Blog nach Monat: August 2023

31.08.2023 10:00
Kununu-Chefin Nina Zimmermann über die mangelnde Kritikfähigkeit vieler Arbeitgeber
Es mangelt nicht nur an Kritikfähigkeit, an kritischer Selbstreflexion und mitarbeiterorientiertem Gestaltungswillen in Unternehmen, sondern auch und vor allem an Transparenz, Fairness und Beteiligung.
Obwohl es in vielen Branchen an Personal fehlt. Oder gerade deshalb? Der Wettbewerb um kompetente Arbeitskräfte spitzt sich zu, schreibt Steffen Hermann in der Frankfurter Rundschau zu seinem Interview mit Kununu-Chefin Zimmermann: „Dabei wird der Auftritt von Unternehmen im Internet wichtiger – auch auf Plattformen wie Kununu. Dort können Beschäftigte ihre Arbeitgeber bewerten: Gehalt, Unternehmenskultur, Vielfalt. Schlechte Bewertungen drücken den Score – und verschlechtern die Chancen eines Unternehmens bei potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern. Im Interview spricht Kununu-Chefin Nina Zimmermann über typische Beschwerden, Feedback-Probleme deutscher Unternehmen und Pay Gaps.

Frau Zimmermann, wegen der konjunkturellen Flaute herrscht in vielen Chefetagen eine schlechte Stimmung. Wie gereizt ist der Ton derzeit auf Ihrer Plattform?

Es ist nicht so, dass derzeit mehr negative Bewertungen kommen. Was man aber schon merkt: Wer sich in schlechten Zeiten von Mitarbeitern trennen muss, kann es gut oder schlecht machen. Und da müssen die Arbeitgeber noch viel lernen: Wie erhält man eine gute Unternehmenskultur, wenn die Zeiten härter werden?

Wie sieht denn eine gute Unternehmenskultur in schlechten Zeiten aus?

Offen und ehrlich mit der Situation umgehen, frühzeitig kommunizieren und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter teilhaben lassen.

Und die typischen Beschwerden auf Ihrer Plattform berichten dann vom Gegenteil?

Ja, eine Sache hat sich seit Jahren nicht verändert: Leute kommen oft wegen des Geldes, und sie gehen wegen des Chefs. Der Ton, das Umfeld, der Umgang miteinander – wenn es Probleme in einem Unternehmen gibt, dann häufig dort. Das sehen wir in unseren Daten.

Wie gehen Sie mit den Daten um, die sie durch die Bewertungen bekommen?

Ein Beispiel: Zwei Medienunternehmen, beide haben einen Score von 3,6, beide haben knapp 10 000 Mitarbeiter, die Sterne-Bewertungen sind ähnlich. Die Unterschiede verstecken sich häufig in den Texten, die die Bewertenden über das Unternehmen schreiben. Das ist der Schatz, den wir uns ganz genau anschauen. Damit können wir Arbeitgeber dann beraten, wenn sie offen dafür sind.

Spielt künstliche Intelligenz bei der Auswertung eine Rolle?

Ja, aber wir müssen noch viel lernen. Wir haben tolle Data-Science-Kollegen, die sich damit beschäftigen und helfen, die Plattform besser zu machen. Es gibt noch einiges zu tun, denn wir sitzen auf sehr vielen Daten.

Und wie verdient Kununu Geld mit diesen Daten?

Wir haben ein klassisches Werbemodell. Unternehmen können ihr Profil schöner und besser darstellen, indem sie ein Abo kaufen, dessen Preis sich nach der Unternehmensgröße richtet. Das Schöne ist: Die Unternehmen haben dann die Chance, mehr über sich zu erzählen – aber es ändert sich an der Mechanik der Plattform nichts. Das Ranking bleibt gleich und auch Unternehmen ohne Bezahlprofil können Bewertungen kommentieren.

Das heißt, die Unternehmen können kein besseres Ranking kaufen?

Nein, das wäre auch nicht im Sinne unserer Plattform. Wir wollen Mehrwert stiften.

Stichwort Mehrwert. Wie stellen Sie denn sicher, dass die Bewertungen ein realistisches Bild zeichnen? Wer mit seinem Arbeitgeber einigermaßen zufrieden ist, schreibt in der Regel keine Online-Bewertung.

Tja, beim Job ist es anders als beim Restaurant- oder Hotelbesuch. Da schreibt man eine Bewertung, wenn der Teller leer oder der Urlaub vorbei ist. Die Frage ist: Wann ist ein guter Zeitpunkt, einen Arbeitnehmer zu ermutigen, eine Bewertung zu schreiben? Wir raten Arbeitgebern, regelmäßig um Feedback zu bitten – zum Beispiel nach der ersten Bewerbungsrunde oder am Ende der Probezeit. Und klar: Man kann nicht 100 Prozent gewährleisten, dass das Bild stimmt, das die Bewertungen von einem Unternehmen zeichnen. Aber je mehr Bewertungen es gibt, desto genauer ist es in der Regel.

Prüfen Sie die Bewertungen denn?

Ja. Missbrauch können wir technisch identifizieren, zum Beispiel, wenn es mehrere Bewertungen in kurzer Zeit sind oder gleiche IP-Adressen. Unser System erkennt auch Schimpfwörter oder Namen, die werden sofort rausgefischt. Und selbstverständlich können sich auch Arbeitgeber bei uns melden, wenn sie der Meinung sind, eine Bewertung stimme nicht.

Können Sie denn sagen, welches Problem größer ist: Frustrierte Ex-Mitarbeiter:innen, die dem Arbeitgeber nach der Kündigung eine Ohrfeige geben wollen, oder Unternehmen, die die eigenen Bewertungen polieren wollen?

Das Problem liegt definitiv bei den Unternehmen. Und das ist ein kulturelles Thema: Im deutschsprachigen Raum tun wir uns schwer mit Feedback und Kritik. Das Problem wächst. Ich kann Ihnen Anekdoten erzählen von Unternehmen, die mich abends anrufen und sich beschweren, weil sie eine schlechte Bewertung bekommen haben. Dann schaue ich mir das Profil an und sehe: 19 tolle Bewertungen und eine ganz schlechte. Da denke ich mir: Macht euch locker!

Es fehlt also der Impuls, zu fragen: Was kann ich als Arbeitgeber verbessern?

Genau, meistens heißt es dann: Ich weiß ganz genau, wer die Bewertung geschrieben hat, dem haben wir gerade gekündigt. Ich sage dann: Okay, das ist doch verständlich. Vielleicht war der Kündigungsprozess nicht gut.

Sie sind seit Juni 2021 Chefin von Kununu. Haben Sie in dieser Zeit etwas über den Arbeitsmarkt gelernt, das Sie überrascht hat?

Da muss ich mich wiederholen: Das ist die Negativität aufseiten vieler Unternehmen, dass sie sich nicht mit Kritik auseinandersetzen. Ich dachte, da wären wir wirklich weiter. Positiv hat mich überrascht, wie wichtig Transparenz inzwischen ist. Wie offen viele Menschen inzwischen über ihre Arbeit sprechen, über das Gehalt und die Kultur in den Unternehmen. Und zwar weil sie anderen Menschen helfen wollen, die sich für einen Arbeitgeber interessieren.

Bei Transparenz ist der Weg nicht weit zur Gleichstellung und dem Gender Pay Gap. Sie sammeln ja auch Daten zu Gehältern. Was sind Ihre Erkenntnisse?

Tatsächlich haben wir zwei Dinge analysiert: Es gibt große Pay Gaps zwischen unterschiedlichen Städten. Und wir sehen auch, dass Frauen weiterhin deutlich benachteiligt werden. Ihre Gehälter sind schon beim Berufseinstieg teilweise 13, 14 Prozent niedriger als die der Männer. Das ist eine unerklärliche Lücke.

Ist das auch ein kulturelles Problem? Über Geld spricht man nicht?

Ja, aber auch da ändert sich etwas. Zumindest bei den jüngeren Generationen. Während man früher nicht mal den eigenen Eltern erzählt hat, was man verdient, ist das bei der Generation Z anders. Die jungen Menschen sagen: Ich brauche so viel Geld im Monat, deshalb muss es dieser Job sein. Es ändert sich also auch der Umgang mit Geld.

Sie sind gebürtige Britin, haben in London und Boston studiert, wohnen nun in Wien. Sie haben also immer wieder die Perspektive gewechselt: Was sollten deutsche Unternehmen lernen?

Ich wünsche den deutschen Unternehmen mehr Mut. Sie sollten erkennen, dass sie mit alten Methoden keinen Erfolg mehr haben werden. Mit der Generation Z muss man anders kommunizieren, die klassische Top-Down-Hierarchie funktioniert nicht mehr. Also: mehr Mut, Offenheit und Wertschätzung“.

Nina Zimmermann, 48, ist seit Juni 2021 Chefin des Portals Kununu. Dort können Beschäftigte ihre Arbeitgeber bewerten. Zuvor war die gebürtige Britin bei Burda, wo sie unter anderem für Bunte.de zuständig war. Sie studierte in London und Boston, machte Karriere bei Bertelsmann, der Telekom und der Karriereplattform Experteer.
"Fairness-Partner werden und die Unternehmenskultur verbessern"

29.08.2023 09:57
Die kalte Spitze krasser Unfairness mit tödlicher Neigung
Zur politischen Hetze gegen Zuwanderung und das Recht auf Asyl. Ein wütender Essay von Bascha Mika in der Frankfurter Rundschau (14.8.23):

„Worte sind Waffen. Gezielt eingesetzt können sie Wellen der Gewalt und Zerstörung auslösen und dabei nicht nur einzelne Menschen treffen, sondern ganze Gesellschaften schleichend zersetzen. „Worte können sein wie winzige Arsendosen“, schreibt der Schriftsteller Victor Klemperer. „Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“
Ist es also Dummheit, Fahrlässigkeit oder kaltblütiges Kalkül, was sich Politiker und Politikerinnen der bürgerlichen Parteien derzeit leisten? Seit Monaten befeuern sie – mal grob, mal subtiler – den Diskurs über Zuwanderung und Asyl. Verunglimpfen Ausländer und Ausländerinnen, Migrantinnen und Migranten, Flüchtlinge. Bedienen rassistische Argumentationsmuster und entmenschlichen ihre Opfer. Mit ihren verbalen Attacken schrammen sie manchmal nur knapp an der Volksverhetzung vorbei – und die AfD freut sich.

Welche Synapsen haben sich wohl im Hirn des CSU-Politikers Peter Ramsauer verschaltet, als er in einer bösartigen Assoziationskette das Thema Fachkräftemangel mit ekligen Tieren verknüpfte? O-Ton: „Deng Xiaoping hat einmal gesagt: Wenn man die Fenster zu weit aufmacht, kommt auch viel Ungeziefer mit rein.“ Was macht man denn mit Ungeziefer, Herr Ramsauer? Man muss es vernichten, oder? Wer braucht schon Schädlinge im Haus oder Land?

Die Grundwerte einer pluralen Gesellschaft beginnen zu faulen, wenn mit ihnen gezockt wird. Die Brandmauer fällt, wenn an Menschenrechte der doppelte Standard angelegt wird, weil es politstrategisch gerade mal passend erscheint. Dabei ist der bayerische Bundestagsabgeordnete ja nur deshalb öffentlich aufgefallen, weil er einen besonders hässlichen Vergleich angestellt hat. Andere Politiker und Politikerinnen der etablierten Parteien, ob von SPD, FDP oder CDU, äußern sich in der Debatte um Asyl und Migration vielleicht weniger drastisch – aber keineswegs weniger menschenverachtend. Und suhlen sich fröhlich im braunen Gesinnungssumpf à la AfD.

Seid Ihr Volksvertreter noch ganz bei Trost? Oder schon völlig verantwortungsvergessen? Hört endlich auf damit! Tut doch nicht so, als wüsstet Ihr nicht, wo das endet. Inzwischen werden in Deutschland wieder jeden Tag zwei bis drei Geflüchtete attackiert. Bereits im vergangenen Jahr – auch provoziert durch die elende Asyldebatte in der Europäischen Union – sind die Angriffe auf Flüchtlingsheime gestiegen, zum ersten Mal seit 2015. In diesem Jahr werden sie weiter zunehmen, denn bis Juli wurden bereits 80 Anschläge oder Sachbeschädigungen registriert.

Selbstverständlich sind Fluchtbewegungen eine globale Herausforderung und Fluchtgründe so vielfältig wie die Menschen, die ihre Heimat verlassen – und zwar selten freiwillig. Nicht nur Deutschland und Europa müssen Lösungen rund um Fragen von Migration und Zuwanderung finden, was keineswegs einfach ist. Doch wollen wir in der aufgeklärten Moderne in die Barbarei zurückfallen oder uns dabei auf Errungenschaften der Zivilisation besinnen? Dass Menschenrechte unteilbar sind, zum Beispiel.

Bayern – wo sich Ministerpräsident Söder, Innenminister Herrmann und der Vorsitzende der Freien Wähler, Aiwanger, besonders gern einer menschenfeindlichen Rhetorik bedienen und Zuwanderung als bedrohlich markieren – steht bundesweit an der Spitze der rassistisch motivierten Attacken auf Schutzsuchende. 105 Angriffe auf Geflüchtete und 14 Anschläge auf Unterkünfte gab es bereits in diesem Jahr, meldet der bayerische Flüchtlingsrat.

So wird über Sprache ein Klima geschaffen, in dem Gewalt gegen spezifische Gruppen gesellschaftlich akzeptiert erscheint und dann auch weniger Mitgefühl in der Bevölkerung hervorruft. Wollt Ihr den Zusammenhang leugnen? Wie weit ist es wohl von Euren Worten zu Taten? Vom Schlagwort zum Brandsatz? Wie viele Neonazis sind denn in den vergangenen Jahrzehnten schon losgezogen – aufgestachelt von einer aggressiv fremdenfeindlichen Stimmung im Land, die Ihr mit aufgeheizt habt? Gewaltverliebte Jungmänner, Mordlust im Auge, die glaubten, des Volkes Willen zu vollstrecken: „Wir tun was, wo andere nur quatschen!“

Muss man Euch wirklich erinnern?

Eberswalde 1990: Amadeu Antonio wird von Neonazis gejagt und totgeschlagen.

Hoyerswerda 1991: Unter dem Beifall der umstehenden Menge attackieren Rechtsextremisten über Tage die Heime von Asylsuchenden, Vertragsarbeitern und -arbeiterinnen, vertreiben die Menschen, die hier wohnen, mit Steinen und Brandflaschen.

Mölln 1992: Beim Brandanschlag auf Wohnhäuser türkischer Familien werden Bahide Arslan und zwei ihrer Enkelinnen ermordet.

Rostock-Lichtenhagen 1992: Tagelang belagern Hunderte Neonazis und Tausende Schaulustige die Unterkünfte von Asylsuchenden, Vertragsarbeitern und -arbeiterinnen. Ein Heim, in dem sich 100 Vietnamesen und Vietnamesinnen verschanzt haben, wird in Brand gesteckt.

Solingen 1993: Bei einem rassistisch motivierten Brandanschlag auf das Haus der türkischstämmigen Familie Genc werden fünf Mädchen und Frauen getötet.

Schlaglichter auf die rassistische Gewalt nach der deutschen Wiedervereinigung. Mindestens 42 Menschen wurden zwischen 1990 und ’92 von Neonazis ermordet. Allein 1992 wurden über 2500 rechtsextreme Gewalttaten gezählt. Ein überbordender, vernichtender Hass. Und der kam auch damals keineswegs von ungefähr. Angestachelt von einer lang anhaltenden, erbitterten Debatte um Flüchtlinge und Asylrecht nach der Wende, war er eingebettet in eine weit verbreitete, extrem ausländer- und migrationsfeindliche Stimmung im Land.

„Asylantenschwemme“, „Asylschmarotzer“, „Flüchtlingsflut“, „Überfremdung“. So die Worte – die Taten folgten. Als Anpeitscherin trieb die Union die übrigen Parteien vor sich her, um eine Änderung des Grundrechts auf Asyl zu erzwingen. Das ist ihr zwar zynischerweise nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen mit dem sogenannten Asylkompromiss gelungen, aber profitiert haben vor allem die rechtsextremen Republikaner. Auf der Woge des „Asylmissbrauchs“ konnte die Partei in Berlin und Brüssel in die Parlamente einziehen.

Es gibt eine lange Geschichte des militanten Rassismus in Deutschland, eine bittere Kontinuität rechter und rechtsterroristischer Gewalt auch nach den 1990er Jahren. Die Morde des NSU, der Anschlag von Halle, das Attentat in Hanau ... Dennoch zeigt die Statistik des Schreckens immer dann Höhepunkte auf, wenn über öffentliche Hetzreden ein gesellschaftliches Umfeld geschaffen wird, das die Hemmschwellen senkt, von dem die Täter sich legitimiert und getragen fühlen.

Und heute?

Da gibt Innenministerin Nancy Faeser die sicherheitspolitische Hardlinerin, operiert gezielt mit dem Reizwort „Clankriminalität“ und distanziert sich nicht von Vorschlägen der Länder, „Clanmitglieder“ umstandslos abzuschieben – obwohl dies rechtsstaatlich kaum möglich ist. Hauptsache, es werden virulente Ressentiments bedient, um dann die Law-and-Order-Lösung zu präsentieren. Und weil es sich unter den Taliban so gut leben lässt, will Faeser auch gleich noch das Abschiebeverbot nach Afghanistan aufheben.

Da schwadroniert Thorsten Frei, parlamentarischer Geschäftsführer der Union, von „Asylmissbrauch“ und fordert, das Individualrecht auf Asyl in der Europäischen Union ganz abzuschaffen. Stattdessen plädiert er für eine Kontingentlösung. Interessant. Wollen wir dann nicht auch für andere Grundrechte eine mengenmäßige Quote einführen? Applaus für Frei kommt vom Parteivorsitzenden Friedrich Merz; der freut sich offenbar, dass sein Kollege das Gedankengut der Rechtsextremisten bereits so wunderbar inhaliert hat. „Manche mögen’s rechts“, spottet die Satiresendung Extra3 über das Fischen der Union im trübbraunen Teich. Jan Böhmermanns Urteil über die CDU fällt eindeutig härter aus: „Nazis mit Substanz.“

Da palavert Thüringens FDP-Vorsitzender Thomas Kemmerich über Flüchtlinge aus der Ukraine und ärgert sich, dass die noch im Land sind. Schließlich kämen ja nicht alle aus Kriegsgebieten, deshalb solle man sie doch abschieben. Das sagt derselbe Kemmerich, der kein Problem damit hat, sich mit Reichsbürgern und AfD-Spitzenpersonal sehen zu lassen. Und der parlamentarische Mehrheiten im Thüringer Landtag, die mit Obernazi-Höckes Gnaden zustande kommen, völlig okay findet.

Die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2022 belegt, dass über zwei Millionen Deutsche ein geschlossen rechtsextremes Weltbild haben. Dazu gehören Fremdenhass, Antisemitismus, Chauvinismus und Sozialdarwinismus, es geht gegen Migranten und Migrantinnen, Muslime und Musliminnen und andere marginalisierte Gruppen – aber auch Frauen. Wie sagte es doch Maximilian Krah, AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl: „Echte Männer sind rechts.“ Und frauenfeindlich.

Dabei stellt die Leipziger Studie fest, dass die manifeste Zustimmung zu rechtsextremen Aussagen zwar seit zwei Jahren abnimmt, die latente Zustimmung hingegen wächst, vor allem im Blick auf Ausländerfeindlichkeit. Es sind diese, in ihrer Einstellung noch nicht gefestigten Bevölkerungsgruppen, bei denen die AfD ihr Mobilisierungspotenzial sieht.

Und demokratische Politiker und Politikerinnen haben offenbar nichts Besseres zu tun, als die grassierende, feindliche Gesinnung im Land durch ihr gewissenloses Gerede zu bestärken – auf dass aus verkappten Rechtsextremen entschlossene Überzeugungstäter werden. Das ist zum Fürchten".

21.08.2023 13:32
Diskriminierung stoppen - AGG verbessern - Antidiskriminierung fördern
Anlässlich des Jahrestags des Inkrafttretens des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) kritisierten die Vertreter*innen des Bündnisses AGG Reform – Jetzt! die Untätigkeit der Ampelkoalition bei der Verbesserung des Diskriminierungsschutzes. Deutschland hat eines der schwächsten Antidiskriminierungsgesetze in Europa und trotzdem bleibt der von der Ampel im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellte Fortschritt bei der Reform des AGG aus. Dieser Zustand ist insbesondere angesichts des stetig wachsenden Zuspruchs fu¨r rechtsextreme Parteien und ihre Bewegungen fu¨r Betroffene und ihre Vertreter*innen nicht hinnehmbar.

Diskriminierung ist antidemokratisch und gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deutschland ist Schlusslicht, wenn es um die Gewinnung von Fachkräften geht. Als Wirtschaftsstandort sollte das Land alles im globalen Wettbewerb um Fachkräfte dafu¨r tun, um diese fu¨r den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen und auch zu halten. Auf der Pressekonferenz hat das Bu¨ndnis AGG Reform – Jetzt! mit verschiedenen Betroffenenperspektiven auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und seine Schutzlu¨cken geblickt und verdeutlicht, welche beachtlichen Auswirkungen der Mangel an Diskriminierungsschutz fu¨r das Leben von Betroffenen hat.

Der ehemalige kommissarische Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Bernhard Franke, der sich jetzt ehrenamtlich in dem Bu¨ndnis engagiert, erklärt, dass es bei der Reform auch um die Stärkung von Grundrechten Betroffener durch einen besseren Rechtsschutz und kollektive Klagemöglichkeiten geht. Diskriminierung sollte abschreckend sanktioniert werden und Betroffene nicht Entschädigungssummen tolerieren mu¨ssen, “die sich quasi aus der Portokasse begleichen lassen.”, sagt Bernhard Franke.


Oriel Klatt von der Gesellschaft gegen Gewichtsdiskriminierung (GgG) stellt fest, dass dicken Amtsanwärter*innen häufig eine Verbeamtung versagt wird und somit “Gleicher Lohn fu¨r gleiche Arbeit” fu¨r sie nicht gilt. Daher fordert das Bu¨ndnis AGG Reform – Jetzt! die Erweiterung des Diskriminierungsmerkmalskatalogs im AGG unter anderem um die Kategorie “Körpergewicht”, denn “in Diskriminierungsfällen, bei denen kein Bezug zu den im AGG genannten Kategorien hergestellt werden kann, ist das AGG nutzlos und die Betroffenen damit schutzlos”, sagt Oriel Klatt (GgG).

Prof. Dr. Sigrid Arnade vom Deutschen Behindertenrat (DBR) betont, dass es unbedingt eine Verpflichtung fu¨r angemessene Vorkehrungen im AGG und somit auf dem Arbeitsmarkt, im Dienstleistungsbereich und dem Waren- und Gu¨terverkehr braucht. “Als Rollstuhlfahrerin habe ich keine freie Arztwahl, wie sie in § 76 SGB V eigentlich jeder Bu¨rgerin garantiert wird. Ärzt*innen sind nicht grundsätzlich zur Barrierefreiheit verpflichtet. Um diese Diskriminierungen zu beenden, muss das AGG ergänzt werden”, sagt Prof. Dr. Sigrid Arnade (DBR).

Karen Taylor von der Bundeskonferenz der Migrant*innenorganisationen (BKMO) macht darauf aufmerksam, dass zu viele Menschen aufgrund von Diskriminierung und Rassismus schlechtere Lebenschancen haben. Damit das Chancenland Deutschland fu¨r alle Realität wird, fordert Karen Taylor die FDP und insbesondere Justizminister Buschmann auf, die Blockadehaltung aufzugeben und endlich das AGG als wichtigen Baustein im Kampf gegen Rassismus zu gestalten.

Pia Sombetzki von AlgorithmWatch betont, dass algorithmenbasierte Diskriminierung jede*n betreffen kann und es aktuell keinen Schutz davor gibt. “Wenn das AGG so bleibt, wie es jetzt ist, blicken Betroffene von Diskriminierung in eine du¨stere Zukunft – denn es wird unter den gegebenen Umständen so gut wie unmöglich sein, gegen Diskriminierung dieser Art vorzugehen”, sagt Pia Sombetzki (Algorithm Watch).

Besonders häufig und existenziell bedrohlich ist Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Alexander Thom von der Fachstelle Fair mieten – Fair wohnen in Berlin macht darauf aufmerksam, dass Wohnraum essentiell fu¨r die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen ist. Dabei sei es aber vor allem wichtig , dass neben den Maßnahmen gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt im AGG auch die Rechtsdurchsetzungmöglichkeiten von Betroffenen gestärkt
werden mu¨ssen. U.a. durch Beweislasterleichterung und Auskunftsrechte, da Diskriminierung nicht leicht nachzuweisen ist. “Unsere Ratsuchenden können bei der Bewerbung auf eine Wohnung gar keine Einsicht in die internen Abläufe der Unternehmen gewinnen, um die Diskriminierungen widerspruchsfrei zu beweisen. Ohne Beweislasterleichterung wäre der Gang vors Gericht in diesen Fällen aussichtslos und der Schutz vor Diskriminierung damit nur theoretisch”, sagt Alexander Thom (Fair mieten-Fair wohnen).

Larissa Hassoun vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) weist Deutschland auf seine internationalen Verpflichtungen zum Schutz vor sexueller Belästigung auf dem Arbeitsmarkt hin. Hassoun betont auch, dass es fu¨r den Diskriminierungsschutz von allen Beschäftigten, funktionierende Beschwerdestellen in Betrieben braucht. “Fakt ist: 17 Jahre nach Einfu¨hrung des AGG tun viele Arbeitgeber*innen noch zu wenig, um Diskriminierungsschutz im Unternehmen umzusetzen. Es braucht eine klare Botschaft an Arbeitgeber*innen: Die Erfu¨llung ihrer Schutzpflichten ist keine freiwillige Leistung”, sagt Larissa Hassoun von bff. Es fehle außerdem, so Hassoun, “im AGG der Schutz vor sexueller Belästigung in allen anderen Lebensbereichen, denn sexuelle Belästigung geschieht nicht nur am Arbeitsplatz sondern auch beim Einkauf, bei Behördenterminen oder beim Arzt – auch hier mu¨ssen Betroffene sich rechtlich wehren können.”

Eva Andrades vom Antidiskriminierungsverband Deutschland (advd) stellt außerdem fest, dass Antidiskriminierung nachweislich auch die Wirtschaft und Unternehmen stärkt, da Arbeitskräfte besser eingesetzt werden und es weniger personelle Fluktuation gibt. Eine starke Antidiskriminierungspolitik in Unternehmen erzeuge motiviertere Mitarbeiter*innen, da Karriereoptionen besser gestaltet werden und ein höheres Gerechtigkeitsempfinden im Unternehmen herrscht. Außerdem betont Eva Andrades im abschließenden Resu¨mée, dass Antidiskriminierung kein Nischenthema ist und die Verbände im Bu¨ndnis Millionen von Menschen vertreten. Ein effektives AGG wu¨rde, laut Eva Andrades, mehr Partizipation und Fairness in der Gesellschaft ermöglichen und mit der Stärkung der Grundrechte einhergehen. Das Bekenntnis zu einem umfassenden Diskriminierungsschutz sei aber auch ein gesellschaftliches Signal, das internationale Resonanz erzeugt. Es vermittelt die Zuversicht, dass wir uns den Barrieren und Ungleichbehandlungen in unserem Land bewusst sind und durch umfassenden effektiven Rechtsschutz und politische Maßnahmen konsequent dagegen angehen werden.

"Antidiskriminierung praktizieren"

16.08.2023 07:49
Beschwerden gegen Amazon, Ikea und die Autobauer VW, BMW und Mercedes-Benz
Gegen Amazon, Ikea und die Autobauer VW, BMW und Mercedes-Benz laufen Beschwerden von Menschenrechtsorganisationen.

Seit Anfang des Jahres verpflichtet das Lieferkettengesetz größere Unternehmen dazu, entlang ihrer Lieferketten auf die Einhaltung von Menschenrechten zu achten. Mittlerweile sind beim dafür zuständigen Bundesamt für Ausfuhrkontrolle (Bafa) 14 Beschwerden eingegangen, wie ein Sprecher der Behörde auf RND-Anfrage mitteilte und die Frankfurter Rundschau berichtet (16.9.23). Jede Beschwerde werde nun gründlich und individuell geprüft.

„Das Lieferkettengesetz war Anfang des Jahres in Kraft getreten. Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten müssen nun dafür Sorge tragen, dass Menschenrechte in ihren Lieferketten eingehalten werden, es also beispielsweise nicht zu Kinderarbeit kommt. Zudem sollen bestimmte Umweltstandards erfüllt werden. Kommen sie dem nicht nach, kann das Bafa auf Nachbesserung pochen. Bei schwerwiegenden Verletzungen drohen Bußgelder von bis zu acht Millionen Euro oder bis zu zwei Prozent des Jahresumsatzes. Ab 2024 soll das Gesetz auf Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten ausgeweitet werden.

Nach den ersten Monaten fällt die Bilanz gemischt aus. Unter anderem die Berlin ansässige Menschenrechtsorganisation ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) hat gegen mehrere Unternehmen Beschwerde eingereicht. Gemeinsam mit dem Frauenrechtsverein Femnet und einer Gewerkschaft aus Bangladesch hat die NGO dabei Amazon und Ikea Deutschland ins Visier genommen. Der Grund: Fabriken in Bangladesch würden nicht ausreichend kontrolliert und gefährdeten somit die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten.

Ikea erklärte auf Anfrage, dass man den Fall sorgfältig untersuche und dabei eng mit dem Bafa in allen Punkten zusammenarbeite. Amazon verwies darauf, dass man sich dem Respekt vor Menschenrechten und Umweltschutz verpflichtet habe – und bei Zulieferern klare Anforderungen bei den Lieferkettenstandards setze.
Vorwurf der Zwangsarbeit

Die Kritik der ECCHR richtet sich aber auch gegen deutsche Autobauer. Die Organisation hat gegen Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz Beschwerde eingelegt, weil sie es „versäumt haben, angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um die erheblichen Risiken der Zwangsarbeit durch die Gruppe der Uiguren in ihrer chinesischen Produktionskette zu erkennen und zu bekämpfen“, erklärte der Sprecher. Die NGO verweist dabei auch auf einen Bericht der Sheffield Hallam Universität, die bei Autobauern ein großes Risiko sieht, dass es entlang der Lieferkette zu Zwangsarbeit gekommen sein könnte. Mercedes-Benz erklärte auf Anfrage, dass eine solche Beschwerde nicht vorliege, verwies aber mit Blick auf den Sheffield-Bericht darauf, dass man mit Lieferanten in Kontakte stehe und in Fällen von Vorwürfen auf eine Klärung dringe. Auch Volkswagen liegt die Beschwerde nicht vor – ein Konzernsprecher erklärte allerdings, dass man jegliche Form von Zwangsarbeit in allen Geschäftsbereichen klar ablehne. Eine Stellungnahme von BMW stand am Mittwoch noch aus. Der Arbeitgeberverband BDA steht dem Lieferkettengesetz derweil weiter skeptisch gegenüber.

Derweil wird bereits eine EU-weite Regelung vorbereitet. Die sogenannte Richtlinie zu „Sorgfaltspflichten von Unternehmen im Hinblick auf Nachhaltigkeit“ gehen deutlich über das deutsche Lieferkettengesetz hinaus. Damit wären bereits Betriebe ab 250 beziehungsweise 500 Beschäftigten in der Pflicht, für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz entlang der Wertschöpfungskette zu sorgen“.

Kommentar von Stefan Winter (S. 9):
„Das Lieferkettengesetz ist nötig, weil Firmen Selbstverpflichtungen selten umgesetzt haben und damit mitverantwortlich sind für katastrophale Zustände - etwa in asiatischen Textilfabriken.

Geht es um das Lieferkettengesetz, bekommen viele in der Wirtschaft Schaum vor dem Mund. Es gilt ihnen als Inbegriff wirkungsloser Bürokratiemonster, als Paradebeispiel für gut gemeint und schlecht gemacht. Man kann der Kritik am Gesetz in vielem folgen. Doch an einem Punkt endet das Verständnis: Es ist keineswegs so, dass deutsche Firmen in aller Welt die zu Hause üblichen Werte hochgehalten hätten. Die katastrophalen Zustände in asiatischen Textilfabriken, die maßgeblich zum Lieferkettengesetz führten, sind nur ein Beispiel von vielen, die den Anspruch widerlegen.

Und auf welchem Stand die Wirtschaft wäre, wenn öffentliche Debatten, neue Gesetze und Haftungsrisiken nicht den Druck erhöht hätten, ist eine andere Frage. Die in solchen Fällen gern als Alternative angebotene freiwillige Selbstverpflichtung hat selten funktioniert.

Der Unmut über Missstände staut sich ebenso lange auf, bis er sich in der Gesetzgebung mit Überdruck entlädt. Es geht eben doch nicht ohne. Die Unternehmen haben vielleicht einfach nur das Gesetz bekommen, das sie selbst provoziert hatten“.

10.08.2023 08:32
48 Prozent der Berufstätigen häufig gestresst - psychische Belastungen nehmen weiter zu
Depression, Angststörungen – Zahl der psychisch Erkrankten steigt deutlich. Die Kaufmännische Krankenkasse schlägt Alarm: Die Zahl der Arbeitnehmer, die vom täglichen Jobstress ernsthaft erkranken, ist sprunghaft gestiegen.

Man mag das Wort fast nicht mehr hören: Krise. Aber Krise ist derzeit überall, neben globalen Krisen gibt es persönliche – viele Menschen sind überlastet, leiden unter – echter oder empfundener – Ungerechtigkeit, die Inflation bedroht die finanzielle Sicherheit, und auch die Erfahrungen der Coronapandemie sind nicht vergessen. Das wirkt sich aus: Die psychische Belastung berufstätiger Menschen in Deutschland ist laut KKH Kaufmännische Krankenkasse im ersten Halbjahr 2023 drastisch gestiegen.

Den Beleg lieferten die Fehlzeiten wegen seelischer Leiden, die auf 303 Ausfalltage pro 100 Versicherte gestiegen seien, teilte die Kasse mit – ein Plus von 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. In der jüngeren Vergangenheit habe es einen solchen Anstieg nie gegeben. Im ersten Halbjahr 2022 waren es 164 Ausfalltage, in den ersten sechs Monaten 2021 noch 137. »Diese Entwicklung ist alarmierend, denn wir haben schon jetzt fast das Niveau des gesamten Jahres 2022 erreicht«, sagte die KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick.

Denn im vergangenen Jahr registrierte die Krankenkasse 339 Fehltage pro 100 Versicherte wegen Depressionen, Anpassungs- oder Angststörungen. 2021 und 2020 waren es 287 und im Vor-Corona-Jahr 2019 rund 274 Tage. Für die Untersuchung wertete die KKH die Zahl der Kalendertage mit ärztlichem Attest von pflichtversicherten und freiwillig versicherten eigenen Mitgliedern aus. Die KKH ist nach eigenen Angaben eine der größten bundesweiten gesetzlichen Krankenkassen mit mehr als 1,6 Millionen Mitgliedern.

Zunehmend langwierige Erkrankungen

»Der besonders starke Zuwachs bei den Fehlzeiten deutet darauf hin, dass es zunehmend schwere, langwierige Fälle von psychischen Erkrankungen gibt«, erklärte Judick. Das bereite Sorgen – auch mit Blick auf die Beschäftigten, die die Arbeitsausfälle abfedern müssten. Auch sie könnten erschöpfungsbedingte psychische Leiden entwickeln.

Eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der Krankenkasse bestätigt: Der Stresslevel der Berufstätigen ist hoch. 90 Prozent von ihnen fühlten sich zumindest gelegentlich gestresst, rund die Hälfte davon häufig oder sehr häufig, ergab die Studie. Dafür waren im Mai bundesweit 1004 Menschen im Alter von 18 bis 70 Jahren befragt worden – darunter 722 Berufstätige.

Knapp 60 Prozent der Berufstätigen sprachen von zunehmendem Stress in den vergangenen ein bis zwei Jahren. Neben Ausbildung und Beruf sowie Krisen wie Klimawandel und Inflation (je 47 Prozent) sind es demnach vor allem hohe Ansprüche an sich selbst (51 Prozent), die die Menschen als stressig empfinden. Auch die ständige Erreichbarkeit via Smartphone (37 Prozent) sowie finanzielle Sorgen (24 Prozent) verursachen Stress. Fast zwei Drittel der Berufstätigen fühlen sich erschöpft und ausgebrannt, jede und jeder sechste Berufstätige leidet unter stressbedingten Angstzuständen.

Andere Studien ergaben ein ähnliches Bild: Laut einer Ende Februar vorgelegten repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos im Auftrag des Versicherungskonzerns Axa bezeichnet sich fast ein Drittel der Befragten als psychisch erkrankt. Rund 32 Prozent erklärten, dass sie unter Depressionen, einer Angst- oder Essstörung, Zwangsneurose oder anderen psychischen Erkrankungen leiden. Insgesamt wurden im vergangenen Herbst 2000 Menschen zwischen 18 und 74 Jahren in Deutschland online befragt.

Laut der KKH-Untersuchung gingen die längsten Fehlzeiten von durchschnittlich 112 beziehungsweise 71 Tagen im ersten Halbjahr auf wiederkehrende Depressionen und depressive Episoden zurück. Am häufigsten hätten die Ärzte aber akute Belastungsreaktionen und Anpassungsstörungen diagnostiziert: Diese verursachten bei einem Anteil von 41 Prozent nicht nur die meisten psychisch bedingten Krankschreibungen, auch die Arbeitsunfähigkeitsquote stieg hier am stärksten – nämlich um 42 Prozent.

Das zeige, dass immer mehr Menschen »unter ungewöhnlichem Druck, großen Belastungen und Dauerstress stehen«, erklärte Judick.

Mit Material aus Spiegel Online, KKH und Forsa

07.08.2023 10:27
Globale Unfairness - heftige Kritik aus dem Süden der Erde
Solange sich ärmere Staaten immer noch wie Bettler fühlen, braucht sich niemand zu wundern, wenn sich der Süden anderswo Bündnispartner sucht als in Europa und den USA. Dazu schreibt Thomas Gebauer in der Frankfurter Rundschau (6.8.23) auf Seite 16:

„Wie der weltweiten sozial-ökologischen Krise begegnen? Was konkret ist zu tun? Fragen, die sich Ende Juni ein „Summit for a New Global Financing Pact“ stellte, zu dem der französische Präsident Emmanuel Macron eingeladen hatte. Gekommen waren zahlreiche Regierungschefs, Vertreter:innen internationaler Organisationen, der Zivilgesellschaft und der Finanzwirtschaft. Zentrales Anliegen des Gipfels war die Verbesserung der globalen Zusammenarbeit, um jene Mittel bereitstellen zu können, die für die Verwirklichung der nachhaltigen Entwicklungsziele, den Klimaschutz und die Armutsbekämpfung dringend benötigt werden.

Für die Bundesregierung betonte Kanzler Olaf Scholz die Bedeutung einer gemeinsamen Verantwortung. Man dürfe die Länder des globalen Südens mit ihren großen Herausforderungen nicht allein lassen.

In seiner Abschlussrede dankte der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa Präsident Macron für die Initiative und würdigte auch die Ideen, die auf den Tisch gekommen waren. Was ihn dennoch zweifeln ließe, seien die negativen Erfahrungen, die man in der Vergangenheit gemacht habe.

„Es gab Zeiten“, so Ramaphosa, „da haben wir uns wie Bettler gefühlt.“ Zuletzt etwa, als es darum ging, die Covid-Pandemie zu bekämpfen. Gerade als der Süden Impfstoffe am nötigsten gebraucht hätte, seien die Märkte von den Ländern des Nordens leer gekauft worden. „Darüber haben wir uns sehr geärgert, aber es kam noch schlimmer, als wir auch in unserem Wunsch gehindert wurden, eigene Impfstoffe herzustellen.“ Höflich vermied es Ramaphosa, die Namen derjenigen zu nennen, die bei den Verhandlungen der Welthandelsorganisation (WTO) dafür gesorgt hatten, dass es keine Freigabe der Patente gab, nicht einmal für die Dauer der Krise. Müßig zu betonen, dass zu den Blockierern zuvorderst die deutsche Bundesregierung zählte.

Ramaphosa endete seine Rede mit der Frage, was denn wichtiger sei: „Das Leben oder die Profite Eurer großen Pharma-Unternehmen? Was unsere Enttäuschung verstärkt hat, war das Gefühl, dass das Leben in der nördlichen Hemisphäre offenbar wichtiger sei als das im globalen Süden. Das sind die Dinge, die angegangen werden müssen.“

Und solange das nicht geschieht, sollte sich niemand wundern, wenn sich der Süden anderswo Bündnispartner sucht als in Europa und den USA“.

Der Autor war viele Jahre Geschäftsführer von medico international

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