Christine Dankbar – Pro Die Zweitstimme zählt so mehr, verfallene Erststimmen sind verschmerzbar
"Anders sieht es mit den 23 Direktkandidatinnen und -kandidaten aus, die am Sonntag in ihren Wahlkreisen gewonnen haben und doch nicht ins Parlament einziehen, weil ihr Stimmenergebnis einfach zu gering ausfiel. Das ist für jede und jeden Einzelnen von ihnen natürlich bedauerlich, dennoch zeigt das keinesfalls einen Mangel an Demokratie, wie jetzt oft zu lesen ist. Die Union argwöhnt sogar, es sei politisch gewollt, dass ihre Kandidierenden nicht mehr ausreichend berücksichtigt werden.
Es ist aber andersherum. Die CDU – vor allem in Baden-Württemberg – und die CSU in Bayern haben in den vergangenen Jahrzehnten de facto Abgeordnete mit Vorzugsrechten in den Bundestag geschickt. Ihnen reichte über Jahrzehnte ein auch mit mäßigem Ergebnis gewonnenes Direktmandat für den Einzug. Teilweise zogen Abgeordnete – auch von der SPD – ins Parlament ein, die lediglich um die 20 Prozent der Stimmen im Wahlkreis geholt hatten.
Neues Wahlrecht bei der Bundestagswahl: Zweitstimme maßgeblich für Zusammensetzung des Bundestags
Ist es ein Gewinn an Demokratie, dass diese Abgeordneten den absoluten Vorzug vor allen anderen bekommen, so wie es bisher war? Es war zumindest ein Gewinn für die CDU, weshalb der einstige Bundeskanzler Konrad Adenauer die Einführung der Erststimme vorantrieb. In Deutschland aber ist das Ergebnis der Zweitstimmen maßgeblich für die Zusammensetzung des Bundestags, was vom Verfassungsgericht auch so bestätigt wurde. Das gilt nun für alle Abgeordneten. Nicht mehr und nicht weniger".
Pitt von Bebenburg – Kontra Die Reform ist missglückt, alle Wahlkreise müssten vertreten sein
"Darmstadt, eine hessische Großstadt, ist künftig nicht mehr im Deutschen Bundestag vertreten. Wie kann das sein? Diese Lücke und einige andere sind sehenden Auges in Kauf genommen worden. Sie sind die Folge der jüngsten Wahlrechtsänderung. Das Ergebnis der Bundestagswahl zeigt, dass es dabei nicht bleiben sollte.
Wer das Wahlsystem ändert, muss darauf achten, das Gerechtigkeitsgefühl des Wahlvolks nicht zu beeinträchtigen. Das ist mit der jüngsten Reform des Wahlrechts misslungen. Diese Reform hat dazu geführt, dass sage und schreibe 23 Wahlkreise keine direkt gewählten Abgeordneten nach Berlin entsenden, weil Parteifreund:innen in anderen Wahlkreisen mehr Prozent geholt haben. Ist das gerecht, wenn jemand einen besonders umkämpften Wahlkreis gewinnt und dennoch das Nachsehen hat?
Mit diesen Politikerinnen und Politikern hat auch ihre Wählerschaft Pech gehabt. Sie hat diese Personen mit einem Votum ausgestattet, bis zum Schluss mitgezittert, über den Erfolg gejubelt – um dann ernüchtert zu werden. Betroffen sind vor allem Kandidierende der Union, aber auch welche der AfD und eine Sozialdemokratin. Man muss kein Anhänger dieser Personen sein, um Zweifel an dem Wahlsystem anzumelden.
Nicht überall ist das Ergebnis so krass wie in Darmstadt. Andere Wahlkreise, etwa in Frankfurt, werden durchaus in Berlin vertreten. Aber dort ziehen nicht die Kandidaten ein, die im Wahlkreis gewonnen haben, sondern andere, die hinten lagen, aber über die Listen abgesichert waren. Wer soll das verstehen?
Dabei verfolgte die Wahlrechtsreform ein vollkommen richtiges Ziel: Der Bundestag sollte deutlich kleiner werden, um arbeitsfähig zu bleiben und Kosten zu sparen. Das wäre auch möglich gewesen, wenn man sich auf größere Wahlkreise verständigt hätte. Ein Wahlrecht, das Gefühle der Ungerechtigkeit produziert, ist hingegen eine fatale Entwicklung. Gerade in einer Zeit, in der die Demokratie von manchen infrage gestellt wird".
Aus Frankfurter Rundschau vom 26.2.25, S. 5
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