nicht durch. Die Bundesregierung widersprach dem Ratsbeschluss zwar nicht, kündigte aber in einer Protokollerklärung an, einer Richtlinie ohne „Safe Harbour“-Regelung letztlich nicht zuzustimmen.

Auch im EU-Parlament lässt die Industrielobby nichts unversucht, ein starkes Lieferkettengesetz zu verhindern. Vor allem bei Vertreter:innen der Union und der Europäischen Volkspartei (EVP) finden die Verbände dabei offene Ohren. Noch im März 2021 hatte das EU-Parlament mit den Stimmen der Unionsabgeordneten einen detaillierten Vorschlag für ein EU-Lieferkettengesetz verabschiedet, der noch deutlich schärfer als die Kommissionsvorlage ausfiel.
Minister Buschmann lehnt Treffen mit der Initiative Lieferkettengesetz ab

„Doch der Wind hat sich gedreht“, stellen Paasch und Seitz fest. Im federführenden Rechtsausschuss des EU-Parlaments brachten EVP-Schattenberichterstatter Axel Voss (CDU) und weitere Abgeordnete im November vergangenen Jahres Forderungen ein, „die den Kommissionsvorschlag vollständig entkernen würden“, so die Analyse von GPF und Misereor. Auch soll das Gesetz dem Willen der EVP-Leute nach nur bei Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten greifen und erst von 2033 an gelten. Voss hatte sich zuvor nachweislich 25-mal mit Wirtschaftsvertreter:innen wegen des Lieferkettengesetzes getroffen.

Die Wirtschaft in Zeiten der Krise

Frappierend ist, dass EVP-Mann Voss seine Forderungen offensichtlich zu weiten Teilen aus Positionspapieren und Briefen von Wirtschaftsverbänden übernommen hat, wie eine Gegenüberstellung der Texte zeigt. „Teilweise sogar durch schlichtes Copy and Paste“, heißt es in der Studie von Misereor und GPF.

Grundsätzlich sei es nicht verwerflich, wenn Regierungsvertreterinnen und Abgeordnete sich Anliegen und Positionen von Unternehmen anhörten, so Seitz und Paasch. „Wichtig aber ist, dass diese Perspektive nur eine von mehreren ist.“ Daran kann aber angesichts der dokumentierten Interventionen gezweifelt werden. Während Wirtschaftsleute im Frühjahr 2022 mindestens dreimal im Justizministerium empfangen wurden, lehnte Minister Buschmann eine Gesprächsanfrage der Initiative Lieferkettengesetz nach deren Angaben ab.

17.12.2022 15:01
Deutscher Bundestag verabschiedet Hinweisgeberschutzgesetz - anonymes Melden möglich
Der Bundestag hat am Freitag, den 16.12.22 in der letzten Sitzung des Jahres das deutsche Hinweisgeberschutzgesetz verabschiedet und damit die EU-Whistleblower-Richtlinie (EU-Direktive 2019/1937) umgesetzt. Besonders erfreulich, dass beim Schutz der Whistleblower nochmals nachgebessert wurde: Meldestellen müssen nun auch anonymen Hinweisen nachgehen und Vorkehrungen treffen, um eine anonyme Kommunikation mit den meldenden Personen zu ermöglichen. Doch was oft vergessen oder absichtlich übersehen wird: interne Hinweisgeber werden oft intern unfair attackiert, also gemobbt. Ein Thema, das beim Thema Mobbing nicht selten mitschwingt und einen Teil der Fairness-Beratung der Fairness-Stiftung auch jenseits juristischer Aspekte ausmacht - dabei spielen emotionale, soziale, psychologische und strategische Elemente eine Rolle: "Fairness-Beratung"

Deutschland hat als 14. EU-Staat die EU-Richtlinie in nationales Recht umsetzt, nachdem in der letzten Woche auch Belgien und Italien diesen Schritt vollzogen haben. Dass nun auch anonyme Meldungen ermöglicht werden müssen, verbessert das Gesetz deutlich. Das erhöht zwar auch die Anforderungen an die Unternehmen, ist aber durchaus leistbar.

Unternehmen, Behörden und Kommunen müssen Meldekanäle einrichten

Für die 17.000 Unternehmen in Deutschland ab 250 Beschäftigten, aber auch öffentliche Einrichtungen und Gemeinden ab 10.000 Einwohnern besteht damit dringender Handlungsbedarf, einen Meldekanal einzurichten. Als Best Practice haben sich hier digitale Hinweisgebersysteme etabliert, da nur diese alle Anforderungen an eine sichere, anonyme und DSGVO-konforme Kommunikation erfüllen. Diese Tools können, wie es der Gesetzgeber vor allem für internationale Konzerne empfiehlt, in mehreren Sprachen aufgesetzt werden und automatisieren auch die vorgeschriebenen Prozesse für die Empfangsbestätigung und die Rückmeldung an die Hinweisgebenden.

Die Antikorruptionsorganisation Transparency Deutschland begrüßt dies sehr, obwohl das beschlossene Gesetz nicht weit genug geht. Dazu erklärt Dr. Sebastian Oelrich, Leiter der Arbeitsgruppe Hinweisgeber von Transparency Deutschland:

„Unser jahrelanger Einsatz für einen gesetzlichen Schutz von Hinweisgebenden zahlt sich heute aus. Menschen, die auf Korruption und andere Missstände hinweisen, stehen derzeit oft im Regen, weil sie ihren Job verlieren, drangsaliert oder sogar juristisch verfolgt werden können. Künftig bekommen diese Hinweisgebenden endlich einen rechtlichen Schutzschirm vor Repressalien sowie Möglichkeiten, ihre Hinweise in und außerhalb von Unternehmen sicher abzugeben.

Unternehmen und Behörden müssen neben der verpflichtenden Einrichtung von Meldestellen nun anonyme Meldewege einführen. Das ist entscheidend, da dadurch die Hemmschwelle zum Melden von Problemen deutlich sinkt. Das zeigt die Erfahrung vieler Unternehmen, die bereits heute teils anonyme Meldewege haben. Fast jeder große Skandal wurde von zunächst anonymen Hinweisgebenden gemeldet. Wir begrüßen sehr, dass die zuständigen Abgeordneten sich in den letzten Monaten intensiv bemüht und unsere Hinweise in der Anhörung zum Teil aufgegriffen haben. Das Gesetz ist jetzt besser als der ursprüngliche Entwurf der Bundesregierung, denn dieser sah vor, dass anonyme Hinweise gar nicht oder nur nachranging ermöglicht und bearbeitet werden sollten.

Gleichzeitig hätte der Schutz von Hinweisgebenden noch deutlich umfassender und besser ausfallen können. In bestimmten Bereichen ist es für potentielle Hinweisgebende schwierig zu beurteilen, ob sie geschützt sind oder nicht. Das liegt daran, dass der Anwendungsbereich des Gesetzes begrenzt und komplex ist. Aus unserer Sicht sollte das Gesetz für sämtliche Rechtsverstöße und sonstiges Fehlverhalten gelten, dessen Meldung oder Offenlegung im öffentlichen Interesse liegt.

Das gilt insbesondere für den Bereich der nationalen Sicherheit und sogenannte Verschlusssachen, die im Gesetz fast vollständig ausgenommen sind. Dabei wissen wir aus der Vergangenheit, dass gerade dort Hinweisgebende für die Aufdeckung großer Missstände besonders wichtig sind und dafür einen besonderen Schutz brauchen.

Auch fehlt es weiterhin an notwendigen Hilfs- und Beratungsangeboten oder einem Schutzfonds für (potentielle) Hinweisgebende. Hier wird weiterhin verkannt, was für ein einschneidendes Ereignis und hohes Risiko eine Hinweisgabe für viele Personen darstellt. Hinweisgebende werden hier leider weiterhin allein gelassen.”

Zum Hintergrund

Korruption erfolgt verdeckt. Korruption wird weniger durch Prüfungshandlungen als durch Hinweisgeber aufgedeckt, die internes Wissen offenbaren und sich damit dem Risiko aussetzen, wegen ihres Handelns benachteiligt zu werden. Die Etablierung von Schutzmechanismen gegen Benachteiligungen würde die Bereitschaft potentieller Hinweisgeber, ihr Wissen zu offenbaren, deutlich erhöhen. Effiziente Korruptionsprävention in Organisationen und Unternehmen, im öffentlichen und privaten Sektor erfordert daher den Schutz der Personen, die durch ihre Hinweise Korruption aufdecken und so die Verfolgung von Korruptionstaten ermöglichen.

Der Begriff "Whistleblowing" hat – aus den USA kommend – inzwischen auch Einzug in Europa gehalten. In Deutschland wird der Begriff "Hinweisgeber" leider noch zu oft mit dem Stigma des Denunzianten belegt. Gleichwohl gibt es in Deutschland inzwischen eine Vielzahl von Hinweisgebersystemen. Länder, Kommunen, Städte und vor allem Unternehmen der Wirtschaft und des öffentlichen Sektors haben interne oder externe Stellen eingerichtet, um Menschen zu ermutigen, Hinweise auf schwerwiegendes Fehlverhalten oder gravierende Missstände zu geben.

Es gibt viele Definitionen für den Begriff des Whistleblowers oder Hinweisgebers. Transparency International Deutschland e.V. verwendet diese Definition:

„Hinweisgeber ist, wer Informationen über wahrgenommenes Fehlverhalten in einer Organisation oder das Risiko eines solchen Verhaltens gegenüber Personen oder Stellen offenlegt, von denen angenommen werden kann, dass diese in der Lage sind, Abhilfe zu schaffen oder sonst angemessen darauf zu reagieren.“

Hinweisgeber sind in Deutschland nur in spezifischen Situationen geschützt, für die Mehrzahl der Beschäftigten ist der Schutz unzureichend. Hinreichend geschützt sind Beschäftige in Unternehmen oder Organisationen, die über ein System verfügen, das Vertraulichkeit gewährleistet (Ombudsanwalt, Vertrauensanwalt, nicht rückverfolgbares internetbasiertes System).

Nicht ausreichend geschützt sind vor allem Personen, die – zum Beispiel mangels einer internen Möglichkeit – einen Hinweis außerhalb ihrer Organisation platzieren wollen, sei es bei einer Behörde oder den Medien. Für dieses externe Whistleblowing gibt es in Deutschland keine klaren Regeln. Es gibt nur die schwer einschätzbare Rechtsprechung der Arbeitsgerichte im jeweiligen Einzelfall, für die der Schutz von Geheimnissen und die Treuepflicht des Arbeitnehmers (oft zu) hohe Bedeutung haben. Aufgrund dieser Rechtsunsicherheit werden Personen davon abgehalten, Missstände gegenüber Stellen aufzudecken, die Abhilfe schaffen oder – wie bei Rechtsverstößen die Ermittlungsbehörden – sonst angemessen darauf reagieren könnten.

"Was ist ein Whistleblower?"

"Wer ist ein Risk-Messenger?"

"Unfaire Geschäftspraktiken und Beschwerdestellen"

"Whistleblower-Netzwerk mit Info und Beratung"

28.11.2022 12:32
Julian Assange - offener Brief von New York Times, Guardian, Le Monde, SPIEGEL und El País
Journalismus ist kein Verbrechen

Die Chefredakteure und Herausgeber von New York Times, Guardian, Le Monde, SPIEGEL und El País haben sich an die US-Regierung gewandt. Die US-Regierung sollte die Verfolgung von Julian Assange wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente einstellen.

„Heute vor zwölf Jahren, am 28. November 2010, haben unsere fünf Redaktionen in Zusammenarbeit mit WikiLeaks eine Serie von Enthüllungsgeschichten veröffentlicht, die weltweit Schlagzeilen machten. Die diplomatischen Depeschen, eine Sammlung von 251.000 vertraulichen Nachrichten des US-Außenministeriums, entlarvten Korruption, diplomatische Skandale und Spionageaffären von internationalem Ausmaß. In den Worten der »New York Times« zeigten die Dokumente »ungeschönt, wie die US-Regierung ihre wichtigsten Entscheidungen trifft, Entscheidungen, die das Land viele Menschenleben und viel Geld kosten«. Und noch immer veröffentlichen Journalisten und Historiker neue Enthüllungen, die auf diesem einzigartigen Dokumentenschatz basieren.

Für Julian Assange, den Herausgeber von WikiLeaks, hatten diese Veröffentlichungen und andere damit zusammenhängende Leaks jedoch gravierende Folgen. Am 12. April 2019 wurde Assange aufgrund eines US-amerikanischen Haftbefehls in London festgenommen. Er sitzt seit rund dreieinhalb Jahren in einem britischen Hochsicherheitsgefängnis, in dem ansonsten Terroristen oder Mitglieder des organisierten Verbrechens eingesperrt werden. Ihm droht die Auslieferung an die USA und eine Haftstrafe von bis zu 175 Jahren in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis.

Unsere Redaktionen, die damals mit WikiLeaks zusammenarbeiteten, entschieden sich 2011, Assanges Verhalten öffentlich zu kritisieren, als die Dokumente im Original, ohne journalistische Bearbeitung an die Öffentlichkeit gelangten. Und einige von uns haben mit Sorge die Vorwürfe in der Anklage zur Kenntnis genommen, denen zufolge Assange dabei geholfen haben soll, in einen Computer mit Zugang zu einer geheimen Datenbank einzudringen. Aber heute äußern wir uns gemeinsam, weil wir zutiefst besorgt darüber sind, dass Julian Assange noch immer verfolgt wird, weil er geheimes Material beschafft und veröffentlicht hat.

Die Regierung von Barack Obama und Joe Biden, die während der WikiLeaks-Veröffentlichungen 2010 im Amt war, hatte es abgelehnt, Assange anzuklagen, weil dann auch Journalistinnen und Journalisten der großen Medien hätten angeklagt werden müssen. Ihre Wertschätzung der Pressefreiheit überwog, selbst in einem Fall, in dem die Konsequenzen schmerzhaft waren. Unter Donald Trump änderte sich diese Haltung jedoch. Das US-Justizministerium nutzte das alte Anti-Spionage-Gesetz von 1917, einst gedacht für die Verurteilung von Spionen während des Ersten Weltkriegs. Es wurde nie zuvor angewendet, um einen Herausgeber oder Journalisten vor Gericht zu stellen.

Die Anklage gegen Assange ist ein gefährlicher Präzedenzfall und ein Angriff auf die Pressefreiheit.

Es zählt zu den Kernaufgaben von Journalistinnen und Journalisten in demokratischen Staaten, Fehler von Regierungen zu kritisieren. Sensible Informationen zu beschaffen und zu publizieren, wenn das im öffentlichen Interesse liegt, ist Teil unserer täglichen Arbeit. Wer diese Arbeit kriminalisiert, schwächt den öffentlichen Diskurs und damit die Demokratie.
Zwölf Jahre nach den Botschaftsdepeschen ist es an der Zeit für die US-Regierung, die Verfolgung von Julian Assange wegen der Veröffentlichung geheimer Dokumente einzustellen. Denn Journalismus ist kein Verbrechen“.

10.11.2022 08:45
17 Fachleute legen Empfehlungen gegen Greenwashing vor
UN-Chef prangert Ölkonzerne wegen schöngefärbter Klimabilanzen an
UN-Generalsekretär António Guterres hat Konzerne der Öl- und Kohleindustrie kritisiert, dass manche von ihnen ihre eigentlich verheerenden Klimabilanzen bewusst schönfärben. Unlautere Selbstverpflichtungen zum Netto-Null-Ausstoß an Treibhausgasen, die aber Kernprodukte nicht erfassen, "vergiften unseren Planeten", sagte er am 8. November laut Redetext auf der Weltklimakonferenz in Ägypten. Firmen müssten sich alle klimaschädlichen Emissionen vollständig anrechnen, also direkte, indirekte und auch jene aus ihren Lieferketten.

Falsche Versprechen zur Klimaneutralität seien verabscheuungswürdig. "Das ist reinster Betrug", wetterte Guterres. Solche Schummeleien könnten die Welt über die "Klima-Klippe stoßen". "Netto-Null-Emissionen" bedeutet, nur noch so viele Kohlendioxid-Emissionen zu verursachen, wie kompensiert werden können - also etwa durch die unterirdische Speicherung von CO2 oder Aufforstungen.

Den Basisprospekt sowie die Endgültigen Bedingungen und die Basisinformationsblätter erhalten Sie bei Klick auf das Disclaimer Dokument. Beachten Sie auch die weiteren Hinweise zu dieser Werbung.

Vor einem Jahr auf der UN-Klimakonferenz hatte Guterres einen Expertenrat damit beauftragt, Standards und Richtlinien für Klimaschutzversprechen zu erarbeiten, um "Greenwashing" von Staaten und Unternehmen einzudämmen. Mit Greenwashing sind Strategien gemeint, mit denen sich Unternehmen oder Staaten wahrheitswidrig als besonders umweltfreundlich darstellen.

Die 17 Fachleute legten in Ägypten nun Empfehlungen vor. Unter anderem schlagen sie vor, dass speziell große Unternehmen jährlich detailliert über ihre Fortschritte beim Klimaschutz berichten.

Die Vorsitzende des Gremiums, die frühere kanadische Umweltministerin Catherine McKenna, sagte, Klimaschutzversprechen der Industrie, des Finanzsektors und auch von Städten und Regionen müssten "ehrgeizig, transparent und glaubwürdig" sein. Dafür gebe es nun klare Standards und Kriterien. "Unser Planet kann sich keine weiteren Verzögerungen, keine neuen Ausreden und nicht noch mehr Greenwashing leisten", sagte sie.

Guterres sagte, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft sowie von Städten und Regionen sollten Zwischenziele auf ihrem Weg zur Klimaneutralität enthalten, und zwar alle fünf Jahre und für alle ihre Emissionen. Seine Botschaft laute: "Haltet euch an diesen Standard und aktualisiert sofort eure Richtlinien - und das möglichst zur COP28." Die nächste UN-Klimakonferenz, die COP28, findet Ende nächsten Jahres in den Vereinigten Arabischen Emiraten statt.

Gegen Greenwashing:
"www.fairness-check.de"

07.11.2022 11:04
Kooperieren um zu (über-) leben - im Weltklima
Entweder gebe es einen »Klimasolidaritätspakt oder einen kollektiven Selbstmordpakt« – Uno-Generalsekretär Guterres findet auf der Weltklimakonferenz eindringliche Worte.

Zum 27. Mal trifft sich die Weltgemeinschaft zur alljährlichen Klimakonferenz. Dieses Mal findet sie im ägyptischen Badeort Scharm al-Scheich statt. Am Montag und Dienstag halten mehr als 100 Staats- und Regierungschefs Eröffnungsreden, auch Bundeskanzler Olaf Scholz wird erwartet

Worum es bei der COP27 geht

Aktuell ist die Staatengemeinschaft weit davon entfernt, vereinbarte Klimaziele zu erreichen. Worum geht es bei der COP27 und kann die diesjährige Weltklimakonferenz den schlechten Vorzeichen zum Trotz noch ein Erfolg werden? Antworten auf die wichtigsten Fragen lesen Sie hier.

Guterres mahnt Staats- und Regierungschefs zum Handeln

Uno-Generalsekretär António Guterres hat die angereisten Staats- und Regierungschefs gewarnt, dass diese ohne verstärkte Zusammenarbeit im Klimaschutz das Überleben der Menschheit aufs Spiel setzen. »Die Menschheit hat eine Wahl: kooperieren oder umkommen«, sagte Guterres vor dem Plenum der 27. Uno-Klimakonferenz. Entweder gebe es einen »Klimasolidaritätspakt oder einen kollektiven Selbstmordpakt«.

»Wir sind im Kampf unseres Lebens und wir sind dabei, zu verlieren«, sagte Guterres. Doch er hat auch eine positive Botschaft: »Eins ist sicher: Diejenigen, die aufgeben, werden mit Sicherheit verlieren. Also lasst uns zusammen kämpfen – und lasst uns gewinnen.«

Der Klimawandel sei »das bestimmende Thema unserer Zeit« und »die zentrale Herausforderung unseres Jahrhunderts«, betonte Guterres. Viele der heutigen Konflikte hingen mit »dem wachsenden Klimachaos« zusammen. So habe der Ukrainekrieg »die tiefgreifenden Risiken unserer Abhängigkeit von fossilen Energieträgern« offengelegt. Der Krieg in der Ukraine und andere Krisen dürften daher »keine Entschuldigung für ein Zurückfallen« im Klimaschutz sein.

ani/AFP/dpa/Reuters

27.10.2022 07:48
Gerhart Baum ist überzeugt, „die Menschenwürde ist nicht totzukriegen“
Der frühere FDP-Innenminister Gerhart Baum gab Martin Bennningshoff ein Interview über Völkerrechtsverletzungen, Putins Missachtung aller Regeln und den dringenden Reformbedarf der UN.

Herr Baum, Friedenssicherung und Menschenrechte sind Ihr politisches Lebensthema. Was bewirkt der russische Angriff auf die Ukraine bei Ihnen persönlich?

Zunächst ist der russische Angriffskrieg eine Gefahr, die weit über das bisher Bekannte hinausgeht. Die Völkerrechtsordnung ist immer Herausforderungen ausgesetzt gewesen, denken wir nur an die Völkermorde in Ruanda, Kambodscha, und an zahlreiche andere Verletzungen des Völkerrechts. Aber diese mit seiner strikten Absage an Gewalt, mit seiner Verbindung von Friedenssicherung und Schutz der Menschenwürde, blieb trotzdem der Maßstab. Das hat sich verändert: Wladimir Putin hat diese Völkerrechtsordnung ins Wanken gebracht. Er missachtet alle Regeln und bedroht diejenigen, die diese Ordnung verteidigen, mit Atomwaffen. Das ist ein schwerwiegender Tabubruch.

Sie werden in diesem Monat 90 Jahre alt. Sie haben den Zweiten Weltkrieg und Flucht miterlebt, aber auch die Jahrzehnte danach, in denen es um Wiederaufbau und Versöhnung ging. Fühlen Sie sich jetzt, im zehnten Lebensjahrzehnt, zurückgeworfen – auf alte Erfahrungen und in Ihren Bemühungen?

Trotz aller Niederlagen: In meinem Leben habe ich eine grundlegende positive Erfahrung gemacht: Das Thema Menschenrechte ist stärker geworden. Es ist mittlerweile ein Querschnittsthema der internationalen Politik. Ein Beispiel: Die Reise eines demokratischen Politikers nach Katar kann heute nicht mehr ablaufen, ohne dass die Menschenrechte zum Thema gemacht werden. Wir haben im Laufe der Jahrzehnte ein neues Instrumentarium bekommen, um das Recht gegen das Recht des Stärkeren durchzusetzen: eine internationale Gerichtsbarkeit zum Beispiel. Schutzobjekt ist jetzt der einzelne Mensch, und zur Verantwortung gezogen werden nicht nur Staaten, sondern die einzelnen Täter, jetzt zum Beispiel die russischen Militärs, die Kriegsverbrechen in der Ukraine begehen. Das weltweite Bewusstsein, die Menschenrechte zu schützen, das ist gewachsen.

Aber was bedeutet Russlands Krieg für dieses völkerrechtliche „Instrumentarium“, wie Sie sagen?

Naja, Russland ist ein Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates und in besonderer Weise der UN-Charta verpflichtet. Und Russland tritt die Völkerrechtsordnung mit Füßen. Die Charta der Vereinten Nationen ist auf Friedenssicherung ausgelegt. Die Gräuel des Zweiten Weltkrieges sollten sich nicht wiederholen. Und diese Ordnung hat Putin praktisch aufgehoben. Das Bedrohliche ist aber auch, dass eine ganze Reihe wichtiger Staaten abseits stehen, das heißt, den Angriffskrieg zwar nicht unterstützen, ihn aber auch nicht verurteilen. Einen solchen Angriff auf die Werteordnung der Völker hat es bisher seit 1945 noch nicht gegeben.

Wie kann der Sicherheitsrat reformiert werden? Man kann doch nicht zulassen, dass Russland die Resolutionen zum eigenen Krieg weiter blockiert?

Der Sicherheitsrat ist ein Produkt der Nachkriegszeit. Wichtige Kontinente wie Afrika oder Südamerika sind überhaupt nicht vertreten im wichtigsten Gremium, dem Sicherheitsrat, Indien auch nicht. Die Zusammensetzung stimmt nicht. Und es ist nicht mehr zu ertragen, dass ein Staat die Verurteilung seiner Aggression durch ein Veto verhindern kann, wie gerade im Falle Russlands erlebt. Oder nehmen Sie den Vernichtungskrieg in Syrien, den Russland zusammen mit dem Assad-Regime dort geführt hat: Mehrfach hat der Sicherheitsrat versucht, Frieden zu stiften – und mehrfach ist das am Veto Russlands und Chinas gescheitert.

Sie haben familiäre Verbindungen zu Russland und der Ukraine, schreiben von einer „emotionalen Bindung“: Ihre Mutter wurde in Moskau geboren, Ihr Großvater stammt aus Charkiw …

… und ich habe eine große Sympathie für viele Menschen, die ich in Russland kennengelernt habe. Ich kenne viele Vertreter der Zivilgesellschaft in Russland und bin ganz anderer Meinung als jene, die behaupten, Russland sei nicht demokratiefähig. Quatsch. Die jungen Menschen, die ich kennengelernt habe, denken genauso wie wir: Sie sind gut ausgebildet, wollen vorankommen, die Welt sehen. Durch die Digitalisierung sind sie, ganz anders als frühere Generationen, durch das Internet auch verbunden mit der Welt. Russland ist anders als Putin-Russland. Die Deutschen haben ja auch unter Beweis gestellt, dass ein anderes Deutschland gab und gibt als das Nazideutschland.

Sie schreiben in Ihrem Buch von einer historischen Konfrontation zwischen demokratischen und autokratischen Staaten. In den neunziger Jahren, nicht nur in den Schriften Francis Fukuyamas, gingen viele davon aus, dass sich die liberale Demokratie mehr oder minder durchsetzt. Was ist davongeblieben?

Es gibt ja Anzeichen, dass die Demokratie weltweit unter Druck gerät und schwächelt, auch im Westen. Denken Sie an die große Demokratie, die USA, die in der Amtszeit Donald Trumps einen enormen Rückschlag in dieser Beziehung erlitten hat. Allerdings hat sie sich wieder von ihm befreit. Aber es gibt keine Blöcke mehr, stattdessen sehen wir das interessante Phänomen, dass große Staaten wie Indien, Südafrika oder Brasilien ihre Rolle suchen. Ich meine, dass die Europäer hier eine Verantwortung haben, Brücken zu bauen. Diese Staaten bestimmt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber US-amerikanischer Dominanz. Und wir Europäer könnten die Vermittlung übernehmen. Wir sollten die berechtigten Interessen dieser Staaten aufnehmen und an unsere eigenen Interessen binden. Nicht antiamerikanisch, aber eigenständig. Wir sollten alles tun, um die schwer beschädigte Weltordnung zu reparieren, als Gegengewicht gegen die imperiale Allianz, die Putin zu schmieden versucht. Wir sind inzwischen weltweit so vernetzt, so aufeinander angewiesen, dass wir verlässliche Regeln für ein Zusammenleben auf diesem Planeten mehr brauchen als je zuvor.

Menschenrechtspolitik sei immer Einmischung und müsse das auch sein, schreiben Sie weiter. Das sehen diese Staaten, vor allem China, anders. Was kann Deutschland da tun?

Kluge Politik machen. Menschenrechtspolitik bedeutet ja nicht, die Beziehungen abzubrechen. Russland ist ein Ausnahmefall, Putin ist nicht mehr vertragsfähig. Man denke nur daran, wie er wichtige Repräsentanten der Welt und uns alle vor der Aggression getäuscht und belogen hat, Die Chinesen dagegen sind viel pragmatischer, sie wollen eine regelbasierte Politik. Wie man den Menschen, die in Diktaturen verfolgt werden, helfen kann, ist von Staat zu Staat unterschiedlich – aber alle Mühe wert. Verurteilung alleine reicht nicht, man muss versuchen, die Dinge zu ändern. Das ist schwer genug und oft aussichtslos.

Sie sagen, die Chinesen seien pragmatischer. Putin galt vielen hierzulande lange Zeit auch als vergleichsweise pragmatisch. Wer hätte vor 2014 gedacht, dass er sich ernsthaft auf einen solchen nahezu mythologisch aufgeladenen Krieg einlässt? Kann man sicher sein, dass China in der Taiwan-Frage nicht irgendwann ähnlich agiert?

Die Taiwan-Frage ist ein besonderer Fall, ich weiß nicht, ob die Chinesen das riskieren. Taiwan ist in einer merkwürdigen Situation, von uns ja auch nicht diplomatisch, aber als schutzwürdig anerkannt. Aber insgesamt sind die Chinesen eine Handelsnation. Ihr System beruht auf Wohlstandswachstum. Gefährdet sie diesen Pfad, gefährdet sich die Regierung in Peking selbst. Daraus erwächst ein gewisser Pragmatismus. Russland ist hingegen eine Tankstelle mit Atomwaffen, ein reiner Energie-Exporteur. Ökonomisch verödet Russland, alleine schon durch die Flucht der begabten und gut ausgebildeten Menschen.

Sie selbst waren Staatssekretär im Kabinett von Bundeskanzler Willy Brandt, später Minister in der sozialliberalen Koalition. „Wandel durch Annäherung“ war das Motto der Brandt’schen Ostpolitik, „Wandel durch Handel“ später der deutschen China- und auch Russland-Politik …

Ja, das war zu viel, die ökonomische Abhängigkeit von Russlands Rohstoffen war zu groß. Man wird auch mit Staaten Handel betreiben, die nicht demokratisch geordnet sind. Denken Sie an den Helsinki-Prozess von 1975 in Beziehung zur früheren Sowjetunion. Man vereinbarte zwischen Ost und West Friedenssicherung, Handel und Menschenrechtsschutz. Wir müssen in Kontakt bleiben und Handel betreiben, aber sollten nicht davon ausgehen, dass dieser politische Systeme verändert. Das ist in der Regel nicht der Fall, schon gar nicht in China.

Demokratien sind auch aus dem Inneren heraus gefährdet: In Italien regieren Postfaschisten, Ungarn verabschiedet sich nach und nach vom Rechtsstaat. Man hat den Eindruck, der Demokratie fehle das Verständnis für wirksame Gegenmittel gegen Phänomene wie den Trumpismus in den USA oder den Bolsonarismus in Brasilien. Täuscht das?

Es gibt starke Kräfte, die Protest geltend machen, allerdings oft gemeinsam mit rechtsradikalen und antidemokratischen Strömungen, das stimmt. Aber in Italien würde ich abwarten. Viele Italien-Kenner sagen, das Land bliebe in Europa, das glaube ich auch. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen wie sie gekocht wird.

Der frühere Ministerpräsident Romano Prodi hat jüngst im „Spiegel“ auf den Fall Jörg Haider aufmerksam gemacht. Als der Rechtspopulist in Österreich an der Macht beteiligt wurde, hat Europa scharf reagiert. Seiner Ansicht nach wohl zu scharf. Aber man könnte auch sagen: Wehret den Anfängen! Wie sehen Sie das?

Ja, es bleibt eine gar nicht zu verharmlosende Grundströmung, die demokratische Grundregeln und Weltoffenheit infrage stellt. Es gibt eine Tendenz der nationalen Abschottung, auch in Frankreich. Aber es gibt immer auch lokale Ursachen, wie in Schweden. Einige Grundtendenzen in diesen Staaten sind vergleichbar, die wird man kritisch beobachten müssen. Verletzungen demokratischer Spielregeln wie durch Orban und auch in Polen, darf Europa nicht hinnehmen,

Viele Ihrer Wegbegleiter, wie Burkhard Hirsch, sind verstorben. Generell können immer weniger Menschen von ihren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg berichten, immer weniger können auch mahnen. Sind die Jüngeren bereit, die Verantwortung des „Nie wieder“ zu übernehmen?

Die Jahrzehnte seit 1945 sind auch Jahrzehnte des moralischen Wiederaufbaus. Wir haben eine geglückte Demokratie. Und das ermutigt mich, dass dies auch in anderen Ländern möglich ist. Ich sehe mit großem Optimismus in die Zukunft, getragen von der Feststellung: Der Mensch wird frei geboren. Wir alle werden frei geboren. In uns steckt der Wille zur Freiheit, er ist einfach nicht zu unterdrücken, egal wo ich zu Besuch war. Die Menschenwürde ist nicht totzukriegen.

17.11.2022 FR

21.09.2022 07:17
Wer wen und wann diskriminiert - wie Diskriminierung zu stoppen ist
Die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Ferda Ataman, spricht im Interview mit Markus Decker für die Frankfurter Rundschau heute über die versteckten Formen der Benachteiligung, nötige Reformen und Vorurteile.

Frau Ataman, es gibt viele Arten der Diskriminierung. Was ist denn verboten und was nicht?

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verbietet Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung, wegen des Alters, der sexuellen Identität sowie aus rassistischen und antisemitischen Gründen. Doch das Gesetz muss reformiert werden. Es hat große Lücken. Zum Beispiel wird rassistische Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt durch Schlupflöcher im Gesetz legal. Oder: Viele Eltern erfahren Diskriminierung. Wir haben eine Studie dazu gemacht. Darin gaben 40 Prozent der Eltern an, dass sie am Arbeitsplatz diskriminiert werden, zum Beispiel, weil sie früher nach Hause müssen, um ihr Kind zu betreuen. Diese Form der Diskriminierung fällt nicht unter das Gesetz, gleiches gilt, wenn Arbeitnehmer Angehörige pflegen.

Das ist sicher nicht alles, oder?

Diskriminierung aufgrund des sozialen Status liegt mir sehr am Herzen. Wir haben immer wieder Fälle dazu, zum Beispiel, dass jemand eine Wohnung nicht bekommt, weil er oder sie staatliche Leistungen bezieht. Auch dieses Thema gehört ins Gesetz.

Sind manche Diskriminierungen nicht nachvollziehbar – etwa, wenn ein Arbeitgeber ein Interesse hat, junge Angestellte zu halten und ältere nicht?

Finden Sie? Arbeitnehmer:innen mit 50 Jahren haben in der Regel doch noch eine Arbeitsperspektive von 20 Jahren vor sich und sind sehr erfahren. Meist hat die Diskriminierung mit gesellschaftlichen Ressentiments und Vorurteilen zu tun. Die wirken bei Rassismus, bei Sexismus, und sie wirken ebenso beim Alter. Bis heute hält sich das Bild hartnäckig, dass Leute, die auf die 60 zugehen, fast schon in der Rente sind. Aber das ist längst nicht mehr so. Sie sind oft mittendrin im Leben oder wären es gerne, wenn man sie denn ließe. Das Thema will ich stärker angehen. Wir verhandeln das Thema Diskriminierung noch zu sehr als Minderheitenthema.

Wie meinen Sie das?

Das Gefühl, benachteiligt zu sein, kennen die meisten Menschen in Deutschland, das zeigt eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann Stiftung. Wenn man sich die eben erwähnten Diskriminierungsgründe anschaut, hat das auch einen Sinn. Diskriminierung betrifft Frauen, Menschen mit Behinderung, Menschen aus Einwandererfamilien, queere Menschen besonders oft. Das allein sind schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung. Hinzu kommen junge Menschen und ältere, die aufgrund ihres Alters benachteiligt werden können. Zwischen diesen Lebensphasen kann man Diskriminierung erfahren, weil man Kinder bekommt, Eltern pflegt oder chronisch krank wird. Jeder kann im Laufe seines Lebens in eine Diskriminierungssituation geraten. Antidiskriminierungspolitik ist für alle da.

Und wie steht es um die Menschen aus Ostdeutschland?

Faktisch gibt es Benachteiligungen wegen der ostdeutschen Herkunft. Wir wissen, dass Ostdeutsche im Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung deutlich seltener in Führungspositionen kommen. Auch sie stoßen also an die sogenannte gläserne Decke. Zudem verdienen sie oft weniger und sind einem höheren Armutsrisiko ausgesetzt. Allerdings gibt es auch in der „alten“ Bundesrepublik Regionen, die stark unter einer hohen Arbeitslosigkeit und dem Strukturwandel leiden, wie das Ruhrgebiet. Deshalb sollten wir aus meiner Sicht eher über den sozialen Status als Diskriminierungsmerkmal nachdenken, statt einzelne Regionen ins Gesetz zu schreiben.

30.08.2022 11:30
Die Heuchelei zum Lehrermangel
Um Geld zu sparen, entledigen sich viele Schulverwaltungen befristet beschäftigter Lehrkräfte, sobald das Schuljahr endet. Vor allem Vertretungslehrer im Angestelltenverhältnis werden für die Zeit der Sommerferien entlassen. Trotz des Lehrermangels halten einige Bundesländer an der Praxis fest, Lehrer mit befristeten Verträgen in den Sommerferien in die Arbeitslosigkeit zu entlassen. Dieser Trend zeichne sich "wieder deutlich ab", sagte die Vorsitzende der Bildungsgewerkschaft GEW, Marlis Tepe. Die Länder sparen dadurch Millionen ein.

Was für eine Heuchelei, wenn sich Vertreter der Kultusministerin dann vor die Kamera stellen und den Lehrermangel dramatisch beklagen. Wer die Anstellung von Lehrern und Lehrerinnen so schlecht behandelt und managt, muss sich Heuchelei und Unfairness vorwerfen lassen; Unfairness auch gegenüber den Schülerinnen und Schülern, die auf etlichen Unterricht verzichten müssen.

Wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur unter den Kultusministerien der Länder ergab, enden in Baden-Württemberg nach Angaben eines Sprechers des Kultusministeriums die Arbeitsverträge von 3.300 Lehrerinnen und Lehrern spätestens mit dem Beginn der Sommerferien. Sie weiter zu bezahlen, würde das Land 12,5 Millionen Euro kosten.

Aus einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit geht hervor, "dass die Zahl arbeitsloser Lehrkräfte regelmäßig in den Sommerferien stark ansteigt". Bundesweit meldeten sich demnach in den Sommerferien 2017 rund 4.900 Lehrkräfte arbeitslos. Die meisten Meldungen gab es in Baden-Württemberg (1.680), Bayern (860) und Niedersachsen (470). Auch im relativ kleinen Hamburg (260) sei das Phänomen besonders erkennbar gewesen.

Die tatsächliche Zahl der betroffenen Lehrer dürfte aber höher liegen. Nicht alle meldeten sich arbeitslos, sagte Gewerkschaftschefin Tepe. Nach den Sommerferien geht die Arbeitslosenzahl wieder zurück.

Tepes Angaben nach praktizieren das vor allem die südwestlichen Bundesländer so, Baden-Württemberg etwa und Rheinland-Pfalz. Das bedeute für die Betroffenen eine "totale Unsicherheit". Der Vorsitzende des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, bezeichnete die Sommer-Kündigungen als skandalös. "Junge motivierte Lehrkräfte werden damit als beliebig verschiebbare Manövriermasse missbraucht", sagte er der Bild-Zeitung. Er verlangte, dem Lehrermangel mit 50.000 Stellen zu begegnen.

Ein Sprecher des Kultusministeriums in Baden-Württemberg sagte, dass die befristete Beschäftigung dort mit drei Prozent aller Lehrer die große Ausnahme sei. Es handele sich um Vertretungslehrer, die bei längeren Krankheiten oder Ausfällen durch Mutterschutz und Elternzeit einsprängen. Die meisten Kultusministerien äußerten sich ähnlich. Wie viele Lehrer dieses Jahr betroffen sind, war aber vielerorts noch nicht klar.

Auch Referendare stehen laut Tepe in einigen Bundesländern in den Sommerferien zu Tausenden ohne Gehalt da. Nach GEW-Angaben haben die Nachwuchslehrer keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, weil sie als Beamte auf Widerruf während des Vorbereitungsdienstes nicht in der Arbeitslosenversicherung versichert seien.

Und dann fehlen massenhaft Lehrkräfte

Zum Schuljahresbeginn fehlen an den Schulen in Deutschland nach Einschätzung des Deutschen Lehrerverbands bis zu 40.000 Lehrerinnen und Lehrer. Die Unterrichtsversorgung habe sich in allen Bundesländern verschlechtert, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger der Deutschen Presse-Agentur. „Bundesweit gehen wir von einer echten Lücke von mindestens 30.000, vielleicht sogar bis zu 40.000 unbesetzten Stellen aus.“

Die Situation, Stellen mit voll ausgebildeten Lehrkräften zu besetzen, habe sich „im Vergleich zum Vorjahr noch einmal deutlich verschärft“, sagte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Maike Finnern. „Unterrichtsausfall gleich zu Beginn des Schuljahres ist bereits Tatsache, größere Lerngruppen, Zusammenstreichen von Förderangeboten, Kürzung der Stundentafel usw. sind an der Tagesordnung“, sagte Udo Beckmann, der Vorsitzende des Verbands Bildung und Erziehung (VBE).

Alarmmeldungen aus den Ländern

In 11 der 16 Bundesländer hat das Schuljahr inzwischen begonnen. Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland folgen nächste Woche, in der Woche darauf geht's in Bayern und Baden-Württemberg wieder los. Traditionell sind die beiden Südländer bei den Sommerferien die letzten.

Aus einzelnen Ländern kamen bereits die ersten Alarmmeldungen: In Bayern hieß es schon kurz vor den Sommerferien, dass im neuen Schuljahr Unterrichtsangebote gestrichen werden müssten, um genug Pädagogen als Klassenleiter zu haben. In der Bundeshauptstadt Berlin begann das Schuljahr mit so vielen Schülern wie nie, bei gleichzeitig 875 fehlenden Lehrkräften. Aus Sachsen hieß es zum Schuljahresbeginn von Kultusminister Christian Piwarz (CDU): „Insgesamt bleibt die Lage bei der Unterrichtsversorgung angespannt“.

Lehrerverbandspräsident Meidinger sagte, die bis zu 40.000 unbesetzten Lehrerstellen seien zwar eine Schätzung, da noch nicht in allen Ländern die Schule wieder begonnen habe. „Die bisher bekannten Zahlen sind aber dramatisch“, fügte er hinzu. Wie VBE-Chef Beckmann spricht auch Meidinger von Unterrichtsausfällen, gekürzten Stundenplänen, gestrichenen Zusatzangeboten bereits zum Schuljahresbeginn. In Deutschland gibt es mehr als 800.000 Lehrkräfte an Schulen und Berufsschulen.

Überlappende Probleme

Es gibt zwar seit Jahren Klagen über fehlende Lehrkräfte. Die Lage scheint sich aber zuzuspitzen, weil sich inzwischen mehrere Probleme überlappen:

Der allgemeine Fachkräftemangel schlägt auch im Schulbereich durch. Der geschäftsführende Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF), Kai Maaz, hatte im Juni von drohenden Verteilungskämpfen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt gesprochen.
Obwohl Personalmangel herrscht, entscheiden sich laut Statistischem Bundesamt mehr Lehrerinnen und Lehrer für Teilzeit. Im Schuljahr 2020/2021 arbeiteten demnach knapp 40 Prozent nicht voll, die höchste Quote seit zehn Jahren.

Durch mehr Geburten und Zuwanderung steigen nach Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK) die Schülerzahlen - es gibt momentan knapp elf Millionen Schülerinnen und Schüler in Deutschland. Dazu kommen inzwischen mehr als 150.000 Schüler aus der Ukraine.
Politische Entscheidungen, wie der Ganztagsausbau, Vorgaben zu Inklusion oder Sprachförderung verstärken den Personalbedarf an den Schulen weiter.
Es drohen weiterhin Personalausfälle durch Krankheit und durch Isolationsvorschriften im Falle einer Corona-Infektion. Schwangere Lehrkräfte fallen ebenfalls aus, weil für sie nach Meidingers Angaben wegen Corona fast überall ein Beschäftigungsverbot gilt.
Auch das noch: Das Angebot an Quer- und Seiteneinsteigern schrumpft. „Auch hier ist der Arbeitsmarkt mittlerweile oft leergefegt“, sagte GEW-Chefin Finnern.

Die KMK setzt „derzeit einen wesentlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die Fachkräftegewinnung“, wie deren Präsidentin Karin Prien (CDU) auf Nachfrage erklärte. Als mögliche kurzfristige Maßnahmen zur „Sicherstellung der verlässlichen Unterrichtsversorgung“ nannte sie den Einsatz von Vertretungslehrern und „im Einzelfall auch eine Zusammenlegung von Schulklassen“. Sie fügte hinzu: Man müsse nicht nur in einzelnen Jahren oder Wahlperioden denken, sondern die Entwicklung der Bildung auf zehn, zwanzig Jahre in die Zukunft denken.

Gegen den „Schweinezyklus“

Das fordern Lehrerverbände schon lange. Die Länder sollten ihrer Ansicht nach über Bedarf ausbilden und auch einstellen, um dem „Schweinezyklus“ entgegenzuwirken - ein Begriff aus der Wirtschaftswissenschaft: Wird mehr Schweinefleisch nachgefragt, weil sich Essgewohnheiten ändern oder die Bevölkerung wächst, wird in Schweinezucht investiert. Wenn schließlich mehr Schweine auf dem Markt sind, ist die Nachfrage vielleicht schon wieder gesunken. Dann gibt es ein Überangebot. Entsprechendes Nachsteuern in die andere Richtung führt in einiger Zeit wieder zum Mangel und so weiter.

Würde bei Lehrkräften über Bedarf ausgebildet und eingestellt, so die Idee, wäre bei steigenden Schülerzahlen genügend Personal da. Sinkt der Bedarf wieder und die Stellen werden nicht wieder abgebaut, könnte das „Überangebot“ für Qualitätsverbesserungen genutzt werden und stünde dann bei steigenden Zahlen wieder bereit. Allerdings beantwortet das nicht die aktuell brennende Frage: Wo soll das Personal herkommen? Ausgebildet und eingestellt werden können nur so viele Lehrkräfte, wie potenziell da sind und es konkurrieren viele Branchen um Nachwuchs.

17.08.2022 09:02
Über 5600 Antidiskriminierungsfälle in 2021 gemeldet – hohe Dunkelziffer
Die Zahl der gemeldeten Fälle von Diskriminierungen in Deutschland bleibt auf hohem Niveau. Das zeigt der Jahresbericht 2021 der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, den die Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, am Dienstag in Berlin vorgestellt hat.

Im Jahr 2021 gab es mehr als 5.600 Beratungsanfragen an die Antidiskriminierungsstelle, die mit einem vom Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) geschützten Diskriminierungsmerkmal zusammenhingen. Das ist der zweithöchste Wert in der Geschichte der Antidiskriminierungsstelle, die 2006 gegründet wurde. Der leichte Rückgang gegenüber dem Vorjahr (6383) ist auf weniger Anfragen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, insbesondere zur Maskenpflicht, zurückzuführen. Die Anzahl der Beratungsanfragen zu allen anderen Diskriminierungen blieb unverändert hoch.

"„Die Zahl der uns geschilderten Diskriminierungsfälle ist alarmierend. Sie zeigt aber auch, dass sich immer mehr Menschen nicht mit Diskriminierung abfinden und Hilfe suchen"“, sagte die Beauftragte bei der Vorstellung des Jahresberichts. Ataman appellierte an alle Menschen, die Diskriminierung erleben, dagegen vorzugehen – wenn nötig vor Gericht. An die Bundesregierung richtete sie die Forderung, Betroffenen bessere Möglichkeiten zu geben, ihre Rechte durchzusetzen – etwa durch eine Verlängerung der Fristen und durch ein Verbandsklagerecht. "„Das deutsche Antidiskriminierungsrecht muss endlich internationalen Standards entsprechen. Bisher schützt es nicht wirkungsvoll vor Diskriminierung. Die von der Koalition angekündigte AGG-Reform muss umfassend und zeitnah kommen“", sagte Ataman.

Für ihre Amtszeit kündigte im Juli gewählte Bundesbeauftragte zunächst folgende Schwerpunkte an:

Den Schutz vor Diskriminierung stärken: Dafür will sie die Reform des AGG begleiten, Rechtsgutachten vorlegen und Perspektiven von Betroffenen einbringen.
Das AGG bekannter machen: Alle Menschen sollten ihre Rechte kennen und wissen, was sie gegen Diskriminierung tun können.
Ein flächendeckendes Beratungsangebot gegen Diskriminierung schaffen: Dazu soll ein Förderprogramm mit den Ländern und der Zivilgesellschaft aufgebaut werden.

Beratungsstatistik im Überblick

2021 wurden der Antidiskriminierungsstelle des Bundes insgesamt 5.617 Fälle gemeldet, die mit einem im AGG genannten Diskriminierungsgrund zusammenhingen. Davon bezogen sich 37 Prozent der Fälle auf rassistische Diskriminierung. An zweiter Stelle folgte mit 32 Prozent das Merkmal Behinderung und chronische Krankheiten. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts machten 20 Prozent der Anfragen aus, aufgrund des Alters 10 Prozent. 9 Prozent bezogen sich auf den Merkmalsbereich Religion und Weltanschauung und 4 Prozent auf die sexuelle Identität.

Die meisten Diskriminierungserfahrungen wurden im Arbeitsleben (28 Prozent) und beim Zugang zu privaten Dienstleistungen gemeldet (33 Prozent). In 37 Prozent der Fälle hat sich die Diskriminierung allerdings in einem Lebensbereich abgespielt, der nicht oder nur teilweise vom AGG geschützt ist. Der größte Anteil davon betrifft Benachteiligungen im Bereich des staatlichen Handelns, also beispielsweise durch Ämter, durch die Polizei oder die Justiz. Aber auch im Bildungsbereich, in den sozialen Medien oder im öffentlichen Raum wurden regelmäßig Benachteiligungen, diskriminierende Beleidigungen bis hin zu Gewalt erlebt und geschildert.

Mehr als 2.000 Anfragen hat das Beratungsteam erhalten, in denen Bezug auf ein Merkmal genommen wurde, das vom Diskriminierungsschutz im AGG nicht erfasst wird. Rechnet man diese zu den Fällen mit AGG-Merkmalsbezug hinzu, erhöht sich die Gesamtzahl der Anfragen auf 7.750 – und liegt damit auf ähnlichem Niveau wie 2020 (7.932 Anfragen) und deutlich über dem der Vorjahre (2018: 4220; 2019: 4247 Anfragen).

28.07.2022 08:50
Kommt endlich der Schutz für Whistleblower?
Darauf mussten wir lange warten und ohne die Androhung einer Klage durch den Europäischen Gerichtshof hätte es die deutsche Politik auf eine noch längere Bank geschoben. Deutschland bringt nun einen Gesetzentwurf zum Schutz für Whistleblower und zur Einrichtung von Meldestellen in Unternehmen und Behörden auf den Weg. Dazu schreibt Markus Decker in der Frankfurter Rundschau heute (S. 13):

„Das Bundeskabinett hat am Mittwoch einen Gesetzentwurf gebilligt, der Bürgerinnen und Bürger, die Hinweise auf Missstände in Unternehmen oder Behörden geben, besser vor Kündigung und Mobbing schützen soll. Der Entwurf soll nun von Bundestag und Bundesrat beraten und beschlossen werden. Bei der Reform steht Deutschland unter Zeitdruck, denn es droht eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof. Eigentlich lief im Dezember eine Frist für die EU-Staaten aus, gemeinsame Regeln zum Schutz sogenannter Whistleblower in nationales Recht umzuwandeln.

Die Hinweise können Gesetzesverstöße gegen Umweltschutzvorgaben oder gegen Sicherheitsvorschriften sein. Die Meldestellen, an die sich die Whistleblower laut Entwurf künftig wenden können, müssen die Identität der Hinweisgeber vertraulich behandeln. Alle Arbeitgeber und Organisationen mit mindestens 50 Beschäftigten sollen eine solche Meldestelle einrichten müssen.

In einem Konzern soll es ausreichen, wenn es eine Meldestelle bei der Konzernmutter gibt. Für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes sowie für jeden Hinweisgeber, der Bedenken hat, sich an eine interne Stelle zu wenden, will Justizminister Marco Buschmann (FDP) die Möglichkeit schaffen, beim Bundesamt für Justiz vorstellig zu werden.

Allerdings stößt der Entwurf von verschiedenen Seiten auf Kritik. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände schrieb bei Twitter, Hinweisgeberschutz sei wichtig, und Arbeitgeber könnten Fehler im Unternehmen am schnellsten beseitigen. Der Gesetzentwurf gehe aber „über die EU-Richtlinie hinaus und muss überarbeitet werden“. Konkreter wurde die BDA nicht.

David Werdermann, Projektkoordinator bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, sagte: „Wer auf ein umfassendes Schutzgesetz für Whistleblowerinnen und Whistleblower gehofft hat, wird enttäuscht. Der Entwurf lässt viele Hinweisgebende im Stich und legt ihnen Steine in den Weg.“

So würden Meldungen nicht geschützt, wenn sie sich auf Fehlverhalten bezögen, das nicht gegen Rechtsvorschriften verstoße. „Dabei kann es auch bei solchem Fehlverhalten ein erhebliches öffentliches Interesse am Bekanntwerden geben“, betonte Werdermann. „Das zeigen etwa Missstände in der Pflege oder rechtsextreme Chats von Polizeibeamten, die oft keinen Straftatbestand erfüllen, aber trotzdem skandalös und schädlich für das Gemeinwohl sind.“

Geheimdienste seien überdies vollständig ausgenommen. Edward Snowden, der weltweite Massenüberwachung ans Licht gebracht habe, wäre demnach in Deutschland nach dem Gesetzentwurf nicht geschützt. „Hier wird angeblichen Sicherheitsinteressen einseitig der Vorrang gegenüber der Presse- und Meinungsfreiheit eingeräumt.“

Schließlich fehle es auch weiterhin an abschreckenden Sanktionen für Unternehmen, wenn sie rechtswidrig gegen Whistleblower und Whistleblowerinnen vorgingen. „Bußgelder sind auf maximal 100 000 Euro beschränkt“, so Werdermann. „Unternehmen wie Volkswagen oder Wirecard bezahlen das aus der Portokasse.“

Die Abwehr gegen ein Whistleblowing-Gesetz aus der Wirtschaft, aber auch Teilen der Behörden und der Justiz ist heftig, sonst hätte sich der Vorgang auch nicht über Jahre hingezogen. Nun beginnt die heiße Phase und die Gegner laufen sich warm. Dabei ist der Entwurf schon so abgemildert, um nicht zu sagen: verwässert, dass keine wirkliche Weichenstellung zu erwarten ist.


"Siehe zur weiteren Kritik am Gesetesentwurf"

Bei Bedarf an Beratung und Hilfe:
"Das Whistleblower-Netzwerk"

"Information"

12.07.2022 14:15
Raubbau an der Natur ungebrochen - Weltbiodiversitätsrat drängt auf Einsicht und Handlungsänderung
Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES Wissenschaftler kritisieren Profitgier zu Lasten der Natur
Was ist uns die Natur wert? Dieser Frage haben sich laut Spiegel-Online nun Fachleute des Weltbiodiversitätsrats IPBES in einem Bericht angenähert: Fazit: Gewinnstreben schließt die Berücksichtigung der vielfältigen Werte der Natur häufig aus:

„Im Grunde weiß die Menschheit schon lange, dass es um die Natur oft nicht gutsteht. Doch beim Schutz dieser wichtigen Ressource steht sich der Mensch selbst im Weg, bemängeln Wissenschaftler. Ein verengter Blick auf die Natur und ökonomisches Gewinnstreben verhindern einem nachhaltigen Artenschutz, erklärte der Weltbiodiversitätsrat IPBES nun in Bonn zu einem Expertenbericht.

Die Art, wie Natur in politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen bewertet werde, sei ein Schlüsselfaktor der globalen Biodiversitätskrise – zugleich aber auch eine Chance, sie anzupacken, hieß es. Ein vorherrschender Blick auf kurzzeitige Gewinne und wirtschaftliches Wachstum schließe die Berücksichtigung der vielfältigen Werte der Natur häufig aus.

Umweltverbände äußerten sich zustimmend. Der Naturschutzbund (Nabu) erklärte, das Bruttoinlandsprodukt steige oft, wenn Natur vernichtet werde, etwa um eine Straße oder einen Damm zu bauen. »Kurzfristig profitieren wir von günstigen Preisen für ein T-Shirt oder einen Liter Milch. Doch langfristig gefährden wir damit unseren Wohlstand«, sagte Nabu-Präsident Jörg-Andreas Krüger. Dieser hänge auch von intakten Ökosystemen ab.

Die Umweltstiftung WWF betonte: »Für die einen ist die Natur nur Lieferantin von Nahrung und Wasser, für die andern ist sie die schützenswerte Mutter Erde«. Politische Entscheidungen sollten in Zukunft die Vielfalt zwischen ethischen, ökonomischen und kulturellen Leistungen der Natur besser widerspiegeln. »Wir müssen dringend weg vom kurzfristigen und gewinnorientierten Denken, das Wachstum über alles andere stellt«, erklärte der WWF.

Bis zu eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht

Indigene Gruppen aus Südamerika begrüßten die Beschlüsse. »Wir feiern insbesondere die Empfehlung, unsere territorialen Rechte und unser traditionelles Wissen anzuerkennen, was für einen wirksamen Schutz des Amazonasgebiets unerlässlich ist«, erklärte José Gregorio Diaz Mirabal, Koordinator des Dachverbands der indigenen Gruppen im Amazonasbecken (Coica).

Den Bericht (»Values Assessment«) hatte ein Treffen mit mehr als 900 Vertretern der 139 IPBES-Mitgliedsstaaten am Samstag in Bonn gebilligt. 82 Experten aus 47 Ländern arbeiteten an dem Papier mit, das sich auf mehr als 13.000 wissenschaftliche Referenzen stützt. Laut einem schon 2019 veröffentlichten Papier dieses Gremiums sind bis zu eine Million Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht. Das Wirtschaftswachstum war als ein wichtiger Faktor genannt worden.

Laut dem neuen Report haben wirtschaftliche und politische Entscheidungen bestimmte Werte der Natur bevorzugt, die zum Beispiel der marktwirtschaftlich orientierten Nahrungsmittelproduktion nützlich sind. Damit werde aber nicht angemessen berücksichtigt, wie Eingriffe in die Natur sich auf die Lebensqualität von Menschen insgesamt auswirken. Außerdem werde übersehen, dass etwa Klimaregulierung und kulturelle Identität ebenfalls mit Natur zu tun haben.

Es gebe keinen Mangel an Ansätzen, um die Werte der Natur sichtbar zu machen. Woran es fehle, seien aber Methoden, mit der ungleichen Machtverteilung zwischen Gruppen umzugehen und die verschiedenen Werte der Natur in politische Entscheidungen einzubeziehen.

Studie über invasive Arten geplant

Mitautorin Patricia Balvanera aus Mexiko erklärte, angesichts der globalen Biodiversitätskrise sei eine Verlagerung von Entscheidungen hin zu den vielfältigen Werten der Natur wichtig. »Dies bedeutet auch eine Neudefinition von Entwicklung und guter Lebensqualität«, sagte Balvanera. In Bonn beschlossen wurde ein neuer IPBES-Bericht zum Thema Wirtschaft und Biodiversität, der 2025 fertiggestellt sein soll. Im kommenden Jahr soll eine Studie über invasive Arten vorgelegt werden“.

01.07.2022 14:40
Greenwashing in großem Stil? Finanzprodukte in der Klimakrise noch nicht ehrlich genug
Finance Watch fürchtet die Diskreditierung des Emissionsziels. Deshalb schlägt die NGO jetzt strengere Regeln vor. Antje Mathez schreibt dazu in der Frankfurter Rundschau (1.7.22, S. 14):

Ob aus der Wirtschaft oder der Politik – fast täglich werden Netto-Null-Emissionsziele (Net Zero targets) verkündet. Manche Unternehmen oder Kommunen führen sie neu ein, manche sind schon weiter, verschärfen ihre Vorgaben für den Klimaschutz. Denn: Ein grünes Image heften sich alle gerne an. Das mögen Anlegerinnen und Kunden. Doch da es bislang keine allgemeingültige Definition gibt, unterscheiden sich die Details hinter dem Netto-Null-Label enorm. Manche Ankündigungen beziehen sich nur auf Kohlendioxid, andere auf alle Treibhausgase. Manchmal werden gar keine echten Reduktionen angestrebt, sondern nur Kompensationsmaßnahmen. Ein großes Durcheinander.

Vergangene Woche haben die Mitglieder des Europäischen Parlaments und die Regierungen der Europäischen Union zwar für mehr Transparenz gesorgt und die verpflichtende Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen auf den Weg gebracht. Die Regulierung greift aber erst – je nach Art des Unternehmens – ab 2024 bis 2026 und ersetzt mit Sicherheit keine Einigung auf ein paar grundlegende Definitionen in Sachen Nachhaltigkeit.

Netto-Null als Greenwashing-Instrument?

Finance Watch warnt nun, dass die Bezeichnung Netto-Null als Greenwashing-Instrument diskreditiert zu werden droht, und fordert eine Verschärfung der Vorschriften. Die Nichtregierungsorganisation veröffentlichte dazu am Donnerstag den Bericht „The Problem lies in the net“ (Das Problem ist das Netto), der Empfehlungen an die politischen Entscheidungsträger enthält. Sie sollen dafür sorgen, dass „sinnvolle Netto-Null-Ziele festgelegt und von den Finanz- und Nichtfinanzsektoren erreicht werden“.

Ziel des Labels Netto-Null solle nicht die Dekarbonisierung von Finanzportfolios oder die Rechtfertigung des „business as usual“ sein, „sondern die Dekarbonisierung der realen Welt, um eine Klimakatastrophe zu vermeiden“, erklärte Finance Watch zur Vorstellung des Berichts. Der Finanzsektor könne Nicht-Finanzunternehmen zwar zur Kohlenstoffneutralität drängen, doch würden konkurrierende Ziele und Messungen für Netto-Null zu Verwirrung führen.

Die gemeinnützige Organisation verweist auf „die jüngsten Greenwashing-Skandale“, womit vor allem die DWS gemeint sein dürfte. Der Vermögensverwalter der Deutschen Bank hatte sein Produktportfolio wohl grüner dargestellt, als es ist. Diese Skandale würden zeigen, dass der Mangel an Klarheit zu irreführenden Behauptungen führen könne, die der Glaubwürdigkeit der Netto-Null-Ziele schadeten.

Netto-Null-Emissionen und Klimaneutralität sind zwei Unterschiedliche Label

Aber was heißt eigentlich Netto-Null? Netto-Null bedeutet laut Weltklimarat, dass alle durch Menschen verursachten Treibhausgas-Emissionen durch Reduktionsmaßnahmen wieder aus der Atmosphäre entfernt werden müssen und somit die Klimabilanz der Erde netto, also nach den Abzügen durch natürliche und künstliche Senken, Null beträgt. Auf Unternehmensebene ist das ein ehrgeiziges Ziel, das sich theoretisch auf die gesamte Organisation und ihre Wertschöpfungskette bezieht. Es besagt, dass auch die indirekten Emissionen von den Lieferanten bis hin zu den Verbraucher:innen reduziert werden müssen. Da das aber ein komplexes Unterfangen darstellt in einer Welt, in der Firmen nicht ihre gesamte Wertschöpfungskette kontrollieren können, werden die dort anfallenden Klimagase, sogenannte Scope-3-Emissionen, bislang nicht in die Berechnungen einbezogen.

Nicht zu verwechseln ist Netto-Null mit dem Label der Klimaneutralität. Es besagt, dass die Emissionen für einen Unternehmensstandort, ein Produkt, eine Marke oder eine Veranstaltung so weit wie möglich reduziert und der verbliebene CO2-Ausstoß kompensiert wurde.

Finance Watch fordert mehr Regulierung und Kontrolle

Zur Ruf-Rettung von Netto-Null empfiehlt Finance Watch einen verstärkten Regulierungsrahmen. Danach sollen Finanzinstitute unter anderem nur dann den „Netto-Null-Status“ beanspruchen können, wenn sie mindestens eines von drei Finanzprodukten mit Bezug zum Klimawandel verkaufen. Für die Realwirtschaft fordert der Bericht in erster Linie eine Pflicht zur Umsetzung von Übergangsplänen, die sich auf die Reduzierung der absoluten Treibhausgasemissionen einschließlich der Scope-3-Emissionen konzentrieren sollten. Die jeweiligen Ziele müssten von den Aufsichtsbehörden kontrolliert und durchgesetzt werden können. Thierry Philipponnat, Chefökonom von Finance Watch, kommentierte: „Der Begriff „Netto-Null“ kann nur dann sinnvoll sein, wenn wir ihn genau definieren und ihn nutzen, um politische Maßnahmen und Praktiken durchzuführen, die sich in der Praxis auswirken werden.“

01.04.2022 10:02
Wenn Rechte den digitalen Faschismus verbreiten - und viele ihm auf den Leim gehen
Der internationale Rechtspopulismus und Rechtsextremismus bemächtigt sich der vormals klassisch linken Themen und Begriffe für seine reaktionäre Agenda. Der Medien- und Genderforscher Simon Strick über den digitalen Faschismus, seine Untergangsszenarien und seine Beschwörung einer „Normalität“ in der Frankfurter Rundschau vom 23.2.22 S. 26f.:.

„Dem Faschismus geht es gut – er ist Meme, Konsumgut und Gefühlswelt geworden.“ Sagt Simon Strick in seinem aktuellen Buch. Im Kampf um die kulturelle und politische Hegemonie nutzt die Neue Rechte diesseits und jenseits des Atlantiks die Chancen und Angebote der Social-Media-Welt. Online wie offline entwirft der Digi-Faschismus Erlebniswelten und Kommunikationsräume, in denen sich vermeintlich Abgehängte, Bedrängte und Verunsicherte aufgehoben fühlen – geschützt vor einer beschleunigten, immer komplexeren Welt, in der die weiße Mehrheitsgesellschaft um ihre Privilegien fürchtet“. Das Interview führt Klaus Walter:

„Herr Strick, in Ihrem Buch analysieren Sie eine breite Palette rechter Gefühle. Gibt es da einen Gefühlskern, einen gemeinsamen Nenner der Emotionen, der diese Leute verbindet?

Der Kern ist aus meiner Sicht ein Gefährdungsgefühl, Bedrohung, Unterdrückung. Diese Gefühle werden aber, und das ist zentral, für Bevölkerungsgruppen aufgerufen, die in der Mehrheit sind, also generell nicht marginalisiert, sondern privilegiert sind: Weiße, Männer, Konservative, Herkunftsdeutsche und so weiter.

Digitaler Faschismus, ein großes Wort! Ich denke an gedrillte Männer in schwarzen Uniformen und hochglanzpolierten Stiefeln. Mussolinis Faschismus war eine nach dem Führerprinzip organisierte, rechtsradikale Bewegung. Ähnlich hierarchisch funktionierte der Nationalsozialismus in Deutschland. Wie verhält sich dazu der digitale Faschismus von heute?

Ich finde es wichtig, die Unterschiede zu betonen. Wir verstehen den Faschismus oder das Rechtsradikale generell als Top-down-Bewegung: ideologische Führer oben, die auf autoritäre Charaktere treffen, die diese Führerfiguren verehren und denen blind folgen. So wird generell auch der Rechtspopulismus beschrieben. Im digitalen Zeitalter funktionieren diese Autoritätsverhältnisse nicht mehr. Da kann jede(r) die persönliche Agitation im Netz machen und Ideologie an allen möglichen Orten verbreiten. Diese Bewegung von unten, das Bottom-up – das ist der entscheidende Unterschied durch die Bedingungen der sozialen Medien. Es vollzieht sich weniger blindes Folgen und Gehorchen, sondern man partizipiert an Erzähl- und Erklärungsmustern, die gemeinsam plausibel gemacht werden. Ideologisch propagiert der Faschismus noch immer weiße Vorherrschaft und eine rassistische Weltordnung – nun aber eher durch User auf Facebook als durch ein Propagandaministerium.

Partizipieren statt gehorchen, kommunizieren, assoziieren, Geschichten produzieren und miteinander teilen. In Ihrem Buch entwerfen Sie ein Bild von rechten Erlebniswelten, in denen nicht mehr das Prinzip Befehl und Gehorsam gilt. Schon gar nicht: blinder Gehorsam. Denn ein wichtiges Element in diesen Kommunikationsräumen ist das Visuelle. Fotos, Bilder, Cartoons, Memes. Viele dieser visuellen Elemente sind abgebildet in „Rechte Gefühle“, auch ein Wahlplakat der AfD von 2018. Was sehen wir da?

Wir sehen eine schwangere weiße Frau, die auf einer Wiese liegt. Ihr Bauch steht im Zentrum des Bildes, darüber der Slogan: „Neue Deutsche machen wir selber, trau dich Deutschland. AfD.“

Was sagen Sie als Genderforscher dazu?

Neue Deutsche sollen weiße Deutsche sein. Das ist nicht viel anders als die Reproduktionspolitik im Nationalsozialismus: Kindermachen als deutscher weißer Widerstand gegen eine überfremdete Welt, gegen undeutsche Horden, für arischen Lebensraum und Zukunft. Die AfD formuliert hier die rechte Welterklärungsformel vom sogenannten großen Austausch. Nach dieser Theorie werden weiße Menschen in weißen Mehrheitsgesellschaften wie den USA oder Deutschland allmählich verdrängt. Sie werden – wie die AfD sagt – überfremdet. Dieser große Austausch rekurriert einerseits auf den demografischen Wandel, den es tatsächlich gibt. In den Agitationen des digitalen Faschismus ist dieser Wandel aber mit Untergangsszenarien konnotiert: Verlust einer angeblich angestammten Kultur, Unterdrückung von weißen Menschen oder auch das antisemitische Narrativ, dass dieser Austausch von geheimen Eliten gesteuert wird. Danach wird ein koordinierter Kampf gegen weiße Mehrheitsgesellschaften geführt, der diese zu multikulturellen Gesellschaften macht. Weiße werden zur Minderheit, zur bedrohten Volksgruppe. Mit Migrationszahlen und Geburtenstatistiken werden die entsprechenden Ängste getriggert, zugleich wird Kinderkriegen von Herkunftsdeutschen als völkischer Widerstand stilisiert. Ein Wechselspiel von diffusem Unbehagen und White Empowerment. Auf diesem Feld arbeiten die Akteure des digitalen Faschismus im Netz.

Aus der Alltagskultur kommt ein weiteres Meme in Ihrem Buch. Was sehen wir da?

Eine weiße Frau und ein weißer Mann um die dreißig in einem außergewöhnlich weißen Raum. Die beiden formen eine Gruppe mit der Jungfrau Maria, einem Josef und dem Jesuskind. Der Mann nimmt die mütterliche Position ein, hält aber kein Kind in den Armen, sondern einen Hund. Darüber steht eine Textbotschaft in Form eines Countdowns: Deine Urgroßmutter hatte zwölf Kinder, deine Großmutter hatte sechs Kinder. Deine Mutter hatte zwei Kinder. Du hast eine Abtreibung und einen Hund.

Die Weißen sind auf den Hund gekommen?

Für die Rechten ist die Entscheidung für den Hund und eine Abtreibung Volksverrat. An diese Text-Bild-Kombination schließen sich alle möglichen rechtsextremen Erzählungen oder Spielweisen an: Der große Austausch wird als Verfall der Geburtenraten erzählt. Die Urgroßmutter habe mit ihren zwölf Kindern noch Volk und Familie gedient. Dass sie weder wählen noch Geld verdienen oder gar abtreiben durfte, wird natürlich nicht erwähnt. Darauf folgt die Regression: statt für Kinder entscheide sich die moderne Frau für einen Ersatzhund und eine Abtreibung. In diesem Meme wird der Feminismus als reproduktive Selbstbestimmung zur Zielscheibe: Er sorge sowohl dafür, dass keine weiße Fortpflanzung mehr stattfinde, als auch dafür, dass die Geschlechterrollen unklar würden. Im Bild hält der Mann den Hund wie ein Baby. Für die Rechten ist das ein Bild des Niedergangs: Aussterben der Weißen, Feminisierung der Männer, Perversion der Familie. Schuld an allem: der Feminismus.

Das Private ist politisch! Das war eine Parole der feministischen Bewegung. Im digitalen Faschismus wird das Private von rechts politisiert, vor allem der Körper der Frau wird zum Schauplatz von Kulturkämpfen. Ist das eine Spezialität der Neuen Rechten: die Adaption und Umkehrung linker oder feministischer Errungenschaften und Strategien? Ich denke da an die Parolen gegen das Impfen. Da läuft ein Mann mittleren Alters mit einem Schild herum, auf dem steht: „Mein Körper gehört mir.“ Eine kulturelle Aneignung der speziellen Art: „Mein Bauch gehört mir“ war der zentrale Slogan der Bewegung für das Recht auf Abtreibung. Ein Amoklauf der Zeichen?

Das ist ein Kennzeichen digitaler Kommunikationen, das Spiel mit verfügbaren Zeichen und Bildern. Die Rechten haben lange geübt, und eine Bewegung ist die Übernahme emanzipatorischer Rhetorik, wie der des Feminismus. Aus ihrer Sicht geht es ja um die Emanzipation einer Minderheit, den Freiheitskampf der angeblich unterdrückten weißen Männer. Daher hat mich der Boom der sogenannten Querdenker nicht überrascht. Es gibt ein rechtes Klima, das sich seine Anlässe sucht. Corona hat eine gesellschaftliche Situation geschaffen, an der sich Bedrohungsgefühle, Gefühle der Unterdrückung sehr gut anschließen können. Die Überforderung durch die Pandemie ist uns allen gemeinsam, viele haben sie damit beantwortet, Rücksicht zu nehmen und über gesellschaftliche Abhängigkeiten nachzudenken. Die Querdenker:innen und die mitdemonstrierenden Neofaschist:innen haben ein anderes Reaktionsmuster: Wir – Weiße, Deutsche, Gesunde, Arbeiter:innen und so weiter – werden gerade unterdrückt und ausgetauscht.

Menschen fühlen sich vielfach bedroht: Corona, Political Correctness, Cancel Culture, Migration, Feminismus, neue Geschlechter, neue Sprachregelungen, und, der Gipfel: Gender Studies, Gendersprache. Warum sind diese allergischen Affekte ausgerechnet hier so ausgeprägt?

Via Genderstern kann wunderbar das Narrativ des Kulturverfalls in die breite Gesellschaft getragen werden, die Gender Studies können dann als vermeintlich ideologische Wissenschaft denunziert werden. Dabei geht es um sehr viel mehr als nur das Sternchen. Wir Genderforscher:innen beschreiben Geschlechterrollen und Geschlechtsmuster in verschiedensten Arten und Weisen. Wie sich das historisch verändert hat, wie Gesellschaft vergeschlechtlicht, dass Frauen lange nicht wählen durften oder nur bestimmten Arbeiten nachgehen konnten und immer noch können. Allgemein formuliert Genderforschung also Fragen, die mit allen Menschen etwas zu tun haben, also sowohl gesellschaftlich als auch persönlich wahrgenommen werden können. Jede(r) hat ein Geschlecht und lebt in einem Geschlechtersystem. Darüber wissenschaftlich zu sprechen, erleben nun viele so, als ob die Gender Studies den Leuten das Geschlecht wegnehmen wollen, was uns völlig fernliegt. Oder dass wir zwangsweise den Glottisschlag einführen wollen. Das ist weitgehender Unsinn und eine Verkürzung der Bedeutung von „Gender“, die aus meiner Sicht der Kulturkampf von rechts bereits angerichtet hat.

In Ihrem Buch verorten Sie den Widerstand gegen das Gendern politisch eindeutig: „Anti Genderismus ist rechter Gefühlskitt.“ Ich kenne viele Leute, die das Gendern vehement ablehnen, die sich aber ebenso vehement dagegen wehren würden, als Rechte bezeichnet zu werden. Sind das alles Rechte, ohne es zu wissen?

Der Antigenderismus ist eine Diskursfigur, an der alle möglichen Akteure Anschluss finden: ob jetzt rechtsextrem oder nur rechts oder noch gar nicht entschieden. Da wird ein totalitäres System imaginiert, das den Leuten ihre Freiheiten nehmen will als ganz normaler Mensch, als ganz normaler Bürger. Im Parteiprogramm der AfD steht, dass die Gender Studies aus den Universitäten verschwinden sollen, weil sie ein ideologisches Unternehmen seien.

Apropos normaler Bürger. Immer mehr Politiker und Politikerinnen berufen sich auf eine ominöse Normalität und den „Normalbürger“, von Olaf Scholz bis Sahra Wagenknecht, von Norbert Röttgen bis zur AfD mit ihrem Slogan: „Deutschland. Aber normal“ …

… ein einflussreicher und sehr gut gewählter Slogan.

Was ist daran gut gewählt?

Der Slogan macht aus der Position „normaldeutsch“ eine scheinbar bedrohte, was sich aus dem „aber“ ableitet. „Normal“ heißt hier natürlich weiß, heterosexuell, herkunftsdeutsch. Der Slogan vermittelt präzise das Gefühl, das die neue Rechte auslösen will: Diese angeblich „normalen Deutschen“ seien irgendwie marginalisiert. Die Normalität, die da beschworen wird, suggeriert einen Zustand des Lebens, der außerhalb gesellschaftlicher Verhältnisse, außerhalb von Politik stattfindet. Sozusagen ein Ruheraum des Lebens, wie man sich das in den 50er Jahren gerne vorgestellt hat, als quasi natürliche Ordnung. Die Frauen sind lieber zu Hause, die Männer müssen arbeiten gehen. Das sind Gefühle des Unpolitischen, die verteidigt werden möchten.

Die Sehnsucht nach dem Ruheraum des Lebens, die Angst vor dem Verlust des gewohnten Lebens, auch die Angst vor dem Verlust von Privilegien, das bezeichnen Sie als rechte Gefühle. Steht da wirklich der Faschismus vor der Tür? Sind Sie da nicht allzu alarmistisch?

Verlustängste haben sicher alle, und viele Menschen in Deutschland haben bereits viel verloren. Es ist aber der Rechtsextremismus, der die Erzählung anbietet, das „Normale“ – das weiße, konservative, geschlechtskonforme, herkunftsdeutsche Deutsche – sei in Gefahr und drohe verdrängt zu werden. Alarmismus kann man mir gerne vorhalten, und sich dann noch mal die Gewaltstatistiken zum Rechtsextremismus anschauen, die Anschläge und die Migrationsdebatten. Auf die Frage „Steht der Faschismus vor der Tür?“, frage ich zurück: welche Tür? Und welcher Raum soll das sein, wo es noch keinen Faschismus gäbe oder nur vereinzelte Rechtsextreme oder Rassismus nur ein persönliches Problem einiger Dummer wäre? Der Faschismus ist nicht weit weg, nicht so extrem außen, wie der Extremismusbegriff impliziert. Und er war es auch nie. Die Mehrheitsgesellschaft hält oft an diesem Bild fest: Oh, da gibt es plötzlich Hate Speech. Plötzlich gibt es einen Rassisten. Nichts passiert plötzlich, Rassismus und Sexismus sind Alltag in deutschen Strukturen, von denen Mehrheitsdeutsche eben profitieren. Ich schlage für diese rechte Agitation und ihre Flächeneffekte ein anderes Bild vor: nicht der plötzliche Angriff, sondern die Klimaveränderung. Der rechte Kulturkampf will das Klima der Gesellschaft ändern. Sie nennen das Metapolitik: die Ideologisierung des Alltags und der Begriffe, mit denen wir reden. Warum geht es mir gerade schlecht? Warum hast du gerade Probleme mit deinem Partner, auf der Arbeit? Das sind banale emotionale Punkte, an denen rechte Agitation ansetzt. Und sie liefert griffige Antworten und Welterklärungsformeln: Warum der große Austausch daran schuld ist, wie es uns gerade geht.

Was tun? Wie können wir den digitalen Faschismus stoppen?

Eine gute Frage, auf die ein weißer Deutscher wie ich allein keine Antwort geben kann. Ich wünsche mir breite gesellschaftliche Allianzen und diversere Öffentlichkeiten, die andere, bessere und weniger tödliche Antworten geben. Wen Sie mit „wir“ meinen, ist sehr wichtig. Aber ich antworte mal mit einer Beobachtung im Anschluss an mein Buch: Die rechten Provokationen, die ich 2014 in irgendwelchen abseitigen Internetforen wie 4Chan gefunden habe, höre ich heute etwas ausführlicher ausgedrückt in deutschen Medien. Wenn der Publizist Jan Fleischhauer damit provozieren will, Hitler hätte den Sozialstaat erfunden, dann imitiert er Memes und Diskursmanöver, die das rechte Internet seit Jahrzehnten erfolgreich ausschlachtet. Es hat sich eine beispiellose Ausbreitung digitaler Agitationsstrategien in den journalistischen Mainstream und in die Breite der Gesellschaft ereignet. Rechte Metapolitik schreitet voran, die Gewaltbereitschaft und -akzeptanz folgt ihr. Daher die Rückfrage: Wie will der Journalismus diese Entwicklung stoppen?"

Zur Person: Simon Strick, Jahrgang 1974, ist Medien- und Genderforscher am Brandenburgischen Zentrum für Medienwissenschaften in Potsdam. Seine Forschungs- und Lehrtätigkeit konzentriert sich auf Gender- und Rassismustheorien, Populäre Kulturen, Affect Studies, Medien- und Kulturanalyse. Mit Susann Neuenfeldt und Werner Türk gründete er 2009 das Performancekollektiv Panzerkreuzer Rotkäppchen. Simon Strick lebt in Berlin. Sein aktuelles Buch „Rechte Gefühle - Affekte und Strategien des digitalen Faschismus“ ist im transcript Verlag erschienen (480 S., 34 Euro).

09.03.2022 09:50
Neue Studie zu Lieferketten - Grenzenlose Ausbeutung: Wie Supermärkte von Hungerlöhnen und Akkordarbeit profitieren
Katastrophale Arbeitsbedingungen und ausbeuterische Verhältnisse – die neue Studie „Grenzenlose Ausbeutung“ von Oxfam deckt massive Arbeits- und Menschenrechtsverstöße auf Ananas-, Bananen- und Traubenfarmen in Costa Rica und Südafrika auf. Besonders betroffen: Arbeitsmigrant*innen. Oxfam schreibt und fragt:

"Profitieren deutsche Supermärkte von ausbeuterischen Verhältnissen entlang der Lieferkette? In einer aufwendigen Recherche sind wir dieser Frage nachgegangen und sind den Spuren von den Regalen bis zu Farmen und Anbaugebieten gefolgt. Das Ergebnis ist erschreckend: Menschenrechtsverstöße sind an der Tagesordnung. Sie konnten in Lieferketten aller großen deutschen Supermärkte nachgewiesen werden. Das zeigt unsere neue Studie „Grenzenlose Ausbeutung“.

Hungerlöhne und Akkordarbeit auf Plantagen

Die Löhne der Arbeiter*innen sind extrem niedrig. Keine der befragten Personen im Ananas-Sektor bekam den in Costa Rica festgelegten Mindestlohn, auf einer Edeka-Zulieferplantage waren es sogar nur 4,50 Euro pro Tag. In Südafrika verdient knapp die Hälfte der für die Studie befragten Arbeiterinnen weniger als den Mindestlohn von 194 Euro pro Monat. In beiden Ländern ist Akkordarbeit mit mehr als zwölf Stunden für die Arbeiter*innen an der Tagesordnung.

Arbeiterinnen im südafrikanischen Wein und Tafeltraubenanbau berichten, dass sie zu sexuellen Handlungen genötigt werden, um eine Arbeitsstelle zu bekommen. Sie sind außerdem giftigen Pestiziden ausgesetzt und haben während der Arbeit keinen Zugang zu Toiletten und Trinkwasser.

Wenn sich die Menschen gegen diese Missstände wehren, werden sie massiv unter Druck gesetzt. Gerichtsurteile aus Costa Rica belegen die unrechtmäßige Entlassung von Gewerkschaftsmitgliedern auf einer Ananasplantage, die Rewe und Lidl beliefert und von Rewe sogar ausdrücklich als vorbildlich beworben wird. Arbeiter*innen berichteten uns, dass selbst Familienangehörige von Gewerkschaftsmitgliedern entlassen werden.

Besonders schwierig ist die Situation für migrantische Arbeitskräfte, die ständig Angst haben müssen, abgeschoben zu werden und die deshalb von Gewalt und Ausbeutung noch stärker betroffen sind.

Supermärkte spielen ihre Marktmacht aus
In Deutschland teilen sich die vier großen Supermarktketten (Rewe mit Penny, Aldi Süd und Nord, Edeka mit Netto und die Schwarz-Gruppe, zu der Lidl und Kaufland gehören) 85 Prozent des Lebensmitteleinzelhandels.

„Mit dieser Marktmacht üben die Supermärkte massiven Druck auf Lieferanten und Produzenten aus: Nur wer im Einkauf billig ist, kommt ins Supermarktregal“, erklärt Tim Zahn, Oxfam-Experte für Wirtschaft und Menschenrechte und einer der Autoren der Studie.

Steffen Vogel, Oxfam-Experte für globale Lieferketten und ebenfalls Mitautor der Studie, ergänzt: „Während Arbeiterinnen mit Hungerlöhnen abgespeist werden, machen die Supermärkte auf ihre Kosten satte Gewinne.“

Was eine Plantagenarbeiterin in Costa Rica in einem Jahr verdient, streicht Lidl- und Kaufland-Eigentümer Dieter Schwarz in sechs Sekunden ein.

Das sieht man auch an den Preisen im Supermarkt: Von einer Flasche Wein, die für 3 Euro verkauft wird, kommen nur circa drei Cent bei den Farmarbeiterinnen in Südafrika an. Die Anteile am Verkaufspreis von Tankwein aus Südafrika. 51,7 % verdient der Einzelhandel, 1,2 % gehen als Löhne an die Arbeiter*innen (Quelle: Berechnungen für Wein nach Daten von VinPro, UN Comtrade, UNCTAD, OECD, DeStatis (2019).

Supermärkte müssen endlich Verantwortung übernehmen

Eins ist klar: Es muss sich etwas ändern. Wir fordern von den Supermärkten daher,

für die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Lieferketten zu sorgen;
ihren Zulieferern gerechte Preise zu zahlen, anstatt enormen Preisdruck auszuüben;
die Zahlung existenzsichernder Löhne bei Erzeuger*innen sicherzustellen.

Auch die Bundesregierung ist in der Pflicht: Sie muss das 2021 verabschiedete deutsche Lieferkettengesetz ambitioniert umsetzen, damit es Betroffenen wirklich nutzt. Zudem muss sich die Bundesregierung für ein starkes EU-Lieferkettengesetz einsetzen, das Betroffenen von Arbeitsrechtsverletzungen Zugang zu effektivem Rechtsschutz verschafft.

Wir brauchen endlich ein Gesetz, das den Menschen und unserem Planeten wirklich nutzt!"

"Oxfam zu Lieferketten"

24.02.2022 09:24
Werden Unternehmen durch die EU ernsthafter mit einem Lieferkettengesetz in die Pflicht genommen?
Die EU-Kommission will Firmen zwingen, Menschenrechte und Umwelt bei der Herstellung ihrer Produkte zu schützen. Sie geht viel weiter als Deutschland mit seinem Lieferkettengesetz. Damir Fras beschreibt heute in der Rundschau, was das Vorgehen der EU-Kommission für deutsche Unternehmen und für Menschenrechtsgeltung bedeutet.

„In Deutschland ist ein Lieferkettengesetz bereits beschlossen. Jetzt zieht die EU mit einem eigenen Gesetz nach. Große Unternehmen sollen künftig keine Gewinne mehr mit Produkten machen, die mit Hilfe von Kinder- oder Zwangsarbeit hergestellt werden, die Umwelt zerstören oder das Klima belasten. Das Gesetz folgt einer in den letzten Jahren immer intensiver geführten Debatte über uigurische Zwangsarbeit in chinesischen Arbeitslagern, die Zustände in Textilfabriken in Pakistan und Bangladesch und Umweltverschmutzungen der Ölindustrie in Nigeria. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach am Mittwoch bei der Vorstellung des Entwurfs in Brüssel von „einem starken Signal“ der EU: „Geschäfte dürfen niemals auf Kosten der Menschenwürde und der Freiheit gemacht werden.“ Was plant die EU genau? Ein Überblick.

Was müssen Unternehmen künftig leisten?

Die Firmen müssen nach dem am Mittwoch vorgestellten Gesetzesentwurf genau darauf achten, dass ihre ausländischen Produzenten, Zwischenhändler und Lieferanten nicht gegen Menschenrechte verstoßen oder die Umwelt zerstören. Konkret heißt das zum Beispiel: Ein deutsches Unternehmen, das Kakaobohnen vertreibt, muss sicherstellen, dass bei Anbau und Ernte der Bohnen keine Kinder eingesetzt werden. Die Lieferanten des Unternehmens, in diesem Fall zum Beispiel Reedereien, werden verpflichtet, Umwelt- und Klimastandards zu beachten.

Welche Unternehmen sind betroffen? In die Pflicht genommen werden Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten und mehr als 150 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Nach Angaben der EU-Kommission sind das etwa 9400 Unternehmen. Dazu kommen etwa 2600 Firmen, die ihren Sitz nicht in der EU haben, aber im EU-Binnenmarkt Geschäfte machen.

Die Auflagen sollen zudem für Firmen gelten, die mehr als 250 Beschäftigte und einen Jahresumsatz von mehr als 40 Millionen Euro haben, wenn sie mehr als die Hälfte des Umsatzes in sogenannten Risikosektoren machen. Dazu gehören die Textilbranche, die Landwirtschaft, der Mineralienabbau und die Ölförderung. Das trifft etwa 3400 Unternehmen aus der EU und 1400 Unternehmen, die ihren Hauptsitz nicht in der EU haben.

Kleinere Firmen sind von dem Lieferkettengesetz ausgenommen, aber indirekt davon betroffen, wenn sie etwa als Zulieferer für größere Unternehmen arbeiten.

Welche Strafen gibt es bei Verstößen gegen das Gesetz?

Das ist in dem Gesetz nicht genau geregelt. Die EU-Mitgliedstaaten sollen die Sanktionen festlegen, wenn es Verstöße gegen die Sorgfaltspflicht gibt. In dem Gesetz ist von einem Haftungsmechanismus die Rede, der Opfern von Menschenrechtsverletzungen den Zugang zu Gerichten erleichtern soll. Auch müssen Geschäftsführer:innen die Vorgaben des EU-Klimaplans in ihre Unternehmenspläne integrieren.

Wirtschaft und Menschenrechte

Ausgangspunkt für die menschenrechtliche Sorgfalt in globalen Lieferketten sind die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte (UNGP). Nach diesen Prinzipien soll der Schutz der Menschenrechte weltweit in Form von „Nationalen Aktionsplänen“ (NAP) umgesetzt werden.

Deutschland verabschiedete im Dezember 2016 einen NAP zu Wirtschaft und Menschenrechten und vertraute dabei zunächst auf das freiwillige Engagement der Unternehmen, diesen entsprechend umzusetzen. Ein unabhängiges Monitoring zeigte aber, dass nur 17 Prozent der größeren Unternehmen die Anforderungen zur Beachtung der Menschenrechte erfüllten – weit weniger als das von der großen Koalition vorgegebene Ziel von mindestens 50 Prozent.

Der Bundestag verabschiedete daher am 11. Juni 2021 das innerhalb der Bundesregierung hart umkämpfte Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz. Wirtschaftsverbände gingen von Anfang an gegen eine solche Regulierung auf die Barrikaden.

Die Industrielobby BDI warnte vor einem „nationalen Sonderweg“ und forderte stattdessen ein EU-Rahmenwerk, um ein europäisches Level-Playing-Field – also gleiche Bedingungen für alle Firmen – zu schaffen. Aber auch gegen eine EU-weite Regulierung ziehen Wirtschaft und Arbeitgeber zu Felde, wie Recherchen des Global Policy Forum und von Misereor zeigen. Zentrales Ziel ist dabei, eine zivilrechtliche Haftung der Unternehmen bei Menschenrechtsverstößen und Sanktionen wie den Ausschluss von der öffentlichen Auftragsvergabe auszuschließen. tos

Was haben Verbraucher:innen von dem Gesetz?

„Verbraucherinnen und Verbraucher können aufatmen“, sagte die Vorsitzende des Binnenmarktausschusses im Europaparlament, Anna Cavazzini (Grüne), dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). „Denn sie können sicher sein, dass die Produkte, die sie kaufen, dank der kommenden EU-Vorschriften nachhaltiger und fairer produziert werden.“

Welche Unterschiede gibt es zum deutschen Lieferkettengesetz?

Das deutsche Lieferkettengesetz, das von 2023 an gelten soll, gilt zunächst nur für Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten. Von 2024 an sinkt diese Schwelle auf 1000 Beschäftigte. Cavazzini sagte: „Der Vorschlag für ein europäisches Lieferkettengesetz geht bedeutend weiter als das deutsche Gesetz.“ Die neuen EU-Regeln zur Sorgfaltspflicht „sollen für viel mehr Unternehmen gelten und auch indirekte Zulieferer in der Wertschöpfungskette umfassen“. Der Vorschlag beinhalte konkrete Vorgaben zu umweltbezogenen Sorgfaltspflichten. „Vor allem aber enthält das europäische im Gegensatz zum deutschen Lieferkettengesetz Haftungsklauseln, die sicherstellen, dass Unternehmen vor EU-Gerichten zur Verantwortung gezogen werden können, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen“, so Cavazzini.

Was ist die Kritik an dem EU-Vorschlag?

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnte vor einer Überlastung deutscher Unternehmen. „Es drohen enormer Aufwand und hohe Kosten – für vergleichsweise wenig Wirkung“, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. Ähnlich äußerte sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI). „Der Entwurf droht Unternehmen zu überfordern. Angesichts der Größe der Herausforderung ist es falsch, die Aufgabe des Schutzes von Menschenrechten und Umwelt in dieser Form auf die Unternehmen abzuwälzen“, sagte Wolfgang Niedermark, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung.

Dagegen begrüßte das Bündnis „Initiative Lieferkettengesetz“, in dem Gewerkschaften und Umweltverbände vertreten sind, den Gesetzentwurf. Er gehe jedoch nicht weit genug. Auch kleinere Unternehmen müssten zu mehr Sorgfalt verpflichtet werden.

Wann tritt das EU-Gesetz in Kraft?

Der Gesetzgebungsprozess dauert anderthalb bis zwei Jahre. Danach haben die EU-Staaten zwei Jahre Zeit, um ihre Lieferkettengesetze anzupassen. Die schärferen Verordnungen dürften also in Deutschland nicht vor 2026 gelten“.

23.02.2022 09:50
Lieferkettengesetz muss strenger werden
Auf größere Unternehmen in der EU könnten bald strengere Regeln gegen Menschenrechtsverstöße und Umweltzerstörung in ihren Lieferketten zukommen.

Die EU-Kommission stellt an diesem Mittwoch einen Gesetzesvorschlag vor, mit dem Firmen zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie nicht darauf achten, dass ihre Lieferanten sich an bestimmte Mindeststandards halten. In einem Entwurf heißt es, dass Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern betroffen seien. Für Branchen mit einem hohen Risiko für Verstöße gegen Arbeits- und Umweltstandards soll die Grenze bei 250 liegen. Der Entwurf liegt der Deutschen Presse-Agentur vor und kann noch geändert werden.

In Deutschland sind die Regeln weniger streng: Unternehmen mit mehr als 3000 Angestellten müssen ab 2023 sicherstellen, dass in ihren Lieferketten Menschenrechte eingehalten werden und die Umwelt nicht zerstört wird. Ein Jahr später sinkt diese Grenze auf 1000. Bei Verstößen sind Bußgelder und der Ausschluss von öffentlichen Ausschreibungen vorgesehen. Der Bundestag hat im vorigen Juni das entsprechende Gesetz verabschiedet. Sollten die EU-Länder und das EU-Parlament dem Vorschlag der Kommission zustimmen, müsste das deutsche Lieferkettengesetz voraussichtlich angepasst werden.

Über Lieferkettengesetze wird schon länger diskutiert. Größere Öffentlichkeit bekommt das Thema zumeist, wenn Missstände wie Kinderarbeit und Hungerlöhne in Entwicklungsländern ans Licht kommen oder es zu schweren Arbeitsunfällen kommt. So stürzte 2013 etwa in Bangladesch eine achtgeschossige Textilfabrik in knapp 90 Sekunden ein. Rund 1100 Menschen starben in den Trümmern.

Das aktuelle Lieferkettengesetz ist zu schwach. Das zeigt auch "Warum das Lieferkettengesetz derzeit zu schwach ist"

06.12.2021 12:01
Killerroboter sind schon im Einsatz - Kriege wahrscheinlicher und noch grausamer
Künstliche Intelligenz (KI) verändert Kriege dramatisch und – macht sie wahrscheinlicher. Die UN nehmen wieder einen Anlauf für ein Abkommen gegen den kriegerischen Gebrauch von künstlicher Intelligenz. Darüber schreibt Jan Dirk Herbermann in der Frankfurter Rundschau (3.12., S. 7):

>>Mehr als sieben Jahre schon ziehen sich die internationalen Gespräche über Killerroboter bei den Vereinten Nationen in Genf hin. Weiterhin steht der eine entscheidende Schritt aus: eine klare Empfehlung an die Regierungen der Welt, mit Verhandlungen über ein Verbot der „tödlichen autonomen Waffensysteme“ zu beginnen. An diesem Donnerstag gingen die Beratungen von Diplomat:innen und Fachleuten im Rahmen der UN-Konvention über konventionelle Waffen in die nächste Runde. Eine Woche ist dafür veranschlagt.

Friedeninitiativen verlangen vehement die Ächtung der Kriegsmaschinerie, die ohne jede menschliche Kontrolle töten kann – und so den Krieg revolutioniert. „Die internationale Staatengemeinschaft muss endlich Verhandlungen für einen robusten, rechtlich bindenden internationalen Vertrag aufnehmen, um die Entwicklung und Verbreitung von Killerrobotern zu stoppen“, verlangt Mathias John von Amnesty International.

Kaum jemand glaubt an einen Erfolg der Konferenz

Doch einem Erfolg der Konferenz gibt kaum jemand eine Chance. Allenfalls könnten die Staaten das Mandat für die Beratungen verlängern – damit würden die Gespräche dann aber endgültig zur Farce. „Vielleicht wird noch ein Jahr drangehängt“, sagt Thomas Küchenmeister von der Internationalen Kampagne zum Verbot der Killerroboter.

Den Stillstand verantworten vor allem die großen Militärmächte USA und Russland. Sie sperren sich gegen ein völkerrechtlich verbindliches Verbot. In ihrem Windschatten folgen Länder wie Israel, die autonome Waffensysteme für ihr Militär als unverzichtbar betrachten.

Doch es ginge auch ohne die Bremser. „Wenn bei den Genfer Gesprächen wieder nichts Entscheidendes herumkommt, könnten die erklärten Gegner der Killerroboter mit Verbotsverhandlungen außerhalb der Konvention über konventionelle Waffen beginnen“, erklärt Küchenmeister. Besonders Österreich, Irland und Mexiko pochen auf ein Verbot.

Als Vorbild für ein solches Abkommen könnte nämlich der 2008er Vertrag zur Ächtung von Streumunition dienen. Jahrelang behinderten Washington und Moskau die Verhandlungen über die heimtückischen Waffen in den üblichen UN-Abrüstungsgremien. Darüber waren Norwegen und andere Staaten derart verärgert, dass sie einen Prozess außerhalb der UN anstießen, ohne die USA und Russland. Am Ende stand das Verbot.

Guterres: Killerroboter „moralisch abstoßend“

Warum sollten die Staaten nun Killerroboter verbieten? Besonders eindringlich beantwortet UN-Generalsekretär António Guterres das: „Autonome Maschinen, die ohne menschliches Zutun Ziele auswählen und Leben vernichten, sind politisch inakzeptabel (und) moralisch abstoßend.“ Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz macht klar: Entscheidungen „über Leben und Tod auf dem Schlachtfeld dürfen nicht Maschinen übertragen werden“.

Nach Meinung kritischer Fachleute stoßen autonome Waffensysteme die Tür auf zu einer immer brutaleren Kriegsführung. Die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die Abschätzung der Folgen bestimmter Aktionen, Verantwortung für das eigene Tun, Verhältnismäßigkeit – das alles würde verschwinden. Aktivist Küchenmeister betont zudem: „Es ist zu befürchten, dass allein die Verfügbarkeit autonomer Kampfroboter die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen erheblich erhöhen wird.“

Human Rights Watch listet die USA, Großbritannien, China, Israel, Russland und Südkorea als diejenigen Staaten auf, die bei der Entwicklung der Roboter sehr weit sind. Das Friedensforschungsinstitut in Stockholm (Sipri) berichtete 2017 von mindestens 381 autonomen Systemen zu militärischen Zwecken. Künstliche Intelligenz bildet die Grundlage für die Systeme. Sie sind oft fest verankert, zum Beispiel auf Kriegsschiffen, zum Schutz militärischer oder ziviler Einrichtungen, auch von Atomanlagen. Südkorea lässt die Grenze zu Nordkorea von Robot-Waffen überwachen. Mobile Systeme brauchen nicht unbedingt einen Marschbefehl. Als ein führender Anbieter gilt die israelische Firma Rafael Advanced Defense Systems, die das Panzerabwehrsystem Trophy anbietet. Die Firma Elbit, ebenfalls aus Israel, präsentierte im September das System Arcas, das Sturmgewehre digital vernetzt.
Killerroboter: Herumlungernde Drohnen

Zu autonomen Waffensystemen zählt man auch „loitering munitions“, zu Deutsch: herumlungernde Sprengkörper. Der deutsche Bundeswehrverband definiert diese unter Berufung auf das Fachblatt „Soldat & Technik“ als unbemannt fliegende Systeme mit Lenkfunktion, „die ohne präzise Zielkoordinaten auf Verdacht gestartet werden können und im Anschluss über eine längere Zeit über einem Zielgebiet kreisen, bis ein lohnendes Ziel entdeckt und bekämpft wird“. Angeblich sollen diese Kamikazedrohnen den jüngsten Konflikt in Berg-Karabach mitentschieden haben.

Auf eine Anfrage zu Entwicklungen und Marktvolumen autonomer Waffensysteme antwortet der Düsseldorfer Konzern Rheinmetall, bei ihm sei man „davon überzeugt, dass der Mensch im Falle eines Waffeneinsatzes die Entscheidungsgewalt behalten muss“. Autonome letale Systeme lehne man ab. Rheinmetall entwickelt allerdings in Kooperation mit dem Schweizer Konzern Oerlikon das Flugabwehrsystem „Skyshield“ – mit „unbemannter Erfassungs- und Verfolgungssensoreinheit“ und mit „unbemannten Geschützen“. Laut Werbevideo nur gegen Drohnen gerichtet.<<.

01.11.2021 12:31
200 Millionen Dollar für einen Whistleblower
Wenn das hierzulande Schule machte! Ein Whistleblower erhält in den USA knapp 200 Millionen Dollar von der US-Aufsicht als Belohnung, weil er den Skandal mit aufdeckte, dass die Deutsche Bank Referenzzinssätze manipulierte, um größere Gewinne einzustreichen. In Deutschland sind Whistleblover von Staat und Recht verlassen, kämpfen oft einen einsamen Kampf, riskieren berufliche Existenz und Einkommen, oft auch Gesundheit und ihr soziales Umfeld. Seit Jahren bremsen die deutsche Regierungen ein Whistleblowing-Gesetz nach us-amerikanischem oder britischen Vorbild aus.

Während der Finanzkrise soll die Deutsche Bank wichtige Referenzzinssätze künstlich niedrig gehalten haben – unter anderem beim Libor. Ein Ex-Mitarbeiter des Geldhauses deckte den Skandal um die manipulierten Zinssätze auf und erhält dafür einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters zufolge nun eine üppige Belohnung.

Die US-Aufsichtsbehörde CFTC zahle dem Mann eine Rekordsumme von fast 200 Millionen Dollar, heißt es in dem Bericht unter Berufung auf Insider. Die U.S. Commodity Futures Trading Commission (CFTC), die für die Kontrolle der Derivatemärkte zuständig ist, kündigte die Belohnung in einer Mitteilung an, nannte aber keine näheren Details.

Strafen in Milliardenhöhe

In den vergangenen Jahren hatten Behörden weltweit Strafen in Milliardenhöhe gegen Banken und Händler verhängt sowie Strafverfahren angestrengt, nachdem die langjährigen Manipulationen wichtiger Referenzzinssätze aufgeflogen waren.

In den USA wurde vor Kurzem ein Gesetz verabschiedet, um das CFTC-Whistleblower-Programm aufrechtzuerhalten. Das »Wall Street Journal« hatte im Mai berichtet, das Programm sei aufgrund einer erwarteten hohen Auszahlung an einen Deutsche-Bank-Manager gefährdet.

Diese stehe im Zusammengang mit dem Vergleich in Höhe von 2,5 Milliarden Dollar, auf den sich die Deutsche Bank vor einigen Jahren mit Aufsehern wegen der Libor-Manipulationen geeinigt hatte. Die CFTC lehnte eine Stellungnahme unter Hinweis auf die Politik der Behörde ab.

Der Whistleblower war laut Reuters ehemals bei der Deutschen Bank beschäftigt, wie es unter Berufung auf zwei Insider hieß. Das Geldhaus lehnte am Freitag eine Stellungnahme ab. Die Kanzlei Kirby McInerney teilte mit, die von ihr vertretene Person habe die Rekordsumme zugesprochen bekommen, da sie 2012 umfangreiche Informationen und Dokumente zur Verfügung gestellt habe. Dies habe Untersuchungen der CFTC und einer ausländischen Behörde beschleunigt. Den Namen der Person nannte sie nicht.

Die bislang größte Belohnung, die laut Reuters für einen Whistleblower bislang vergeben wurde, beläuft sich auf 114 Millionen Dollar und wurde von der Wertpapieraufsichtsbehörde gewährt. Der nun auszuschüttende Betrag sei »überwältigend«, sagte Erika Kelton, eine Whistleblower-Anwältin bei der Kanzlei Phillips & Cohen LLP.

mit Material von apr/Reuters

Zum Whistleblowing
"Was ist Whistleblowing?"

"Beratung und Hilfe beim Whistelblowing"

12.10.2021 13:44
Tempo 130 auf Autobahnen – Wenn Verbote nötig sind
Michael Herl bringt es auf den Punkt; >>Eigentlich wäre es ja – wie so oft – ganz einfach. Das menschliche Miteinander könnte von solch einer segensreichen Selbstverständlichkeit geprägt sein, wie es sie nicht einmal im Märchen gibt. Dort sogar am wenigsten, denn solche Fabelerzählungen sind ja bekanntlich erst recht keine immerfort blühenden Landschaften der Glückseligkeit, sondern strotzen nur so vor Hass, Neid, Missgunst, Brutalität und Beutelschneiderei.

Warum also sollte es im richtigen Leben anders sein? Ist es ja auch nicht. Es ist sogar so wenig anders, dass ohne gegenseitige Kontrolle, Verbote, Gesetze, Erlasse und Strafen das Hauen und Stechen in unserer Gesellschaft noch ausufernder wäre, als es ohnehin schon ist.

Impfpflicht – Wie weit geht „persönliche Freiheit“ und wie definieren wir diese
Berühmtestes aktuelles Beispiel für ein Für und Wider von Regeln ist die Diskussion um eine Impfpflicht gegen Covid-19. Kernthema der Auseinandersetzung ist hier, wie weit der Begriff „persönliche Freiheit“ definiert werden darf.

Dabei gilt diese Frage in vielen anderen Bereichen längst als beantwortet. Zum Beispiel im Straßenverkehr. Niemand fühlt sich in seiner Entfaltung beschränkt, weil er nicht ohne Führerschein oder mit zehn Bier im Kopf Auto fahren darf. Das wird widerspruchslos eingesehen – aber dennoch ständig gemacht. Nicht selten gar in Kombination.

Autobahn und Tempolimit – Stück Freiheit oder Großmannssucht?

Ähnlich ist es bei der zulässigen Höchstgeschwindigkeit. Tempo 30 vor Schulen wird allgemein als vernünftig erachtet. Gleiches prinzipiell innerhalb von Ortschaften und Städten findet schon mehr Kritikerinnen und Kritiker. Die meisten Gegner aber hat die Begrenzung auf 130 Stundenkilometer auf Autobahnen. Da fühlt sich denn eine ganze Nation inklusive Regierung und Industrie gefesselt, geknebelt und bei Brot und Kerzen eingekerkert.

„Autobahn“, das ist seit Adolf Hitler das Synonym schlechthin für die Großmannssucht einer Nation, für die Leistungsfähigkeit eines Volkes, für die Freiheit einiger Auserwählter inmitten einer Welt von Geknechteten, deren Armseligkeit sich darin äußert, nicht so schnell fahren zu dürfen, wie sie wollen.

Verbote im Straßenverkehr – Ganz oder gar nicht

Was da hilft? Richtig. Eine Entnazifizierung. Und wie geht die? Das lehrt uns die Geschichte. Sie funktioniert ausschließlich durch Verbote, Gesetze, Erlasse und Strafen. Mit Setzen auf Vernunft kommt man da nicht weit. Wie weit, das sieht man seit 1978 an dem zahnlosen Tiger namens „Richtgeschwindigkeit“. Da könnte man genauso gut auch eine Keuschheitsempfehlung in Bordellen aussprechen. Wer da hingeht, will nur das Eine, und genau das wollen auch jene, die sich mit PS-strotzenden Blechhaufen auf die Autobahn stürzen.

Würden die stattdessen ihre Triebe im Freudenhaus befriedigen, wäre der Welt geholfen. Tun sie aber nicht. Oder nicht oft genug – und ergehen sich ersatzweise im Straßenverkehr. Also müssen Verbote her.

Bundesregierung: Mit Bußgeldern zum Ziel?

Das hat nun endlich auch die Bundesregierung erkannt und Bußgelder für Verkehrsdelikte nach oben geschraubt. So kostet nun zu schnelles Fahren bis zu 600 Euro. Ein netter Versuch. Aber immer noch zu wenig.

Vor allem fehlt in der Novelle etwas, das seit Jahrzehnten mehr als überfällig ist und sogar der neuen (ihr aufgezwungenen) umweltgerechten Philosophie der Autoindustrie entspräche, aber immer noch an der Starrköpfigkeit einiger Vorgestriger scheitert: Tempo 130 auf Autobahnen<<.

Michael Herl in Frankfurter Rundschau 12.10.2021 S. 30

05.10.2021 14:38
Facebook, Instagram, WhatsApp - Hass, Manipulation und FakeNews für Geldmaximierung
„Die heute existierende Version von Facebook reißt unsere Gesellschaften auseinander und löst ethnische Gewalt rund um die Welt aus“, sagt in „60 Minutes“ die 37-jährige Frances Haugen, die 13 Jahre bis Mai 2021 bei Facebook gearbeitet hat. Facebook ist „eine Geldmaschine, die unsere Gesellschaften zu zerreißen droht“, sagen die preisgekrönten Journalistinnen Cecilia Kang und Sheera Frenkel in ihrem Buch „Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit“ (An Ugly Truth. S. Fischer 2021).

Haugen sagte laut Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) dem „Wall Street Journal“, sie sei frustriert gewesen, weil Facebook nicht ausreichend offen damit umgehe, dass das Online-Netzwerk Schaden anrichten könne. Zu ihrem Job bei Facebook, den sie im Mai nach rund zwei Jahren aufgab, habe der Kampf gegen Manipulationsversuche bei Wahlen gehört. Sie habe jedoch schnell das Gefühl gehabt, dass ihr Team zu wenig Ressourcen habe, um etwas zu bewirken.

Facebook stellte eigene Interessen in den Fokus

Auch sei ihr Eindruck gewesen, dass Facebook weiter auf Wachstum gesetzt habe, obwohl dem Unternehmen negative Auswirkungen der Plattform auf die Nutzerinnen und Nutzer bekannt gewesen seien. „Es gab Interessenkonflikte zwischen dem, was für die Öffentlichkeit gut war und was für Facebook gut war“, sagte Haugen bei „60 Minutes“. Und Facebook habe sich immer und immer wieder dafür entschieden, für eigene Interessen das Geschäft zu optimieren.

Der Demokrat Ed Markey verglich die Vorgehensweise des Online-Netzwerks vor allem bei Instagram, das wie WhatsApp zu Facebook gehört, mit verantwortungslosem Handeln der Tabakindustrie. „Instagram ist diese erste Zigarette der Kindheit“, die Teenager früh abhängig machen solle und am Ende ihre Gesundheit gefährde, sagte Markey unter anderem. „Facebook agiert wie die großen Tabakkonzerne: Sie verbreiten ein Produkt, von dem sie wissen, dass es der Gesundheit junger Menschen schadet.“
Haugen beantragte bei US-Behörden offiziell Schutz als Whistleblowerin – so werden Mitarbeitende genannt, die durch Weitergabe von Informationen Missstände aufdecken wollen.

Auf die Frage von Bascha Mika in der Frankfurter Rundschau „Wie steht es um den Schutz von Whistleblowing hierzulande?“ antwortet der Geschäftsführer der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ Christian Mihr: „Es gibt seit zwei Jahren die Whistleblower-Schutzrichtlinie der EU, die bis zum 17. Dezember in nationales Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt werden muss. Doch Deutschland hat das bisher nicht getan und auch keine Schritte dafür in die Wege geleitet. Hintergrund ist die Diskussion in der großen Koalition, wie weitreichend dieses Gesetz sein soll. Die Richtlinie will Whistleblowing im EU-Rahmen schützen. Hierzulande geht es aber auch um die Frage, inwieweit das Gesetz dann im nationalen Zusammenhang gilt und eine Schutzfunktion hat“.

Und auf die Frage: „Was wäre erforderlich, um Whistleblowing weltweit zu schützen?“ sagt er: „Einen juristischen Rahmen, der zum Beispiel durch eine völkerrechtliche Konvention die Bedeutung von Whistleblowing weltweit betont. Kleiner gebacken bräuchte es hierzulande erst mal die Umsetzung der EU-Richtlinie in nationales Recht. Gekoppelt mit einem besseren Schutz von digitaler Kommunikation, die Überwachung verhindert. Denn sonst lässt sich die vertrauliche Kommunikation mit Whistleblower:innen ja nicht sichern.“

Dass es bis heute keine Whistleblower-Schutzgesetz in Deutschland gibt, ist ein Skandal. Das kann nur damit erklärt werden, dass es zu viele politische Entscheider gibt, die Whistleblowing zu befürchten haben (Stichwort: Maskendeals) oder die unter steuerndem Druck aus Wirtschaft und Kapital stehen. Hier braucht es künftig mehr Druck aus der Zivilgesellschaft, NGOs, Medien und, Journalisten. Es muss sich was ändern.


Bei Whistleblowing
"Information über Whistleblowing"
"Hilfe bei Whistleblowing"
"Was Wikileaks für Journalismus und Whistleblowing bedeutet"
"Ex-Facebook-Mitarbeiterin packt aus"

01.10.2021 10:38
Weltkaffeetag: Fair gehandelter Kaffee - „Steuer für fairen Kaffee aussetzen“
Noch-Entwicklungsminister Müller appelliert an die kommende Bundesregierung, fair gehandelten Kaffee günstiger zu machen. Das habe Olaf Scholz schon vor Jahren versprochen. Es gibt aber auch fairen Kaffee, der nicht so heißt.

Ein sehr gutes Beispiel ist indigena von den Genossenschaft FEDECOCAGUA in Guatemala, der hierzulande in Partnerschaft von der action365 vertrieben wird. Unter dem Siegel „gerecht handeln“ gibt es folgende Garantien zum Vorteil der Kaffeebauern: mindestens 15% Aufpreis, langfristige Abnahmeverträge, Mindestabnahme zur Existenzsicherung. Die Käufer bekommen beste Arabica-Hochlandqualität, volles Aroma, Kaffee ergiebig im Verbrauch und ohne Pestizide angebaut.
"Gerecht gehandelter Spitzenkaffee aus dem Hochland von Guatemala"

Ein solcher Kaffee läuft aber nicht unter „faire trade“, weil das Siegel sehr teuer und der Genossenschaft Kosten aufbürden würde, die stattdessen in die Bildung und die Weiterentwicklung der Genossenschaft gesteckt wird. Denn im Dachverband FEDECOCAGUA sind 148 lokale Kaffeebauern-Genossenschaften im guatemaltekischen Hochland organisiert, denen rund 23.000 Kleinbauernfamilien angehören. Eine große Erfolgsgeschichte. Doch wie können auch sie profitieren, wenn die Steuer für fairen Kaffee ausgesetzt wird? Tim Szent-Ivanyi berichtet in der Frankfurter Rundschau:

„Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) hat eine neue Regierungskoalition aufgefordert, fair gehandelten Kaffee von der Kaffeesteuer zu befreien und so den Verkauf anzukurbeln. „Die neue Regierung muss endlich handeln und die Kaffeesteuer für fairen Kaffee aussetzen. Das hatte Olaf Scholz als Bürgermeister von Hamburg selbst gefordert und als Finanzminister nicht umgesetzt“, sagte Müller dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

„Für die Verbraucher würde fairer Kaffee dann in etwa so günstig wie herkömmlicher Kaffee“, so der Minister. „Das wäre eine wirksame Maßnahme gegen Kinderarbeit, denn die Eltern auf den Kaffeeplantagen bekämen endlich anständige Einkommen für ihre harte Arbeit“, fügte er hinzu.

Die meisten Bäuerinnen und Bauern in den Kaffeeplantagen lebten in Armut und hungerten, sagte Müller. Fairer Kaffee könne das ändern, doch dessen Anteil stagniere seit Jahren. Gerade einmal sechs Prozent sei fair gehandelt, beklagte er. Deutschland sei außerdem eines der wenigen Länder, die überhaupt eine Kaffeesteuer erhöben. „Der Preisdruck bei den Einzelhändlern wird so noch stärker an die Bauern weitergegeben“, kritisierte der CSU-Politiker.

Nur 25 Cent je Päckchen

Müller sagte, Deutschland sei größter Exporteur von Kaffee in der Welt. Der Rohkaffee werde hierzulande geröstet und komme dann für vier bis sechs Euro pro Päckchen in die Läden. „Für die Kaffeebohnen erhalten die Bauern aber gerade einmal 25 Cent. Ich habe das selbst auf den Plantagen in Ostafrika gesehen“, so der Minister, der nicht wieder für den Bundestag kandidiert hat und im Januar seinen neuen Posten als Chef der UN-Organisation für industrielle Entwicklung antritt.

Die Kaffeesteuer beträgt 2,19 Euro pro Kilo. Würde die Kaffeesteuer für fairen Kaffee abgeschafft, könnte nach Angaben des Entwicklungsministeriums ein 500-Gramm-Päckchen fair gehandelter Kaffee, das derzeit etwa sieben Euro kostet, für 1,10 Euro weniger angeboten werden.

„Bund, Länder und Kommunen sollten bis dahin selbst vorangehen: In jedem Rathaus, in jeder Amtsstube, in jeder Kantine sollte nur noch fairer Kaffee beschafft und getrunken werden“, forderte der scheidende Minister“.

Es wäre an der Zeit, dass jeder Kaffee, der fair, sozial und ökologisch verträglich im Sinne von 'gerecht handeln' produziert und gehandelt wird, von der Kaffeesteuer befreit wird.
"Gerecht gehandelter Spitzenkaffee aus dem Hochland von Guatemala"

07.09.2021 20:48
Skandal: Mordaufruf gegen grüne Wähler und Politiker von sächsicher Behörde geduldet
Skandal der sächsischen Behörden beim Umgang mit Mordaufruf

Sachsens Behörden tolerieren Plakate mit Mordaufruf, meldet Spiegel Online heute:

>>Die rechtsextreme Partei »Der III. Weg« hetzen in mehreren Städten gegen Grüne. In Bayern wurden die Plakate entfernt, in Sachsen blieben sie laut einem Medienbericht hängen. Die Rechtfertigung der Behörden ist kurios.
Es ist eine Provokation, ganz typisch für Rechtsextremisten: Man ruft zu Gewalt auf, bleibt aber ausreichend im Ungefähren, um hinterher sagen zu können, das sei doch alles ganz anders gemeint gewesen. Diese Masche reicht offenbar, um in Sachsen einen Mordaufruf plakatieren zu dürfen.

»Hängt die Grünen« und »Wählt Deutsch« steht auf Plakaten, welche die rechtsextreme Kleinpartei »Der III. Weg« nach einem Bericht des »Tagesspiegel« beispielsweise in Zwickau, Plauen, Auerbach und Werdau aufgehängt hat. Aufgetaucht seien die Plakate erstmals am Sonntag und seien beispielsweise in Zwickau genau vor der Parteizentrale der Grünen platziert worden.

Dass sie dort vorerst bleiben dürfen, begründeten sächsischen Behörden damit, dass ja nicht klar sei, welcher Grüne genau getötet werden solle. Man wisse nicht, »wer konkret angesprochen wird«, sagte ein Sprecher der Zwickauer Staatsanwaltschaft dem »Tagesspiegel«. Sowohl Politiker wie auch Wähler der Partei könnten gemeint sein. Zudem sei keine konkrete Bedrohungslage ausgemacht worden. Allerdings sei es möglich, dass die Stadt in den kommenden Tagen eine Verbotsverfügung für das Plakat erlasse.

Die örtlichen Grünen reagierten laut dem Bericht schockiert. Der Bundestagskandidat Wolfgang Wetzel sprach demnach von »einer Attacke auf Demokratie und Anständigkeit«, Kreissprecher Thomas Doyé sagte, man erwarte, dass die Plakate umgehend entfernt werden.

Anders scheint die Polizei in München mit dem Plakat umzugehen: Ein bei Twitter gepostetes Foto zeigt die Beamten offenbar beim Abhängen der Kampagne.<<

"Meldung aus Spiegel Online"



19.08.2021 12:22
Brutalität in religiöser Verkleidung – organisierte Unfairness und Frauenfeindlichkeit
Mit der Afghanistan-Expertin Friederike Stahlmann sprach Bascha Mika heute für die Frankfurter Rundschau über zerstörte Perspektiven für Mädchen und Frauen, Pragmatismus im Land und die alten patriarchalen Strukturen. Sie zeichnet ein Bild für die Lage von Frauen und Mädchen, das uns beschämen muss, nachdem Deutschland zusammen mit Alliierten 20 Jahre Verantwortung für das Land übernommen und nun abrupt die Menschen im Stich gelassen hat – und nicht nur das: die meisten der mit deutschen Kräften vertrauensvoll kooperierenden Menschen in Afghanistan haben sich durch ihre Arbeit und Mitarbeit sowie die Teilübernahme westlicher Werte und Praktiken in höchste Gefahr gebracht. Was sich Deutschland mit dem abrupten Abzug der Bundeswehr geleitet hat, ist ein beispielloser Fall internationaler Unfairness und Brutalität, die nicht dadurch gemildert wird, dass die USA schlechtbeispielgebend vorangegangen sind.

Frau Stahlmann, Sie haben lange in Afghanistan gelebt. Wie geht es Ihnen, wenn Sie jetzt die Bilder aus Kabul sehen?

Das ist im höchsten Maße verstörend. Die Menschen in Afghanistan zeichnete immer eine fast absurd anmutende Zukunftshoffnung aus. Daran haben sie festgehalten, selbst wenn diese Hoffnung unrealistisch war und man dafür einen unglaublichen hohen Preis zahlen musste. Immer wieder habe ich gehört: Es wird sich schon ein Weg finden! Und jetzt zu erleben, dass diese Hoffnung zerstört wird, dass diese Menschen es nicht mehr schaffen, überhaupt Hoffnung aufzubringen – das ist vernichtend.

Was hören Sie von den Menschen, mit denen Sie Kontakt haben?

Vor allem sehr verzweifelte Hilferufe. Bitten, ob ich irgendetwas tun kann, um sie außer Landes zu bringen, um ihnen einen letzten Flug zu verschaffen, um sie und ihre Familien zu schützen. Das sind Strohhalme, an die sich die Menschen noch klammern, und ich muss ihnen dann diese letzte Hoffnung zerstören. Denn ich sehe keinen politischen Willen, ihnen zu helfen. Während das erste Evakuierungsflugzeug von Kabul aus mit sieben Passagieren gestartet ist, war der ganze Flughafen voll mit Verzweifelten, hinter denen die Taliban stehen. Da zuzusehen, ist nicht zu ertragen.

Welche Menschen bitten Sie um Hilfe?

Sie kommen aus sehr unterschiedlichen Bereichen, vielen bin ich bei meinen Feldforschungen begegnet. Es sind einfache Köche, genauso wie Aktivist:innen. Menschen, die daran glaubten, dass es trotz dieser korrupten Regierung, trotz des alltäglichen Machtmissbrauchs im Land, trotz der Macht der Taliban eine friedliche Zukunft und vielleicht sogar ein selbstbestimmtes Leben geben kann. Dafür haben sich viele von ihnen wissentlich Verfolgungen ausgesetzt, mussten immer wieder die Wohnungen wechseln und sind dennoch im Land geblieben, statt sich bei einer Konferenz im Ausland abzusetzen und Asyl zu beantragen.

Wie schätzen Sie die Lage für afghanische Mädchen und Frauen ein?

(Seufzt) Auch bisher war die Möglichkeit eines selbstgewählten Lebens für sie schon unglaublich eingeschränkt. Der große Unterschied jetzt: Die Chance darauf ist völlig zunichte gemacht. Selbst wenn irgendwo noch eine Schule stehen bleiben sollte, wird es keine ernstzunehmende gesellschaftliche Teilhabe für Frauen mehr geben, egal zu welchem Preis. Für Teilhabe zu kämpfen war bisher schon lebensbedrohlich, viele Frauen sind umgebracht worden – und nicht etwa nur von den Taliban. Es gibt sehr viele unglaublich mutige afghanische Frauen, doch jetzt haben sie keine Perspektive mehr, dass ihr Kampf etwas bringen könnte. Das ist ein Unterschied ums Ganze.

Was passiert mit Frauen, die die Taliban als Aktivistinnen identifizieren...

...das ist für sie lebensgefährlich...

...obwohl die Taliban großmütig reden und Kreide gefressen haben?

Sie haben zwar Kreide gefressen – aber was werden sie tun? In Herat zum Beispiel ist es Ärztinnen verboten, aus dem Haus zu gehen. Wo sollen denn Mädchen und Frauen jetzt hin, wenn sie krank sind? Dennoch funktionieren die PR und die öffentliche Darstellung der Taliban großartig. Es gab die Ansage, dass es keine Racheakte geben und niemand bedroht werden wird. Aber in Kabul gehen sie von Tür zu Tür. Manche Menschen werden mitgenommen, manche werden verprügelt und bei manchen wird nur dokumentiert, wo sie gearbeitet und was sie Verdächtiges im Haus haben. Und wenn die Taliban behaupten, dass sie die Rechte der Frauen respektieren – wer definiert denn, welche Rechte das sind?

Warum geben sich die Islamisten verbal überhaupt so milde?

Weil sie die Anerkennung und Gelder der internationalen Gemeinschaft wollen. Aber man muss unterscheiden: Es gibt die Taliban, die in Doha Verhandlungen führen, ihre Söhne und Töchter auf Eliteunis schicken, für die Public Relations zuständig sind und wissen, was international gehört werden möchte. Und es gibt die Taliban vor Ort, die dort die Regeln machen und entscheiden, was angeblich der Scharia entspricht – auch wenn das mit der klassischen Scharia gar nichts zu tun hat.

Sie begründen ihre Gewaltherrschaft nicht mehr mit islamistischer Ideologie?

Doch, aber im Vergleich zur ersten Taliban-Herrschaft geht es inzwischen oft mehr um politische Loyalität als um die Einhaltung ihrer Regeln. Diese Regeln und ihre gewaltsame Durchsetzung gibt es immer noch, aber politische Loyalität stand in den letzten Jahren viel stärker im Vordergrund. Ein konservativer religiöser Geistlicher war nicht davor geschützt, als politischer Gegner umgebracht zu werden, weil er die falschen Leute kannte. Warum sollte sich an dieser Haltung jetzt etwas ändern? Im ersten Halbjahr 2021 waren vierzehn Prozent aller Kriegsopfer gezielte Tötungen. Vierzehn Prozent! Und das sind nur die dokumentierten, also die prominenten Fälle.

Es gibt Berichte, dass die Taliban bei ihrem Vormarsch junge Frauen verschleppt und mit ihren Kämpfern zwangsverheiratet hätten.

Ja, Flüchtlinge aus unterschiedlichen Landesteilen haben erzählt, dass Mädchen als Kriegsbeute genommen wurden. Zwangsverheiratungen an Taliban-Kämpfer gab es auch schon die letzten Jahre. Ich mache mir besonders Sorgen um lokale Gemeinschaften oder Familien, die von den Taliban als feindlich eingestuft werden. Aber einen grundsätzlichen Freibrief durch die Führung gibt es meines Wissens nicht und er würde mich wundern. Denn gegenüber den lokalen Gemeinschaften ist das eine unglaubliche Provokation und könnte Widerstand mobilisieren. Die Taliban wollen ja nicht, dass die Leute sich wehren oder weglaufen. Es gibt auch Hinweise, dass vor einigen Wochen als Teil der Kriegspropaganda gezielt Gerüchte gestreut wurden, um Widerstand gegen die Taliban zu mobilisieren.

Während des Vormarsches der Taliban erzählte eine afghanische Frau dem britischen „Guardian“, wie sehr sich Männer auf offener Straße gefreut hätten, dass die Rechte von Frauen endlich wieder beschnitten würden.

Die alten Strukturen sind ja nicht einfach verschwunden. Die Warlords und auch Mitglieder der Regierung waren teilweise nicht weniger islamistisch als die Taliban. Politikerinnen, Frauen, die Frauenhäuser aufgebaut oder sich öffentlich positioniert haben, wurden von Regierungsangehörigen als Ungläubige beschimpft und quasi zum Abschuss freigegeben. Es gibt genug patriarchale Kräfte im Land, und die sind jetzt wahrscheinlich in einem ähnlichen Siegesrausch wie die Taliban selber.

Den Frauen haben die letzten zwanzig Jahre also nichts gebracht?

So darf man das nicht sehen. Man sollte die Spielräume, die sich manche Mädchen und Frauen in den letzten zwanzig Jahren erkämpft und die sie genutzt haben haben auf keinen Fall klein reden. Das war nicht nichts, das war wertvoll! Für sie hatte es eine unglaubliche Bedeutung, dafür haben sie viel riskiert ... Nur ist es jetzt verloren.

Auch, weil die internationalen Akteure die frauenfeindlichen Warlords unterstützten.

Die Politik der internationalen Seite war auf kurzfristige militärische Gewinne ausgerichtet. Man hätte Verantwortung für die Sicherheit der Bevölkerung übernehmen müssen, aber dazu gab’s keine Bereitschaft. Stattdessen sollten Warlords und lokale Milizen gegen die Taliban kämpfen. Statt Entwaffnung gab es also Bewaffnung, auch von bekannten Kriegsverbrechern, die sich um niemandes Rechte gekümmert haben, geschweige denn um Frauen.

Zahlen die Menschen in Afghanistan jetzt den Preis für diese gemeingefährliche Strategie?

Den zahlen sie schon lange. Die Unterstützung der Warlords wurde erkauft, indem man Machtmissbrauch, Bereicherung und Korruption duldete. Das hat natürlich auch die Legitimität der Regierung untergraben, in der viele der Warlords saßen. Die Machthaber im Land bewegten sich jenseits eines rechtsstaatlich kontrollierbaren Bereichs. All das hat sehr vieles zunichte gemacht, was es an zivilen Bemühungen um eine freiheitliche Gesellschaft gegeben hat.

Gab es überhaupt so etwas wie eine Zivilgesellschaft, die diesen Namen verdient?

Sehr viele Menschen haben sich unglaublich engagiert. Man muss da auch die Eltern einrechnen, die ihre Kinder weiter in Schulen geschickt haben, obwohl sie wussten, dass Schulen angegriffen werden und der Weg dahin lebensgefährlich ist. Was für eine Entscheidung! Ich weiß nicht, ob ich die als Mutter so treffen würde.

Aber die Warlords konnten wohl kaum an einer neuen Ordnung interessiert sein.

Nicht an einer rechtsstaatlichen! Wenn sie auf der einen Seite einen bewaffneten, unkontrollierbaren Warlord haben und auf der anderen einen gut ausgebildeten Richter – was soll der denn gegen die Verbrechen des Warlords oder dessen Sohn tun? Wie soll der Richter oder Polizist den Rechtsstaat durchsetzen? Im Zweifelsfall sind auch die Polizisten Anhänger des Warlords, weil sie um ihre Sicherheit fürchten. Diese Arrangements haben die internationalen Akteure in der Praxis unterstützt. Deshalb war das Gerede über den Aufbau einer neuen Gesellschaft ein gutes Stück verlogen.

Polizisten und Soldaten scheinen daran auch nie geglaubt zu haben. Deutsche Militärs sind ob deren Kampfmoral ja völlig fassungslos...

... ohne Brot und Nachschub ist es wohl auch kaum möglich zu kämpfen. Viele haben es ja über Jahre mit unglaublichem Einsatz und großen Opfern getan. Will man, dass diese Männer als Märtyrer sterben und ihre Familien ohne Schutz vor den Taliban zurückbleiben? Wie groß wünscht man sich denn die Zerstörung der Städte, der Schulen, der Krankenhäuser? Wie viele Tote und Verletzte hätte man denn gern bei einem Häuserkampf? In einer Situation, in der es keine Chance gibt zu siegen...

...und alle mit Sicherheit umgebracht werden.

Überleben in Afghanistan brauchte immer ein immenses Maß an Pragmatismus. Ich habe erlebt, dass Väter ihre Söhne auf alle Kriegsparteien aufgeteilt haben, in der Hoffnung, dass einer bei den Siegern dabei ist und die Familie schützen kann. Die meisten Menschen hatten kaum einen realen Spielraum. Und will man ihnen den Wunsch nach Überleben tatsächlich absprechen?

Dass nichts gut ist in Afghanistan weiß die Bundesregierung seit vielen Jahren. Warum wurde einfach immer so weitergemacht?

Ich vermute es gab mehrere Gründe, die Realität nicht anerkennen zu wollen. Zunächst hätte man dafür das eingeführte Narrativ – „Wir machen da Frieden und Wiederaufbau“ – zerstören müssen. Und wollte man nicht noch bis letzte Woche Abschiebungen durchführen? Auch das wäre dann schwer zu erklären gewesen. Diese Leugnung und Realitätsverweigerung hat sich bei der Gefährdung von Mitarbeitern und Partnern vor Ort fortgesetzt. Das Drama auf dem Kabuler Flughafen ist eine der Folgen.

Bei den Ortskräften geht es meist um die Unterstützer:innen der Bundeswehr. Doch auch andere Bundesunternehmen wie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit hatte an die tausend Ortskräfte?

Ja, es sind sehr, sehr viele und alle sind in akuter Gefahr. Aber ich habe keine genauen Zahlen. Ich weiß auch nicht, was es für meine eigenen Mitarbeiter bedeutet, die meine Forschungen unterstützt haben. Ich bin ja keine Organisation. Haben diese Menschen eine Chance, herauszukommen?

Johann Wadephuhl, Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Verteidigungsausschuss, stellte am Dienstag ungerührt fest: „Viele Ortskräfte können nicht mehr gerettet werden.“

Das ist schon seit vielen Wochen klar. Man wäre bereits vor Jahren in der moralischen Verantwortung gewesen, die Menschen herauszuholen, die sagen, dass sie sich der Lebensgefahr nicht mehr aussetzen können. Aber es gab die Doktrin, man könne in den Großstädten sicher sein. Das war schon lange nicht mehr der Fall. Alle Betroffenen wussten: Meine Familie und ich sind in Lebensgefahr. Nur wann es sie trifft war bisher nicht klar. Die Taliban hatten ja Zeit. Jetzt weiß man, dass es soweit ist. Sie können ja ungehindert und in aller Ruhe in Häuser eindringen.

Wo sehen Sie Hoffnung für die Menschen in Afghanistan?

(Seufzt) Ich habe den Eindruck, man hat das Land und die Menschen dort aufgegeben. Das lässt mich verzweifeln. Die Frage ist nur noch, ob man jetzt die Realität anerkennt.

Frederike Stahlmann ist seit 20 Jahren als Wissenschaftlerin auf Afghanistan spezialisiert und derzeit assoziierte Forscherin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Bern. Sie ist als Sachverständige in vergangenen Jahren für Gerichte tätig gewesen.
Interview: Bascha Mika

11.08.2021 10:08
Extreme Unfairness gegen Bündnis 90/Die Grünen - Dreckkampagne für die AFD
Eine Recherche des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) bringt es an den Tag: Eine "AfD-nahe Firma startet Schmutzkampagne gegen die Grünen. Eine Negativkampagne rückt die Grünen mit Falschbehauptungen in die Nähe Chinas und kommunistischer Diktaturen. Auf Großplakaten in deutschen Städten wird der Partei vorgeworfen, sie stehe für eine „Ökodiktatur”.

Dahinter steckt ein AfD-nahes Unternehmen, das nicht zum ersten Mal mit zweifelhafter Werbung auffällt. Ein AfD-nahes Unternehmen hat vor der Bundestagswahl eine groß angelegte Schmutzkampagne gegen die Grünen gestartet. Auf Plakatflächen in angeblich mehr als 50 deutschen Großstädten und im Internet wird die Partei aufs Härteste angegriffen.

Auf grünem Hintergrund werden auf den Großplakaten Slogans wie „Totalitär“, „Heimatfeindlich“ oder „Ökodiktatur“ verwendet. Dazu sind in Anlehnung an das Parteilogo der Grünen verwelkte Sonnenblumen zu sehen – und der Kampagnentitel „#GrünerMist“.

Auf der zugehörigen Website wird der Klimawandel geleugnet und Klimaschutz zur „Wohlstands­vernichtung aus Größenwahn“ erklärt. Auch offenkundige Unwahrheiten über die Partei werden von der Kampagne verbreitet: In einem Video rückt der rechte Aktivist Hagen Grell die Grünen in die Nähe Chinas und kommunistischer Diktatoren wie Stalin und Pol Pot.

Falschbehauptung ohne jegliche Grundlage

Die Grünen wollten in Anlehnung an das chinesische Sozial­kreditsystem ein „Klimapunkte-System“ einführen, behauptet er. Wer zu viel gereist sei oder zu viele Kinder habe, dürfe nach den angeblichen Plänen der Grünen nicht mehr reisen oder ein eigenes Auto besitzen – eine Falschbehauptung ohne jegliche Grundlage.
Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), Parteivorsitzende und Kanzlerkandidatin, enthüllt ein Großflächenplakat der Grünen. Damit setzten die Grünen den Startschuss für die bundesweite Plakatierung für die Bundestagswahl 2021.

Die Bundestags­vizepräsidentin Claudia Roth wird auf der Kampagnenseite als „Antideutsche Multikulti- und Türkei-Schwärmerin“ verunglimpft, Cem Özdemir als „Karriere-Migrant der ersten Stunde“ bezeichnet. Auch auf Facebook hat die Kampagne Werbeanzeigen geschaltet.
Dahinter steckt die in Hamburg registrierte Conservare Communication GmbH, die auch das AfD-nahe Onlinemagazin „Deutschland-Kurier“ herausgibt, für das fast 30 Abgeordnete und Mitarbeitende der AfD als Autorinnen und Autoren tätig sind.
Der Geschäftsführer und alleinige Gesellschafter des Unternehmens, David Bendels, ist auch Vorsitzender des „Vereins zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und bürgerlichen Freiheiten“. Bis 2018 gab dieser Verein den „Deutschland-Kurier“ heraus, im Vorfeld mehrerer Landtagswahlen und der Bundestagswahl in den Jahren 2016 und 2017 unterstützte er die AfD im Wahlkampf. So warb er in Gratiszeitungen mit dem Titel „Extrablatt“ für die Partei und buchte Plakatflächen, auf denen zur Wahl der AfD aufgerufen wurde.

Der Verein arbeitete damals mit dem Schweizer Werbeunternehmen Goal AG zusammen, das sonst insbesondere für die rechtspopulistische SVP tätig ist. Eine Wahlkampf­unterstützung der Schweizer Firma für den AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen im baden-württembergischen Landtags­wahlkampf 2016 wertete die Bundestags­verwaltung als illegale Parteispende. Die Partei musste fast 270.000 Euro Strafe zahlen.

Auch die Unterstützungs­aktivitäten für die AfD durch Bendels’ Verein gerieten in den Verdacht der verdeckten Parteienfinanzierung. Die Nichtregierungs­organisation Lobby Control schätzte, dass diese indirekte Wahlwerbung für die AfD mehr als 6 Millionen Euro gekostet hat.
Auf Anfrage des Redaktions­Netzwerks Deutschland (RND) erklärte Bendels, die Goal AG habe mit der aktuellen Kampagne nichts zu tun, auch sei sie nicht mit der AfD abgestimmt. In einer Pressemitteilung der Kampagne heißt es, Internetauftritt und Großplakate würden „aus Spenden von Mittelständlern und engagierten Bürgern finanziert“.

#GrünerMist steht seit Monaten in Artikeln des „Deutschland-Kuriers“

Wie viel Geld die Kampagne kostet, wie viele Spenderinnen und Spender es gibt und ob Spenden aus dem Ausland angenommen wurden, wollte Bendels nicht beantworten. Auch ob Conservare Communications – immerhin ein Wirtschafts­unternehmen und kein gemeinnütziger Verein – die Spenden selbst eingeworben hat, ließ er offen.

Mindestens durch den „Deutschland-Kurier“, dessen Chefredakteur Bendels ist, ist die Conservare Communication GmbH jedoch eng mit der AfD verbandelt. Eine ganze Reihe an Europa-, Bundestags- und Landtags­abgeordneten schreibt als Gastautorinnen und -autoren für das Onlinemagazin oder veröffentlicht da Videobeiträge. Der Kampagnen-Hashtag #GrünerMist wird dort schon seit Monaten in Artikeln verwendet, die die Grünen angreifen.

Grüne wollen nun parteiintern für eigene Plakatspenden werben

Laut Transparenz­angaben des US-Netzwerks wird die Facebook-Seite des „Deutschland-Kuriers“ auch heute noch mehrheitlich von Personen in der Schweiz verwaltet. Seit April 2019 hat Bendels’ Firma allein für Facebook-Werbung mehr als 38.000 Euro ausgegeben.

Der Außenwerbekonzern Ströer, dessen Werbeflächen die Kampagne mit ihren Großplakaten nutzt, verwies auf RND-Anfrage auf sein Informationspapier zum Umgang mit Wahlwerbung: „Ströer prüft, ob der Inhalt eines Plakats sittenwidrige oder rechtlich relevante Inhalte enthält“, heißt es da. Das Unternehmen könne „jedoch keine Werbung ablehnen, die nicht gegen Gesetze oder freiwillige Selbst­beschränkungen verstößt“.

Der politische Bundes­geschäftsführer der Grünen, Michael Kellner, sagte dem RND, die Kampagne sei ein weiteres Beispiel dafür, wie groß die Angst der Rechten vor den Grünen sei. „Davon lassen wir uns nicht irritieren, sondern kämpfen weiter intensiv für klimagerechten Wohlstand“, so Kellner. Die Partei will den Anlass nutzen, parteiintern für Plakatspenden zu werben, „um dieser verleumderischen Kampagne noch mehr Grün auf der Straße entgegenzusetzen“."

Felix Husemann für Redaktionsnetzwerk Deutschland, 11.8.2021

04.08.2021 08:23
Reichtumspflege kontra sozial-ökologischer Klimawandelbegleitung
Der Chefökonom der Gewerkschaft Verdi, Dierk Hirschel, zeigt klar und deutlich, was die verkündeten Absichten von CDU/CSU sind. Sie würden die soziale Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen und deutlich notwendige Schritte im Klimawandel und zugunsten der sozialen, ökologischen und demokratischen Entwicklung kosten statt ermöglichen. Er schreibt heute in der Frankfurter Rundschau: Im September stimmen die Wählerinnen und Wähler über die zukünftige Finanz- und Steuerpolitik ab. Armin Laschet und Markus Söder wollen die Wirtschaft entfesseln.

Dafür wollen sie Steuern senken und Bürokratie abbauen. Die Union verspricht in ihrem Wahlprogramm 50 Milliarden Euro schwere Steuersenkungen. Die größten Steuergeschenke sollen Spitzenverdiener und Unternehmen erhalten. So soll der Unternehmenssteuersatz auf 25 Prozent gesenkt werden.

Nach Berechnungen des DIW führt dies zu jährlichen Steuerausfällen in Höhe von etwa 17 Milliarden Euro. Der Großteil dieser Steuerersparnis – nämlich zwölf Milliarden Euro – geht an das reichste ein Prozent. Die Abschaffung des Solidaritätszuschlages für Reiche kostet weitere zehn Milliarden Euro, wovon sechs Milliarden Euro in die Kassen des reichsten ein Prozent fließen. Die geplanten Entlastungen bei der Einkommenssteuer verursachen weitere Einnahmeverluste in Höhe von 21 Milliarden Euro. Mehr als 13 Milliarden davon erhält das reichste Zehntel.

Wenn Unternehmer und Topverdiener mehr Netto vom Brutto bekommen, investieren und arbeiten sie angeblich mehr. Das so erzeugte Wachstum schafft dann Jobs und lässt die Steuerquellen sprudeln. Nach neoliberaler Lesart finanzieren sich auf diesem Weg die Steuersenkungen selbst. Diese Voodoo-Ökonomie hat in der Praxis noch nie funktioniert.

Steuersenkungen sind kein Wachstumsmittel. Firmen investieren nicht, wenn Steuersätze purzeln, sondern wenn ihre Güter und Dienstleistungen ausreichend nachgefragt werden. Folglich reißen Steuersenkungen nur Löcher in die öffentlichen Haushalte. Vor dem Hintergrund von Schuldenbremsen und schwarzer Null drohen dann Investitions- und Sozialkürzungen. Steuersenkungen hungern nur den Sozialstaat aus.

Laschets und Söders geplante Steuergeschenke würden also zu Lasten zukünftiger Investitionen und Sozialausgaben gehen. Milliardenschwere Steuerausfälle sorgen dafür, dass für Klimaschutz, Bildung, Gesundheit, öffentlichen Verkehr und Kultur zukünftig kein Geld mehr da ist. Ein Jahrzehnt der Investitionen würde es mit dieser neoliberalen Steuerpolitik nicht geben.

Nach der Bundestagswahl will die Union die Taschen der Superreichen mit Milliarden füllen. Diese konservative Reichtumspflege bezahlen Millionen abhängig Beschäftigte und ihre Kinder“. Und auch der mögliche Fortschritt in der Ökologie und Klimawandel-Anpassung (Stichwort: Flut- und Dürrevorsorge, Schutz der Biotope, Ausbau ökoverträglicherer Mobilität usw.).

12.07.2021 12:29
Unternehmenssteuer: Fairer und gerechter
„Die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft ist willens, die Steuerflucht von großen Konzernen zu beenden. Das ist eine gute Nachricht“, schreibt Andreas Schwarzkopf in der Frankfurter Rundschau am 12.7.2021. Und weiter:

„Die geplante Mindeststeuer für große Unternehmen ist ein Fortschritt, und zwar trotz der noch zu klärenden Details wie etwa den genauen Start. Am Ende wird nicht entscheidend sein, ob die globale Steuerreform bereits im Herbst oder erst im Frühjahr unter Dach und Fach ist und dann von 2023 an gilt.

Wichtiger ist, dass die überwiegende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft mit den ökonomischen Schwergewichten von G7 und G20 willens ist, die Steuerflucht von großen Konzernen zu beenden. Die Umverteilung von Milliarden von Euro jährlich wird es vielen Staaten ermöglichen, mehr in Bildung und sozialen Ausgleich zu investieren. Dieser Schritt trägt also dazu bei, das weltweite Steuersystem ein wenig fairer und gerechter zu machen. All das macht es verschmerzbar, dass die ursprünglich anvisierte Mindeststeuer von 21 Prozent diesmal verfehlt wurde.

In den kommenden Wochen und Monaten wird es darauf ankommen, weitere Hürden aus dem Weg zu räumen. Dabei sollte es keine weiteren Ausnahmen für Wirtschaftszweige geben, wie sie bereits für die Finanzbranche ausgehandelt sind. Außerdem sollten Deutschland und die anderen EU-Staaten alles tun, um die Verweigerer Ungarn, Irland und Estland noch umzustimmen“.

Insofern: ein entscheidender Anfang ist gemacht. Jetzt kommt es auf die konsequente Umsetzung an. Und darum, sofort die von Steueranwälten und Finanzjongleure gefundenen Lücken und Nischen zu finden, die bei den Gesetzestexten und Umsetzungen entstehen. Sie sind dann sofort zu schließen und ein hoher Standard der globalen Mindeststeuer ist nachzuhalten.

05.07.2021 06:02
»Wir haben keine echte Demokratie mehr«
Das sagt das Mitglied des Bundestages, Marco Bülow, im Spiegel-Interview. Er sitzt für >Die Partei< im Bundestag. Er sagt: Das parlamentarische System ist gefährlich verkrustet, Abgeordnete handeln nicht mehr frei nach ihrem Gewissen. Wie will er das ändern? Dazu das Spiegel-Interview:

>>SPIEGEL: Herr Bülow, Sie prangern als Bundestagsabgeordneter seit Jahren fehlende Transparenz in der parlamentarischen Arbeit an. Um mal mit dem Positiven anzufangen: Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, was gut läuft im Bundestag?

Marco Bülow: Dass es überhaupt einen Bundestag gibt, ist ja nicht so selbstverständlich, wie viele das vielleicht denken. Es ist ein großes Geschenk, eine Demokratie zu haben, dass es freie Wahlen gibt, dass sich in einem Parlament Fraktionen zusammensetzen und dann – eigentlich – in einen politischen Wettstreit treten können. Ich bin froh und dankbar, dass wir in einem föderalen und parlamentarischen System leben.

Bülow: Was ich kritisiere, ist die heutige Ausprägung unseres parlamentarischen Systems. Dieses System entfernt sich von dem, was im Grundgesetz angedacht war. Und das Parlament entfernt sich von unserer Gesellschaft.

SPIEGEL: Was hat sich denn konkret verschlechtert seit Ihrem Einzug in den Bundestag vor fast 20 Jahren?

Bülow: Der Lobbyismus, speziell der Profitlobbyismus, hat überhandgenommen. Die Macht konzentriert sich auf einige wenige Akteure. Wir erleben einen enormen Machtverlust der Fraktionen gegenüber der Regierung. Böse formuliert: Eigentlich bräuchte es nur einen oder eine Fraktionsvorsitzende, der Rest der Plätze im Bundestag könnte mit Beamten besetzt werden.

SPIEGEL: Weil sie meist geschlossen im Block abstimmen?

Bülow: Die Regierungsfraktionen nicken ab, was kommt. Und die Gesetze kommen fast alle von der Regierung. Oppositionsanträge werden ohnehin nie übernommen – dabei müsste es meinem demokratischen Verständnis nach viel mehr Austausch zwischen Regierung und Opposition geben, viel mehr Zusammenarbeit und Abstimmungen über Fraktionsgrenzen hinweg.
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Bis zur Bundestagswahl nehmen wir uns nacheinander große Fragen aus Politik und Gesellschaft vor – und laden zum Diskutieren und Mitmachen ein. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage: Wie wird Deutschland gerechter?

SPIEGEL: Aber das gibt es doch auch.

Bülow: Viel zu selten kommt das vor – das letzte Mal bei der Ehe für alle. Da aber auch nur, weil die Kanzlerin die Abstimmung zur Gewissensfrage gemacht hat. Was ja schon nahezu pervers ist: dass die Kanzlerin entscheidet, was eine Gewissensfrage ist, und nicht der Abgeordnete.

SPIEGEL: Nun findet ja auch in den Fraktionen vor einer Abstimmung ein Meinungsbildungsprozess statt, an dem der einzelne Abgeordnete beteiligt ist. Die Fraktionsdisziplin sichert auch die Arbeitsfähigkeit des Parlaments.

Bülow: Es muss eine Solidarität geben, aber beidseitig und ohne Zwang. Denn derzeit ist es so: Wer sich dem Fraktionszwang widersetzt, wer allein versucht, andere Mehrheiten zu suchen, wird abgestraft – ist schnell der Außenseiter. Wegen des Zwangs auch innerhalb der Koalition und weil ja das öffentliche Bild der Geschlossenheit gewahrt werden soll, werden am Ende höchstens Nuancen an der Regierungsvorlage geändert.
»Wer sich dem Fraktionszwang widersetzt, ist schnell der Außenseiter.«

SPIEGEL: Sie sind 2018 aus der SPD-Fraktion ausgetreten. Haben Sie dadurch nicht den Einfluss eingebüßt, den es braucht, um Veränderungen anzustoßen?

Bülow: Nein. In der SPD-Fraktion habe ich zunehmend gegen Windmühlen gekämpft. Ich bin sogar der Überzeugung, dass ich heute mehr Gestaltungsspielraum habe als früher. Ich habe alle Wege, die ein Abgeordneter beschreiten kann, versucht. Ich war Sprecher für Umweltpolitik, habe eigene Anträge eingebracht und versucht, Mehrheiten zu organisieren. Ich habe vor 14 Jahren auf einem Parteitag zusammen mit meinem SPD-Kollegen Frank Schwabe einen Mehrheitsbeschluss erreicht, dass sich die Partei für ein Tempolimit einsetzt. Seitdem ist das Tempolimit nicht ein einziges Mal von der SPD in Koalitionsverhandlungen hineingetragen worden. Mit anderen Worten: Was ein Parteitag beschließt, interessiert überhaupt nicht.

SPIEGEL: Und in einer Satirepartei, die selbst nicht sicher ist, ob politische Mandate ihrem Wesen widersprechen, und deren öffentliche Wahrnehmung vor allem von einem Mann, Martin Sonneborn, geprägt wird, fühlen Sie sich besser aufgehoben?

Bülow: Ja. Es ist ehrlicher und offener. Hier findet eine größere Vielfalt ihren Platz und es läuft nicht stromlinienförmig und so strukturkonservativ ab wie bei den anderen Parteien. Natürlich ist es auch spannend und nicht vorhersehbar, was passiert. Satire ist nur eine Facette, die wir brauchen, aber gegenüber der teilweise absurden und inszenierten Politik ist sie fast schon seriös.
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SPIEGEL: Der damalige Grünenabgeordnete Gerhard Schick und Sie haben 2013 einen Transparenzkodex entworfen, dem sich nur 40 der 709 Abgeordneten im aktuellen Bundestag angeschlossen haben. Warum haben Sie nicht mehr von denen erreicht?

Bülow: Wir haben damals völlig unterschätzt, wie schwer es ist, so etwas fraktionsübergreifend zu machen. Ich habe 2019, damals noch als Parteiloser, mit der Aktion »re:claim the house« die Klimabewegung in den Bundestag geholt und dazu alle Fraktionen eingeladen. Ich habe gesagt: Ihr könnt da hinkommen und diskutieren, ohne dass ich das parteimäßig für mich ausschlachten kann. Das hat am Anfang sogar funktioniert, die Abgeordneten sind dann aber relativ schnell wieder weggeblieben.

SPIEGEL: Ihre Erklärung?

Bülow: Alles ist der Parteitaktik unterworfen. Eine Partei lässt die Finger von so etwas, wenn sie sich den Erfolg nicht auf die eigene Fahne schreiben kann. Höchstens einzelne Abgeordnete halten sich manchmal nicht daran. Wenn die dann aber sagen: »Ich will mit der Klimabewegung reden«, heißt es aus ihrer Fraktion: »Tu das, aber nicht parteiübergreifend«. Dabei war es für die Klimabewegung ja gerade spannend, fraktionsübergreifend zu reden. Aber das politische System ist zu verkrustet, um so etwas zuzulassen.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch »Lobbyland« fordern Sie, dieses System zu sprengen. Wie stellen Sie sich das vor?

Bülow: Als Erstes gehört der Fraktionszwang abgeschafft. Jeder Abgeordnete bricht praktisch in jeder Sitzungswoche das Grundgesetz, weil er eben nicht wie dort vorgeschrieben seinem Gewissen, sondern dem Fraktionsvorsitzenden oder der Regierung folgt. Natürlich ist immer schwer zu fassen, wo die Gewissensfreiheit anfängt und wo sie aufhört. Aber das Problem ist so offensichtlich, Abgeordnete sagen ja oft genug frei heraus, dass sie so oder so abgestimmt haben, weil das im Koalitionsvertrag steht. Die Verfassung sieht das aber so nicht vor. Außerdem brauchen wir als dritte Säule neben Regierung und Bundestag eine Mischung aus direkter Demokratie und Bürgerräten, die ich aber mit dem Parlament verweben möchte.
»Alles ist der Parteitaktik unterworfen.«

SPIEGEL: Was heißt das?

Bülow: Bürgerräte sollten nicht nur Empfehlungen abgeben, die mal wieder kaum jemanden interessieren werden. Sie sollten Vorgaben entwickeln, die dann in den Parlamenten abgestimmt werden müssen. Dies erlaubt der Bevölkerung eine direkte Einflussnahme außerhalb der Wahlen. Ich finde es unglaublich wichtig, dass die Menschen wieder denken: Ich kann mitbestimmen. Als die Volksparteien früher – ich kenne das aus meinem Wahlkreis Dortmund gut – noch viel mehr Mitglieder hatten und aktiv am Leben in den Kommunen teilgenommen haben, hat das zum Teil noch funktioniert. Inzwischen haben die Parteien in Deutschland aber mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Und die, die noch da sind, sind zu zwei Dritteln über 60.

SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie sich für eine echte Demokratie einsetzen wollen. Behaupten Sie ernsthaft, dass wir in Deutschland keine echte Demokratie mehr haben?

Bülow: Ganz genau: Wir haben keine echte Demokratie mehr. Verstehen Sie mich nicht falsch: Man kann Deutschland nicht mit Ungarn oder anderen, autoritär regierten Ländern vergleichen. Aber eine echte Demokratie bedeutet für mich, dass Abgeordnete transparent arbeiten, dass sie nach ihrem Gewissen handeln und dass die Bevölkerung der wirkliche Souverän ist, sozusagen der Chef der Abgeordneten. Bei uns konzentriert sich alles auf Wahlen, die Parteien sind aber nicht mehr verwurzelt in der Gesellschaft. Wir haben genug Gegner, die die Demokratie angreifen. Sie muss verteidigt, aber auch immer wieder neu ausgefochten und weiterentwickelt werden.

SPIEGEL: Aus »Lobbyland« soll auch eine Initiative entstehen: Soll das so etwas werden wie die Bürgerbewegung Finanzwende, die ihr früherer Kollege Schick gegründet hat?

Bülow: Schöne Idee, aber so weit sind wir noch nicht. Mal sehen, was daraus wird.<<

Spiegel-Interview von Okan Bellikli vom 04.07.2021

Marco Bülow, Jahrgang 1971, ist 2018 nach 26 Jahren aus der SPD ausgetreten. Seit 2020 ist der fraktionslose Abgeordnete Mitglied der Satirepartei Die PARTEI und kandidiert im September erneut für den Bundestag. Der gebürtige Dortmunder hat seinen Wahlkreis seit seinem Einzug ins Parlament vor 19 Jahren immer direkt gewonnen. Von 2005 bis 2009 war er umweltpolitischer Sprecher und von 2009 bis 2013 stellvertretender energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

25.06.2021 10:36
Fairness im Wahlkampf angemahnt und notwendig
Eine Verpflichtung aller wahlkämpfenden Parteien zu Fairness im Bundestagswahlkampf hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland während des ersten digitalen Johannisempfang der EKD angemahnt.

Die Algorhytmen der Sozialen Netzwerke spülten immer öfter Hassbotschaften nach vorn, sagte Heinrich Bedford-Strohm am Mittwochabend. "Bei allen parteipolitischen Auseinandersetzungen immer wieder die Sachebene ins Zentrum zu rücken und die eigenen Positionierungen offen zu halten für einen ergebnisoffenen Diskurs, sollte deswegen das Anliegen aller politisch Agierenden sein."

Generell sprach sich der bayerische Landesbischof für eine verantwortliche Gestaltung der Digitalisierung aus. Derzeit erlebe man ein "Fehlen von ethischen und gesetzlichen Regeln, die Orientierung für den verantwortlichen Umgang mit den neuen Technologien geben", sagte Bedford-Strohm.

Die Digitalisierung habe mit einer unfassbaren Geschwindigkeit das Leben der Menschen und die Kommunikationskultur verändert. "Deswegen ist es so wichtig, dass wir eine öffentliche Diskussion um die Ethik der Digitalisierung führen, die uns helfen kann, diese Anomie zu überwinden."

KNA)

03.05.2021 09:03
Rückschläge für Demokratie und Grundrechte - Fairnessmangel der Politik
Im Schatten der Pandemie stecken Grundrechte und Demokratie folgenschwere Rückschläge ein. Schreibt die FR-Redakteurin Ursula Rüssmann heute in ihrem Leitartikel „Fataler Reformstau“ in der Frankfurter Rundschau. Sie macht deutlich, wie vollmundige Versprechen seitens der Politik besonders nach akuten Vorfällen von Diskriminierung und das politische Handeln überhaupt nicht zusammenpassen. So tragen die politischen Instanzen entgegen ihren Behauptungen dazu bei, die Zivilgesellschaft auszuhungern, zu schwächen und in der Anfeindung stehen zu lassen. Für den Zusammenhalt unternehmen die politisch Verantwortlichen zu wenig bis nichts. Rüssmann schreibt:

>>Es war Anfang April eher eine Randnotiz in den Medien: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) hatte ihre telefonische Beratung wegen Überlastung eingestellt, schon seit Wochen. Denn die Zahl derer, die wegen Benachteiligung Hilfe suchen, hatte sich 2020, auch durch Corona, verdoppelt. Mehr Berater:innen aber bekam die Behörde nicht. Vernachlässigung von Hilfestrukturen für Diskriminierungsopfer, und niemand schaut hin?

Der Fall ist symptomatisch für die grundrechtlichen und demokratiepolitischen Rückschläge, die das Land gerade erleidet. Im Schatten der Pandemiebekämpfung baut sich riesiger Reformstau auf, werden Defizite vergessen, die längst behoben sein sollten.

Dafür gibt es viele Beispiele, aber zunächst zur ADS, die Menschen helfen soll, wenn sie wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Neigung benachteiligt werden. Bei der Institution liegt auch strukturell viel im Argen. Europarat und EU-Kommission fordern schon länger, die Unabhängigkeit der nationalen Beratungsstellen müsse gestärkt werden, aber davon ist Deutschland Lichtjahre entfernt.

Neulich kamen die Probleme bei einer Anhörung im Bundestags-Familienausschuss auf den Tisch: Leitung seit 2017 (!) unbesetzt; krasse Unterfinanzierung. Schweden gibt 1,10 Euro pro Kopf für seine nationale Gleichbehandlungsstelle aus, Deutschland nur sechs Cent. Es fehlt an einem Verbandsklagerecht; die Klagefristen sind zu kurz. Und: Die ADS kann zu wenig bewegen, weil sie – anders als etwa der Bundes-Datenschutzbeauftragte – keine unabhängige Behörde ist, sondern Teil des Familienministeriums.

Dabei wäre eine Gleichbehandlungsstelle mit Schlagkraft dringend nötig, um auch institutionelle Diskriminierungen abzubauen. Das sieht man etwa beim Kampf gegen „Racial Profiling“, also gegen gezielte Polizeikontrollen von Menschen anderer Hautfarbe. Die vom Innenministerium angekündigte Polizeistudie spart das Reizthema bekanntlich aus, weil Minister Horst Seehofer es nicht will. Bei den Planungen zur Studie hat das Ministerium die ADS nicht mal konsultiert. Stimmen, die das anprangern, finden pandemiebedingt kaum Gehör.

Der Kampf gegen Rassismus stockt auch an anderer Stelle, die Einsichten, die auf den rechten Terror von Hanau und Halle folgten, scheinen fast wieder vergessen. So ist es ein dramatischer Rückschlag, dass die Union vor einigen Wochen das Wehrhafte-Demokratie-Gesetz im Kabinett blockierte.

Das Gesetz gehört zu den Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Rassismus, zu denen sich die Konservativen nach Hanau durchgerungen hatten. Es wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen seit Jahren herbeigesehnt, damit ihre Basisarbeit gegen rechts und die Opferberatung endlich abgesichert sind und sie nicht mehr am Tropf befristeter Projektmittel hängen.

Wird es nun verwässert und verschleppt, ist der Schaden kaum zu überschauen. Auch wenn das Kabinett jetzt Mai für den Beschluss anvisiert: Viel hängt davon ab, ob die Union ihren populistischen Plan einer „Extremismusklausel“ durchsetzt, nach der alle Geförderte ein Bekenntnis zur freiheitlichen Grundordnung ablegen sollen. Das stellt die Initiativen gegen rechts unter Generalverdacht, und es würde zum Einfallstor für die Ausgrenzung linker Projekte. Die Chancen schwinden, dass das Gesetz vor der Wahl kommt. Für die Angehörigen der Opfer rechten Terrors ist das ein weiterer Schlag ins Gesicht.
Auf die traurige Liste gehört übrigens auch die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts vom Winter. Zwar gehen jetzt auch Klimaschutz und einiges andere als gemeinnützige Vereinszwecke durch, aber das Parlament hat sich geweigert, auch politisches Engagement für gemeinnützige Ziele abzusichern. Für Dorfverschönerung kann man künftig steuerbegünstigt spenden, aber nicht für eine Bürgerinitiative, die sich in die Wohnungsbauplanung einmischt. Damit agieren viele Organisationen weiter am Rand der Existenzbedrohung, ihre Kräfte werden (siehe Attac) teils jahrelang gebunden durch Konflikte mit Finanzbehörden.

Es gäbe weitere Beispiele. Allen gemeinsam ist: Stillstand und Rückschritt treffen uns alle, nicht nur ein paar Aktivist:innen und Gruppen. Die Reformverweigerung lähmt eben die, die für sozialen Ausgleich, Chancengleichheit, Minderheitenrechte eintreten. Diejenigen also, die täglich für die Demokratie arbeiten.

Ihnen kommt eine wichtige Rolle zu – erst recht nach der Pandemie, angesichts der sich schon abzeichnenden gesellschaftlichen und ökonomischen Spaltungen und Verteilungskämpfe. Ohne eine starke und hörbare Zivilgesellschaft wird der angeknackste innere Zusammenhalt in diesem Land nur schwer zu erhalten sein“.

Es mangelt der Spitzenpolitik an hartnäckigem, zugesagtem und wirksamem Einsatz für gesellschaftliche Fairness.

"Wie steht es um Ihre Fairness-Kompetenz?"

"Fataler Reformstau"

03.04.2021 08:13
Gesetz gegen Hass und Hetze in Kraft - Bestimmungen im Einzelnen
Heute tritt das Gesetz gegen Hass und Hetze in Kraft. Es enthält

1. Erweiterungen und Verschärfungen des Strafgesetzbuchs

- Bedrohung (§ 241 StGB): Bislang war nach § 241 StGB nur die Bedrohung mit einem Verbrechen – wie die Morddrohung – strafbar. Jetzt sind auch Drohungen mit Taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder gegen Sachen von bedeutendem Wert (wie die Drohung, ein Auto anzuzünden), die sich gegen die Betroffenen oder ihnen nahestehende Personen richten, mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe oder Geldstrafe strafbar. Wird die Tat im Internet oder auf andere Weise öffentlich begangen, drohen bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe. Der Strafrahmen für die Bedrohung mit einem Verbrechen wurde auf ebenfalls bis zu zwei Jahre Freiheitsstrafe angehoben, wenn diese nicht öffentlich erfolgt. Bei einer öffentlichen Drohung mit einem Verbrechen können bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe verhängt werden. Das gilt etwa für Mord- und Vergewaltigungsdrohungen im Internet.

- Beleidigung (§ 185 StGB): Öffentliche Beleidigungen sind laut und aggressiv. Für Betroffene können sie enorm belastend wirken. Wer öffentlich im Netz Menschen beleidigt, kann jetzt mit bis zu zwei statt mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft werden.

- Beleidigung, üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens (§ 188 StGB): Der besondere Schutz des § 188 StGB vor Verleumdungen und übler Nachrede gilt jetzt ausdrücklich auf allen politischen Ebenen, also auch für Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker. Zudem wurde der Straftatbestand auch auf den Schutz vor Beleidigungen ausgedehnt.

- Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB): Ab jetzt ist auch die Billigung noch nicht begangener schwerer Taten erfasst, wenn diese geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Dies richtet sich gegen Versuche, ein Klima der Angst zu schaffen. Das öffentliche Befürworten der Äußerung, jemand gehöre „an die Wand gestellt“ ist ein Beispiel für die nun bestehende Strafbarkeit.

- Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB): Hier ist nun neben den bereits erfassten Straftaten auch die Androhung einer gefährlichen Körperverletzung und von schweren Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung umfasst.

- Antisemitische Tatmotive werden nun ausdrücklich als strafschärfende Beweggründe genannt (§ 46 Abs. 2 StGB).

- Schutz von Notdiensten (§ 115 StGB): Mancherorts ist es Alltag, dass Rettungskräfte und medizinisches Personal attackiert werden. Rettungskräfte im Einsatz sind bereits 2017 strafrechtlich besser vor Attacken geschützt worden. Dieser Schutz wurde nun auf Personal in ärztlichen Notdiensten und in Notaufnahmen ausgedehnt.

2. Pflicht sozialer Netzwerke zur Meldung von Hasspostings an das Bundeskriminalamt

Soziale Netzwerke werden strafbare Postings künftig nicht mehr nur löschen, sondern in bestimmten schweren Fällen auch dem Bundeskriminalamt (BKA) melden müssen, damit die strafrechtliche Verfolgung ermöglicht wird. Diese Meldepflicht wird ab dem 1. Februar 2022 gelten, um dem BKA, den Staatsanwaltschaften und den Netzwerkanbietern ausreichend Vorbereitungszeit zu geben. Um Täter und Täterinnen schnell identifizieren zu können, müssen soziale Netzwerke dem BKA dann neben dem Hassposting auch die IP-Adresse und Port-Nummer, die dem Nutzerprofil zuletzt zugeteilt war, mitteilen. Die Meldepflicht wird folgende Straftaten umfassen:

- Verbreiten von Propagandamitteln und Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen (§§ 86, 86a StGB)

- Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat (§§ 89a, 91 StGB) sowie Bildung und Unterstützung krimineller und terroristischer Vereinigungen (§§ 129 bis 129b StGB)

- Volksverhetzungen und Gewaltdarstellungen (§§ 130, 131 StGB) sowie Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB)

- Belohnung und Billigung von Straftaten (§ 140 StGB)

- Bedrohungen mit Verbrechen gegen das Leben, die sexuelle Selbstbestimmung, die körperliche Unversehrtheit oder die persönliche Freiheit (§ 241 StGB)

- Verbreitung kinderpornografischer Aufnahmen (§ 184b StGB)

Beleidigungen, üble Nachrede und Verleumdung sind nicht von der Meldepflicht umfasst, da die Abgrenzung zu von der Meinungsfreiheit umfassten Aussagen hier im Einzelfall schwierig sein kann. Soziale Netzwerke müssen allerdings künftig Nutzerinnen und Nutzer darüber informieren, wie und wo sie Strafanzeige und erforderlichenfalls Strafantrag stellen können.

3. Erleichterte Auskunftssperren im Melderecht

Ab jetzt können von Bedrohungen, Beleidigungen und unbefugten Nachstellungen Betroffene leichter eine Auskunftssperre im Melderegister eintragen lassen. So sind sie davor geschützt, dass ihre Adressen weitergegeben werden. Dazu wurde § 51 des Bundesmeldegesetzes geändert. Die Meldebehörden müssen künftig berücksichtigen, ob die betroffene Person einem Personenkreis angehört, der sich aufgrund beruflicher oder ehrenamtlicher Tätigkeiten in verstärktem Maße Anfeindungen oder Angriffen ausgesetzt sieht. Bei einer melderechtlichen Auskunftssperre wird (wie bisher) bei Kandidatinnen und Kandidaten auf Wahllisten nicht mehr die Wohnanschrift angegeben.

15.03.2021 12:31
Holz aus Namibia in Hamburg verfeuern - wie irrwitzig ist das denn?
ROBIN WOOD-Aktivist*innen demonstrieren vor dem Heizkraftwerk Tiefstack in Hamburg gegen dessen Umrüstung von Kohle- auf Holzverbrennung

ROBIN WOOD-Aktivist*innen haben heute mit Bannern und Rauch vor dem Heizkraftwerk Tiefstack in Hamburg protestiert. Der Grund: Die Hamburger Umweltbehörde prüft zurzeit, im Kraftwerk Tiefstack – statt Kohle – Holz aus Namibia zu verheizen. Das Projekt ist international eines der ersten Vorhaben, für das in industriellem Maßstab Holz aus Afrika zur Energiegewinnung in eine EU-Land geliefert werden soll. Aus Sicht von ROBIN WOOD und rund 40 weiteren umwelt- und Entwicklungsgruppen wäre dies eine krasse Fehlentscheidung, die dem Ziel einer klimafreundlichen, sozial gerechten Energieversorgung zuwider liefe.

Die Welt steckt mitten in der Klimakrise. Auch Hamburg muss seinen CO2-Ausstoß drastisch senken. Da will es sich die Stadt zunutze machen, dass die Bundesregierung im Zuge des Kohleausstiegs die Energiegewinnung aus Biomasse als vermeintlich erneuerbare Energie fördert. Hamburg stünde dadurch auf dem Papier bei seiner Klimabilanz besser da, obwohl das industrielle Verfeuern von Holz Klima und Artenvielfalt massiv schadet. In Namibia hingegen würden die Treibhausgasemissionen negativ zu Buche schlagen. Sie entstünden etwa durch eine Nutzung der abgeholzten Flächen für die Rinderhaltung, bei der Produktion von Pellets bzw. Holzhackschnitzeln sowie beim Transport des Holzes.

„Wenn wir für warme Wohnzimmer hier in Hamburg die Ökosysteme Namibias verheizen, ist das klimaschädlich, gefährdet die Artenvielfalt und ist unfair. Hamburg stellt das Projekt als Hilfe für Namibia dar. Dabei sollen mal wieder Ressourcen des Globalen Südens ausgebeutet werden, um den unersättlichen Rohstoffhunger von reichen Industrieländern im Norden zu stillen. Hat Hamburg nichts aus seiner grausamen Kolonialgeschichte gelernt?“, fragt Ute Bertrand von ROBIN WOOD.

ROBIN WOOD hat mit vielen anderen Akteur*innen in Hamburg den Volksentscheid für den Rückkauf der Energienetze erstritten. Seitdem ist die Stadt verpflichtet, für eine sozial gerechte, klimaverträgliche und demokratisch kontrollierte Energieversorgung aus erneuerbaren Energien zu sorgen. Das Verfeuern von Holz aus Namibia widerspricht diesem Ziel.

ROBIN WOOD fordert den Hamburger Umweltsenator auf, die Energiewende entschlossen voranzutreiben und der Umrüstung des Kraftwerks Tiefstack auf Holzverbrennung jetzt eine klare Absage zu erteilen. Das hätte auch Signalwirkung für ähnliche Projekte in anderen Städten.

"Robin Wood mit weiterführenden Informationen"

04.03.2021 09:31
Wie der Staat öffentliche Gelder in die zerstörerische Tierwirtschaft leitet
Subventionen für Tierfabriken und Futteranbau, Sozial- und Beratungsleistungen für Tierhalter*innen oder reduzierte Mehrwertsteuer auf Fleisch, Milch und Eier: Der Staat unterstützt die Tierwirtschaft und den Absatz tierbasierter Produkte auf vielfältige Weise.

Die neue Studie von >>gemeinsam-gegen-die-tierindustrie<< fasst zum ersten Mal zahlreiche Fördermaßnahmen zusammen.
Die intransparente Datenlage lässt nur bei einem Teil der Posten eine Quantifizierung zu. Aber schon dabei kommen wir auf über 13 Milliarden Euro im Jahr. Diese gigantische Summe aus öffentlichem Geld fließt maßgeblich in Tierfabriken, die die Klimakrise anheizen, Menschen ausbeuten, enormes Tierleid verursachen und unser aller Gesundheit gefährden. Hinzu kommen viele weitere Fördermaßnahmen, für die wir keine Beträge schätzen können, die wir aber in der Studie beschreiben.

Im Bewertungsteil finden sich die fatalen Auswirkungen der Tierindustrie im Hinblick auf Menschen, Tiere, Gesundheit, Umwelt und Klima dar und liefern vor diesem Hintergrund eine Kritik an der aktuellen Förderungspolitik.

Davon ausgehend fordert >>gemeinsam-gegen-die-tierindustrie<< den Ausstieg aus der Tierindustrie und damit eine umfassende Transformation von Landwirtschaft und Ernährung.

"Zur Studie 'Milliarden für die Tier­industrie' - als Lang- und Kurzfassung einzusehen"

"Was die Organisation 'gemeinsam gegen die tierindustrie' will


10.12.2020 10:53
Wie der Klimawandel zu mehr Hunger führt - weil die reichen Länder unfair agieren
Der Klimawandel verschärft den weltweiten Hunger. Der jüngste Bericht des Un-Wissen-schaftsrat zum Klimawandel warnt davor, dass die Auswirkungen des Klimawandels weltweit die Ernährungssicherheit weiter untergraben, bestehende Armutsfallen zementieren und neue schaffen werden.

Die Nothilfe- und Entwicklungs­organisationen Oxfam greift das auf:

Auf der einen Seite wirken schleichende Prozesse wie steigende Temperaturen, verstärkte Trockenheit und abnehmende Regenmengen. Sie verringern die Ernteer-träge, erschweren insgesamt die Land-wirtschaft und machen sie in manchen Regionen sogar unmöglich, etwa weil geeignete Flächen verloren gehen (z.B. durch Austrocknung oder Erosion). Auf der anderen Seite ist vermehrt mit Extremwet-terereignissen wie sintflutartigen Regenfällen, Überschwemmungen und Stürmen zu rechnen, die Felder und Ernten komplett vernichten, den Viehbestand dezimieren oder Fischerboote und andere Produktionsmittel zerstören. Auch der steigende Meeresspiegel zwingt schon heute immer wieder Menschen zur Aufgabe von Anbauflächen in Küstennähe. Indirekt wird die Ernährungssicherheit zusätzlich beeinträchtigt, weil sinkende Erträge die lokalen und globalen Preise steigen lassen und dies Menschen mit geringem Einkom-men in existenzielle nöte bringt.

Mehr dazu mit weiteren Aspekten und wichtigen Hinweisen für eine zukunftsfähigere Politik finden Sie auf


"Mehr zum Zusammenhang von Klimaschwandel, Klimaschutz, Hunger, soziale Ungleichheit und soziale Sicherung"
In der linken Spalte dort ein mit Grafiken belegter Report als PDF zum Runterladen.

01.12.2020 07:52
CDU/CSU verschleppt den Rechtsschutz für Whistleblower - Verfassungsklage droht
Die EU will Whistleblower besser schützen, doch die Bundesregierung zögert. Nun droht der Bürgerrechtler Malte Spitz mit Verfassungsklagen. Heinrich Wefing von der ZEIT interviewte Malte Spitz, den Generalssekretär der NGO „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ und Mitglied im Parteirat der Grünen:

DIE ZEIT: Whistleblower berichten aus ihrem Unternehmen oder einer Behörde über Skandale – und helfen so bei der Aufdeckung von Straftaten. Werden diese Informanten in Deutschland ausreichend geschützt?

Malte Spitz: Absolut nicht. Whistleblower müssen regelmäßig mit Strafverfolgung rechnen oder mit massiven Konsequenzen am Arbeitsplatz – mit Versetzung, Mobbing oder fristloser Kündigung. Manchen droht das berufliche Aus. Und der Gesetzgeber lässt die Whistleblower im Stich: Immer muss der einzelne Informant sich gegen mögliche Konsequenzen verteidigen. Mangels einer Beweislastumkehr, wie es sie zum Beispiel im Antidiskriminierungsrecht gibt, können Arbeitgeber Whistleblower leicht mit vorgeschobenen Gründen loswerden. Das schreckt viele potenzielle Whistleblower ab. Und es verhindert, dass Fehlverhalten öffentlich wird. Dabei sind staatliche Stellen und die Öffentlichkeit darauf angewiesen, dass Menschen auch im Alltag mithelfen, Missstände aufzudecken.

ZEIT: Der berühmteste Whistleblower der Welt ist wohl Edward Snowden, der ehemalige US-Geheimdienstmitarbeiter, der den NSA-Skandal aufgedeckt hat. Jemand wie er müsste in Deutschland mit Strafverfolgung rechnen?

Spitz: Ja, das wäre auch bei uns eine riskante Aktion. Im Prinzip muss ein Geheimdienstmitarbeiter, der einen vermeintlichen Skandal sieht, sich erst mal an seinen Vorgesetzten wenden, in letzter Instanz an den zuständigen Minister, bei einem BND-Mitarbeiter wäre das der Kanzleramtschef. Und erst wenn da gar nichts passiert, könnte er an die Öffentlichkeit gehen, müsste aber damit rechnen, wegen Geheimnisverrats angeklagt zu werden. Aber das gilt nicht nur für Menschen wie Snowden. Auch im Alltag gibt es in Deutschland Whistleblower. Zuletzt zum Beispiel eine Küchenhilfe, die ein Video aus der Kantine des Fleischfabrikanten Tönnies geleakt hat, das zeigte, dass dort Hygiene-Abstände nicht eingehalten wurden.

ZEIT: Nun hat die EU allerdings im vergangenen Jahr den Schutz von Whistleblowern verbessert.

Spitz: Das stimmt, und das ist ein Schritt in die richtige Richtung, es gibt besseren Schutz vor Kündigung oder anderen Repressionen.

ZEIT: Umgekehrt könnte man sagen, dass dadurch zum Denunziantentum eingeladen wird.

Spitz: Das ist in der Richtlinie klar geregelt: Wer leichtfertig unwahre Anschuldigungen meldet, der ist vom Schutz ausgenommen. Aber die EU-Richtlinie muss jetzt erst mal in deutsches Recht umgesetzt werden, und da ist die Bundesregierung viel zu zögerlich. Aktuell würgt die Bundesregierung Zivilcourage ab, statt sie zu fördern.

ZEIT: Inwiefern?

Spitz: Die EU kann nur solche Whistleblower schützen, die Verstöße gegen europäisches Recht aufdecken helfen. Also zum Beispiel den Missbrauch von EU-Subventionen. Diese Richtlinie muss die Bundesregierung umsetzen, dazu ist sie verpflichtet. Aber bei dieser Minimalvariante wollen es dann auch Teile der Bundesregierung belassen. Whistleblower, die Verstöße gegen deutsches Recht anprangern, blieben dann weiter ungeschützt. Das ist aus unserer Sicht völlig absurd: Häufig kann ein Beamter oder eine Angestellte eines Unternehmens ja gar nicht abschätzen, ob mit europäischem Geld oder mit Bundesgeld Subventionsbetrug begangen wird. Das müsste er oder sie erst genau prüfen, ehe er oder sie einen Verstoß an staatliche Behörden, zum Beispiel die Staatsanwaltschaft, meldet. Das ist völlig lebensfremd, und außerdem halten wir es für eine Ungleichbehandlung, die gegen das Grundgesetz verstößt. Ich würde mir auf Grundlage der europäischen Richtlinie ein allgemeines Schutzgesetz für Whistleblower wünschen.

ZEIT: Was hindert die Bundesregierung daran, aus Ihrer Sicht?

Spitz: Die große Koalition ist da einfach zerstritten, die SPD will mehr Schutz, die Union ist dagegen: Das Justizministerium hat Anfang 2020 für ein weitreichendes Gesetz plädiert, das Haus von Wirtschaftsminister Peter Altmaier widersprach. Setzen sich CDU/CSU durch, könnte das Kabinett deshalb demnächst eine aus unserer Sicht verfassungswidrige Minimalumsetzung beschließen. Es wäre aber auch ein Problem für die betroffenen Unternehmen, denn die müssten mal strenges EU-Whistleblower-Recht anwenden, mal nationales Recht, ein irrer Aufwand.

ZEIT: Wenn es so kommt, würden Sie vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe klagen?

Spitz: Ich hoffe, dass die Bundesregierung doch noch einen echten, umfassenden Whistleblower-Schutz etabliert. Wenn nicht, würde die "Gesellschaft für Freiheitsrechte" gemeinsam mit betroffenen Whistleblowern relativ zügig versuchen, Klagen vorzubereiten. Da rechnen wir uns gute Chancen aus. Es würde aber vermutlich Jahre dauern, und in dieser Zeit bliebe es bei der schwer erträglichen Rechtsunsicherheit für Whistleblower.

26. November 2020, DIE ZEIT Nr. 49/2020

18.11.2020 12:10
Kein Export von verbotenen Pestiziden - keine Unfairness beim Pestizideinsatz
„Was für Europäer zu giftig ist, darf auch nicht in andere Länder verkauft werden. Das Geschäft belastet Mensch und Umwelt“. So Uwe Kekeritz in der Frankfurter Rundschau am 15.11.2020. Und weiterhin schreibt er:

„Der globale Handel mit Pestiziden ist ein Milliardengeschäft. Dabei hat der Einsatz der Ackergifte verheerende Folgen. Weltweit kommt es jährlich zu über 40 Millionen Pestizidvergiftungen, von denen bis zu 40 000 tödlich enden. Neben akuten Vergiftungserscheinungen gibt es eine Vielzahl von langfristigen Schäden wie ein erhöhtes Auftreten von Krebs, chronischen Krankheiten, schweren Nierenerkrankungen oder Fehlbildungen im Mutterleib. Hinzu kommen fatale Auswirkungen auf Artenvielfalt und Umwelt, wie etwa das Bienensterben oder die Belastung von Wasser und Böden.

Aus diesem Grund ist eine Reihe von Produkten und Wirkstoffen in der Europäischen Union (EU) verboten oder nicht zugelassen. Dennoch dürfen diese Pestizide von europäischen Unternehmen weiterhin in andere Länder exportiert werden. So gehen etwa 60 Prozent dieser hochgiftigen Stoffe in Entwicklungs- und Schwellenländer. Dabei gehören deutsche Unternehmen wie Bayer und BASF zu den größten Exporteuren.

Es gibt weder eine wissenschaftliche noch eine moralische Rechtfertigung für diesen Doppelstandard. Es ist schlicht verantwortungslos, Produkte, die bei uns als zu gefährlich für Mensch und Umwelt eingestuft werden, in andere Länder zu exportieren, nur weil sie schwächere Umweltgesetze und weniger Arbeitsschutz haben. Wenn etwas für uns zu giftig ist, ist es das im globalen Süden auch. Da gibt es nichts zu diskutieren. Hinzu kommt, dass diese Pestizide als Rückstände auf Obst und Gemüse teilweise auch wieder zu uns zurückkommen.

Das Gute ist: Es verändert sich etwas. Die Zivilgesellschaft macht schon seit Jahren auf diese Missstände aufmerksam. In den letzten Monaten sind etliche Studien mit neuen Erkenntnissen zum Ausmaß und den Auswirkungen dieser Exporte erschienen. Aktuell läuft in Deutschland eine Kampagne, die durch ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen getragen wird.

ndere Länder sind weiter als Deutschland, und auch auf EU-Ebene gibt es Fortschritte. Frankreich hat schon seit zwei Jahren den Export solcher Pestizide gesetzlich verboten. In der Schweiz gilt von 2021 an ein Exportverbot für fünf besonders gefährliche Wirkstoffe. Das dort ansässige Unternehmen Syngenta ist Weltmarktführer für chemische Pflanzenschutzmittel. Die im Oktober veröffentlichte EU-Chemikalienstrategie bekennt sich zu einem Produktions- und Exportstopp verbotener Pestizide und will dass dieser EU-weit umgesetzt wird.

Als Grünen-Bundestagsfraktion haben wir mit der Linken-Fraktion nun einen Antrag eingebracht, in dem wir ein Exportverbot für in der Europäischen Union verbotene oder nicht zugelassene Pestizide fordern. Die gesetzliche Grundlage dafür existiert in Deutschland bereits.

Das Pflanzenschutzgesetz sieht vor, dass das Landwirtschaftsministerium zur Abwehr von Gefahren für die Gesundheit von Menschen und Umwelt die Ausfuhr von bestimmten Pestiziden in Staaten außerhalb der EU untersagen kann. Die Bundesregierung müsste also nicht einmal ein neues Gesetz erlassen, sondern nur die bestehenden anwenden. Das zeigt, dass es nicht um juristische Probleme geht, sondern um mangelnden politischen Willen.

Zudem muss der Umgang mit Pestiziden auf internationaler Ebene besser reguliert werden. Es gibt bereits internationale Leitlinien und Abkommen, die aber häufig nicht verbindlich sind oder nur eine geringe Anzahl von gefährlichen Inhaltstoffen betreffen.Diese Abkommen müssen gestärkt und ausgeweitet werden. Dafür ist es wichtig, dass Deutschland und die anderen EU-Staaten mit gutem Beispiel vorangehen, um internationale Verhandlungen glaubwürdig voranbringen zu können.

Um den weltweiten Pestizideinsatz zu verringern, müssen wir an ökologisch und sozial sinnvollen Alternativen arbeiten. Dazu zählt die agrarökologische Forschung, die Züchtung und der freie Tausch von geeignetem Saatgut statt patentierter und häufig genmanipulierter Sorten, aber auch ein gerechteres Welthandelssystem, das die regionale Produktion und Vermarktung fördert und die Abhängigkeit kleiner Produzenten vom Weltmarkt verringert.
Erfolgreiche Beispiele gibt es schon viele, man muss ihnen nur mehr Gehör verschaffen und sie verstärkt fördern. Sowohl in der Landwirtschaft als auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit ist hier noch viel Luft nach oben.

Uwe Kekeritz ist Sprecher für Entwicklungspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion und stellvertretender Vorsitzender im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung des Bundestags.

07.08.2020 08:16
Lobbycontrol kritisiert Einstellung des Prüfverfahrens gegen Philipp Amthor
Wegen seines Engagements für das US-Unternehmen Augustus Intelligence war der CDU-Politiker Philipp Amthor in die Kritik geraten. Der Bundestag hat nun das Prüfverfahren gegen ihn eingestellt. Die Organisation Lobbycontrol findet: Die Regelungen, die Interessenkonflikte von Abgeordneten ausschließen sollen, sind zu schwach.

Der Bundestag sieht beim Engagement des CDU-Bundestagsabgeordneten Philipp Amthor für ein New Yorker Start-up keine Rechtsverstöße. “Die erfolgte Prüfung auf Verstöße gegen die Verhaltensregeln ist abgeschlossen, auf Grundlage der geltenden Bestimmungen haben sich keine Hinweise auf Rechtsverstöße ergeben”, sagte eine Sprecherin dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

Amthor sagte am Donnerstag auf Nachfrage der Nachrichtenagentur dpa: “Meine beendeten Nebentätigkeiten habe ich einschließlich aller Reisen mit der Bundestagsverwaltung als zuständiger Stelle erörtert. Sie hat den Sachverhalt umfangreich geprüft und mir im Ergebnis mitgeteilt, dass sich auf der Grundlage der geltenden Bestimmungen keine Rechtsverstöße ergeben haben. Das Prüfverfahren wurde eingestellt.”

Amthor war wegen seiner Nebentätigkeit und Lobbyarbeit für das US-amerikanische IT-Unternehmen Augustus Intelligence in die Kritik geraten. Er habe die Zusammenarbeit inzwischen beendet. Seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz in Mecklenburg-Vorpommern zog er zurück.

Berliner Staatsanwaltschaft sah keinen Anfangsverdacht der Bestechlichkeit

Der 27-jährige CDU-Politiker erklärte nun: "Jenseits des Juristischen gilt aber auch: Nicht alles, was rechtlich möglich ist, ist auch politisch klug. Dass mir das nicht früher bewusster war, bedauere ich sehr." Auch die Berliner Staatsanwaltschaft sah in dem Engagement keinen Anfangsverdacht einer Bestechlichkeit oder Bestechung. Es lägen keine Erkenntnisse darüber vor, dass Amthor verbotene Zuwendungen erhalten habe, hieß es im Juli in einer Mitteilung. Amthor habe lediglich seinen Kontakt zum Bundeswirtschaftsministerium genutzt mit dem Ziel der Unterstützung des Unternehmens.

LobbyControl fordert strengere Transparenzregeln

Die Organisation LobbyControl sieht den Fall jedoch noch nicht als erledigt an. Sie fordert strengere Transparenzregeln im Bundestag. “Der Fall Amthor zeigt klar, dass die Regeln des Bundestags nicht ausreichen, um mit Interessekonflikten von Abgeordneten ordentlich umzugehen”, sagte LobbyControl-Sprecher Timo Lange dem RND. “Private Tätigkeiten, die auch der Gewinnmaximierung dienen können, und Abgeordnetenrolle werden nicht klar genug getrennt. Die Regeln sind schwammig und haben Lücken. Das Parlament sollte dies schärfer regulieren.”

Es müsse vom Bundestag klar gestellt werden, “dass das Abgeordnetenmandat nicht genutzt werden darf, um wirtschaftliche Vorteile zu erlangen”, sagte Lange weiter. “Nebentätigkeiten oder andere Verbindungen, die im Umgang mit politischen Entscheidungen Befangenheit auslösen können, müssen sichtbarer gemacht werden. Auch Aktienoptionen müssen offengelegt werden.”

Auch im Fall Amthor blieben noch viele Fragen offen. “Es wurden zwar rechtlich keine Verstöße festgestellt. Philipp Amthors Verhalten bleibt aber dennoch fragwürdig”, sagte Lange. “Um Zweifel zu zerstreuen, sollte er unter anderem öffentlich darlegen, von welchem Zeitpunkt an er mit Augustus Intelligence über Aktienoptionen und einen Direktorenposten gesprochen hat. Sollte Amthor seine Tätigkeit bei einer Anwaltsfirma wiederaufnehmen, sollte er über die Art seiner Mandate dort Auskunft geben.”

Von RND/vat/dpa

16.07.2020 09:33
Schritte auf dem Weg zu fairem Internet: Europäischer Gerichtshof kippt umstrittenes "Privacy Shield"
Firmen übertragen Nutzerdaten in die USA. Ohne Rückfrage bei den Nutzern, ohne Einverständniserklärung. Dürfen Firmen wie Facebook das - Nutzerdaten in die USA übertragen? Diese Frage beschäftigte den Europäischen Gerichtshof. Denn das entspricht weder der EU-Datenschutzgrundverordnung noch einem fairen, transparenten Umgang mit Nutzerdaten. Diese Daten sind ja zugleich Waren, mit denen viel Geld erwirtschaftet werden. Nun wurde ein wichtiger transatlantischer Datenpakt für ungültig erklärt. Spiegel Online schreibt dazu heute:

"Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Datenschutzvereinbarung "Privacy Shield" gekippt, die die USA und die EU getroffen haben. Der "Privacy Shield" legt Standards für den Umgang mit europäischen Informationen in den USA fest.

Das Verfahren war aus einem Rechtsstreit des österreichischen Juristen und Aktivisten Max Schrems mit Facebook entstanden.

Das grundsätzliche Ende von Datentransfers in die USA bedeutet das EuGH-Urteil bei Weitem nicht. Unternehmen können Nutzerdaten von EU-Bürgern weiter auf Basis sogenannter Standardvertragsklauseln in die USA und andere Staaten übertragen, entschieden die Luxemburger Richter am Donnerstag. Zugleich wurde aber auch betont, dass Datenschutzbehörden verpflichtet seien, Übermittlungen von Daten auszusetzen oder zu verbieten, wenn sie der Auffassung sind, dass die Standardvertragsklauseln im Empfängerland praktisch nicht eingehalten werden oder nicht eingehalten werden können.
Es geht um die Macht der US-Geheimdienste

Das Urteil geht aus einem jahrelangen Rechtsstreit um den Umgang mit personenbezogenen Daten hervor. Max Schrems hatte bei der irischen Datenschutzbehörde ursprünglich beanstandet, dass Facebook Irland seine Daten an den Mutterkonzern in den USA weiterleitet, obwohl diese Daten dort nicht angemessen gegen US-Überwachungsprogramme gesichert seien. Er begründet das damit, dass Facebook in den USA dazu verpflichtet sei, US-Behörden wie der NSA und dem FBI Zugang zu den Daten zu gewähren - ohne dass Betroffene dagegen vorgehen können. Der irische High Court rief angesichts jenes Streits schließlich den EuGH an und wollte wissen, ob die angewandten Regeln mit dem europäischen Datenschutzniveau vereinbar sind.

Die Luxemburger Richter erklärten den "Privacy Shield" nun für ungültig. Mit Blick auf die Zugriffsmöglichkeiten der US-Behörden seien die Anforderungen an den Datenschutz nicht gewährleistet. Zudem sei der Rechtsschutz für Betroffene unzureichend.

Die sogenannten Standardvertragsklauseln sollen im Kern Garantien dafür bieten, dass die Daten von EU-Bürgern auch bei einer Übermittlung aus der EU ins Ausland angemessen geschützt sind. Der "Privacy Shield" ist ein weiterer Kanal, der für den Datentransfer in die USA zur Verfügung steht.

Schrems gibt sich zufrieden

Max Schrems sagte am Donnerstagvormittag, er sei "sehr froh" über die Entscheidung des Gerichtshofs. Sie sei ein absoluter Rückschlag für Facebook und die irische Datenschutzbehörde. Es sei klar, dass die USA ihre Überwachungsgesetze ernsthaft ändern müssten, wenn US-Unternehmen weiterhin eine Rolle auf dem EU-Markt spielen wollten.

Durch eine Klage von Schrems war 2015 bereits das transnationale Safe-Harbor-Abkommen zwischen den USA und der EU für ungültig erklärt worden. Der "Privacy Shield" war als Nachfolgeregelung für das Safe-Harbor-Abkommen ausgehandelt worden und war von Anfang an umstritten. Facebook beruft sich bei der Übertragung der Daten von Europa in die USA nicht auf den "Privacy Shield", sondern auf die Standardvertragsklauseln".

Der Spiegel am 16.07.2020 mit den Agenturen mbö/dpa/AFP

07.07.2020 08:31
110 Bischöfe fordern Lieferkettengesetz gegen Ausbeutung
Katholische Bischöfe aus aller Welt haben an die Regierungen appelliert, Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards zu verpflichten. "Wir erwarten auch von der deutschen Bundesregierung, dass sie in dieser Legislaturperiode das im Koalitionsvertrag vorgesehene Lieferkettengesetz verabschiedet", erklärte am Montag Freiburgs Erzbischof Stephan Burger, der die Kommission für Entwicklungsfragen der deutschen Bischofskonferenz leitet. Burger hat eine entsprechende Erklärung von mehr als 110 katholischen Bischöfen aus 31 Ländern unterschrieben, so die Erzdiözese.

Ziel eines Lieferkettengesetzes ist vor allem, ausbeuterische Arbeitsbedingungen bei Zulieferern im Ausland zu verhindern. "Wenn Unternehmen zur Verschmutzung von Böden, Luft und Grundwasser, zu Menschenrechtsverletzungen oder Kinderarbeit beitragen, müssen sie dafür zur Verantwortung gezogen werden. Betroffenen muss der Zugang zu wirksamen Rechtsmitteln erleichtert werden", fügte Erzbischof Burger hinzu.

Pirmin Spiegel, Hauptgeschäftsführer von Misereor (Aachen), erinnerte Unternehmen an ihre Verantwortung gegenüber Textilarbeiterinnen in Bangladesch, Kakaopflückern in Westafrika oder indigenen Gemeinschaften in Brasilien. Die Corona-Krise habe gezeigt, wie verwundbar gerade die Beschäftigten am Beginn internationaler Lieferketten seien.

Die Bischöfe aus Afrika, Lateinamerika, Asien und Europa heben in der Erklärung hervor, dass die Achtung von Menschenrechten und Umweltschutz nicht länger dem freiwilligen Ermessen von Privatunternehmen überlassen bleiben dürfe. Deshalb unterstützen sie die angekündigte EU-Initiative für verbindliche menschenrechtliche und umweltbezogene Sorgfaltspflichten.

epd lbw/cez jup

30.04.2020 11:13
Tag der Arbeit: Whistleblower von Bundesregierung im Stich gelassen
Am Tag der Arbeit fordern das Whistleblower-Netzwerk und Transparency Deutschland, mit denen wir kooperieren, Hinweisgeber am Arbeitsplatz besser zu schützen

Whistleblower-Netzwerk und die Antikorruptionsorganisation Transparency Deutschland fordern das umfassende Gesetz zum Hinweisgeberschutz auf Basis der vorliegenden Richtlinie der Europäischen Union (EU 2019/1937). Die neue Gesetzgebung sollte zwingend auch rein deutsche Rechtsbereiche berücksichtigen, um in Zukunft alle Hinweisgeber gleichermaßen sinnvoll schützen zu können.

Bei der Aufdeckung von Korruptionsfällen und anderen Straftaten sind Hinweisgeber unverzichtbar. Doch wer in Deutschland im Arbeitskontext Straftaten, Fehlverhalten und Missstände meldet, ist Repressalien durch den Arbeitgeber fast schutzlos ausgeliefert.

„Auch der Tag der Arbeit steht in diesem Jahr im Eindruck der Corona-Krise. Gerade mit Blick auf bereitgestellte Staatshilfen und den Handlungsdruck auf das Gesundheitswesen und die medizinische Forschung braucht es engagierte Bürgerinnen und Bürger, die Missbrauch und Fehlverhalten ans Licht bringen", so Louisa Schloussen, Leiterin der Arbeitsgruppe Hinweisgeber von Transparency Deutschland.

Annegret Falter, Vorsitzende von Whistleblower-Netzwerk: „Wenn Beschäftigte im Zusammenhang der Corona-Pandemie auf Rechtsverstöße oder Missstände hinweisen, erwarten wir von Behörden und der Rechtsprechung schon jetzt eine richtlinienkonforme Auslegung bestehender Vorschriften.“

Die deutsche Bundesregierung muss bis Oktober 2021 die EU-Richtlinie zum Whistleblowerschutz in nationales Recht umsetzen. Damit wird eine Harmonisierung