Blog nach Monat: Oktober 2022

27.10.2022 07:48
Gerhart Baum ist überzeugt, „die Menschenwürde ist nicht totzukriegen“
Der frühere FDP-Innenminister Gerhart Baum gab Martin Bennningshoff ein Interview über Völkerrechtsverletzungen, Putins Missachtung aller Regeln und den dringenden Reformbedarf der UN.

Herr Baum, Friedenssicherung und Menschenrechte sind Ihr politisches Lebensthema. Was bewirkt der russische Angriff auf die Ukraine bei Ihnen persönlich?

Zunächst ist der russische Angriffskrieg eine Gefahr, die weit über das bisher Bekannte hinausgeht. Die Völkerrechtsordnung ist immer Herausforderungen ausgesetzt gewesen, denken wir nur an die Völkermorde in Ruanda, Kambodscha, und an zahlreiche andere Verletzungen des Völkerrechts. Aber diese mit seiner strikten Absage an Gewalt, mit seiner Verbindung von Friedenssicherung und Schutz der Menschenwürde, blieb trotzdem der Maßstab. Das hat sich verändert: Wladimir Putin hat diese Völkerrechtsordnung ins Wanken gebracht. Er missachtet alle Regeln und bedroht diejenigen, die diese Ordnung verteidigen, mit Atomwaffen. Das ist ein schwerwiegender Tabubruch.

Sie werden in diesem Monat 90 Jahre alt. Sie haben den Zweiten Weltkrieg und Flucht miterlebt, aber auch die Jahrzehnte danach, in denen es um Wiederaufbau und Versöhnung ging. Fühlen Sie sich jetzt, im zehnten Lebensjahrzehnt, zurückgeworfen – auf alte Erfahrungen und in Ihren Bemühungen?

Trotz aller Niederlagen: In meinem Leben habe ich eine grundlegende positive Erfahrung gemacht: Das Thema Menschenrechte ist stärker geworden. Es ist mittlerweile ein Querschnittsthema der internationalen Politik. Ein Beispiel: Die Reise eines demokratischen Politikers nach Katar kann heute nicht mehr ablaufen, ohne dass die Menschenrechte zum Thema gemacht werden. Wir haben im Laufe der Jahrzehnte ein neues Instrumentarium bekommen, um das Recht gegen das Recht des Stärkeren durchzusetzen: eine internationale Gerichtsbarkeit zum Beispiel. Schutzobjekt ist jetzt der einzelne Mensch, und zur Verantwortung gezogen werden nicht nur Staaten, sondern die einzelnen Täter, jetzt zum Beispiel die russischen Militärs, die Kriegsverbrechen in der Ukraine begehen. Das weltweite Bewusstsein, die Menschenrechte zu schützen, das ist gewachsen.

Aber was bedeutet Russlands Krieg für dieses völkerrechtliche „Instrumentarium“, wie Sie sagen?

Naja, Russland ist ein Ständiges Mitglied des Sicherheitsrates und in besonderer Weise der UN-Charta verpflichtet. Und Russland tritt die Völkerrechtsordnung mit Füßen. Die Charta der Vereinten Nationen ist auf Friedenssicherung ausgelegt. Die Gräuel des Zweiten Weltkrieges sollten sich nicht wiederholen. Und diese Ordnung hat Putin praktisch aufgehoben. Das Bedrohliche ist aber auch, dass eine ganze Reihe wichtiger Staaten abseits stehen, das heißt, den Angriffskrieg zwar nicht unterstützen, ihn aber auch nicht verurteilen. Einen solchen Angriff auf die Werteordnung der Völker hat es bisher seit 1945 noch nicht gegeben.

Wie kann der Sicherheitsrat reformiert werden? Man kann doch nicht zulassen, dass Russland die Resolutionen zum eigenen Krieg weiter blockiert?

Der Sicherheitsrat ist ein Produkt der Nachkriegszeit. Wichtige Kontinente wie Afrika oder Südamerika sind überhaupt nicht vertreten im wichtigsten Gremium, dem Sicherheitsrat, Indien auch nicht. Die Zusammensetzung stimmt nicht. Und es ist nicht mehr zu ertragen, dass ein Staat die Verurteilung seiner Aggression durch ein Veto verhindern kann, wie gerade im Falle Russlands erlebt. Oder nehmen Sie den Vernichtungskrieg in Syrien, den Russland zusammen mit dem Assad-Regime dort geführt hat: Mehrfach hat der Sicherheitsrat versucht, Frieden zu stiften – und mehrfach ist das am Veto Russlands und Chinas gescheitert.

Sie haben familiäre Verbindungen zu Russland und der Ukraine, schreiben von einer „emotionalen Bindung“: Ihre Mutter wurde in Moskau geboren, Ihr Großvater stammt aus Charkiw …

… und ich habe eine große Sympathie für viele Menschen, die ich in Russland kennengelernt habe. Ich kenne viele Vertreter der Zivilgesellschaft in Russland und bin ganz anderer Meinung als jene, die behaupten, Russland sei nicht demokratiefähig. Quatsch. Die jungen Menschen, die ich kennengelernt habe, denken genauso wie wir: Sie sind gut ausgebildet, wollen vorankommen, die Welt sehen. Durch die Digitalisierung sind sie, ganz anders als frühere Generationen, durch das Internet auch verbunden mit der Welt. Russland ist anders als Putin-Russland. Die Deutschen haben ja auch unter Beweis gestellt, dass ein anderes Deutschland gab und gibt als das Nazideutschland.

Sie schreiben in Ihrem Buch von einer historischen Konfrontation zwischen demokratischen und autokratischen Staaten. In den neunziger Jahren, nicht nur in den Schriften Francis Fukuyamas, gingen viele davon aus, dass sich die liberale Demokratie mehr oder minder durchsetzt. Was ist davongeblieben?

Es gibt ja Anzeichen, dass die Demokratie weltweit unter Druck gerät und schwächelt, auch im Westen. Denken Sie an die große Demokratie, die USA, die in der Amtszeit Donald Trumps einen enormen Rückschlag in dieser Beziehung erlitten hat. Allerdings hat sie sich wieder von ihm befreit. Aber es gibt keine Blöcke mehr, stattdessen sehen wir das interessante Phänomen, dass große Staaten wie Indien, Südafrika oder Brasilien ihre Rolle suchen. Ich meine, dass die Europäer hier eine Verantwortung haben, Brücken zu bauen. Diese Staaten bestimmt eine gewisse Zurückhaltung gegenüber US-amerikanischer Dominanz. Und wir Europäer könnten die Vermittlung übernehmen. Wir sollten die berechtigten Interessen dieser Staaten aufnehmen und an unsere eigenen Interessen binden. Nicht antiamerikanisch, aber eigenständig. Wir sollten alles tun, um die schwer beschädigte Weltordnung zu reparieren, als Gegengewicht gegen die imperiale Allianz, die Putin zu schmieden versucht. Wir sind inzwischen weltweit so vernetzt, so aufeinander angewiesen, dass wir verlässliche Regeln für ein Zusammenleben auf diesem Planeten mehr brauchen als je zuvor.

Menschenrechtspolitik sei immer Einmischung und müsse das auch sein, schreiben Sie weiter. Das sehen diese Staaten, vor allem China, anders. Was kann Deutschland da tun?

Kluge Politik machen. Menschenrechtspolitik bedeutet ja nicht, die Beziehungen abzubrechen. Russland ist ein Ausnahmefall, Putin ist nicht mehr vertragsfähig. Man denke nur daran, wie er wichtige Repräsentanten der Welt und uns alle vor der Aggression getäuscht und belogen hat, Die Chinesen dagegen sind viel pragmatischer, sie wollen eine regelbasierte Politik. Wie man den Menschen, die in Diktaturen verfolgt werden, helfen kann, ist von Staat zu Staat unterschiedlich – aber alle Mühe wert. Verurteilung alleine reicht nicht, man muss versuchen, die Dinge zu ändern. Das ist schwer genug und oft aussichtslos.

Sie sagen, die Chinesen seien pragmatischer. Putin galt vielen hierzulande lange Zeit auch als vergleichsweise pragmatisch. Wer hätte vor 2014 gedacht, dass er sich ernsthaft auf einen solchen nahezu mythologisch aufgeladenen Krieg einlässt? Kann man sicher sein, dass China in der Taiwan-Frage nicht irgendwann ähnlich agiert?

Die Taiwan-Frage ist ein besonderer Fall, ich weiß nicht, ob die Chinesen das riskieren. Taiwan ist in einer merkwürdigen Situation, von uns ja auch nicht diplomatisch, aber als schutzwürdig anerkannt. Aber insgesamt sind die Chinesen eine Handelsnation. Ihr System beruht auf Wohlstandswachstum. Gefährdet sie diesen Pfad, gefährdet sich die Regierung in Peking selbst. Daraus erwächst ein gewisser Pragmatismus. Russland ist hingegen eine Tankstelle mit Atomwaffen, ein reiner Energie-Exporteur. Ökonomisch verödet Russland, alleine schon durch die Flucht der begabten und gut ausgebildeten Menschen.

Sie selbst waren Staatssekretär im Kabinett von Bundeskanzler Willy Brandt, später Minister in der sozialliberalen Koalition. „Wandel durch Annäherung“ war das Motto der Brandt’schen Ostpolitik, „Wandel durch Handel“ später der deutschen China- und auch Russland-Politik …

Ja, das war zu viel, die ökonomische Abhängigkeit von Russlands Rohstoffen war zu groß. Man wird auch mit Staaten Handel betreiben, die nicht demokratisch geordnet sind. Denken Sie an den Helsinki-Prozess von 1975 in Beziehung zur früheren Sowjetunion. Man vereinbarte zwischen Ost und West Friedenssicherung, Handel und Menschenrechtsschutz. Wir müssen in Kontakt bleiben und Handel betreiben, aber sollten nicht davon ausgehen, dass dieser politische Systeme verändert. Das ist in der Regel nicht der Fall, schon gar nicht in China.

Demokratien sind auch aus dem Inneren heraus gefährdet: In Italien regieren Postfaschisten, Ungarn verabschiedet sich nach und nach vom Rechtsstaat. Man hat den Eindruck, der Demokratie fehle das Verständnis für wirksame Gegenmittel gegen Phänomene wie den Trumpismus in den USA oder den Bolsonarismus in Brasilien. Täuscht das?

Es gibt starke Kräfte, die Protest geltend machen, allerdings oft gemeinsam mit rechtsradikalen und antidemokratischen Strömungen, das stimmt. Aber in Italien würde ich abwarten. Viele Italien-Kenner sagen, das Land bliebe in Europa, das glaube ich auch. Die Suppe wird nicht so heiß gegessen wie sie gekocht wird.

Der frühere Ministerpräsident Romano Prodi hat jüngst im „Spiegel“ auf den Fall Jörg Haider aufmerksam gemacht. Als der Rechtspopulist in Österreich an der Macht beteiligt wurde, hat Europa scharf reagiert. Seiner Ansicht nach wohl zu scharf. Aber man könnte auch sagen: Wehret den Anfängen! Wie sehen Sie das?

Ja, es bleibt eine gar nicht zu verharmlosende Grundströmung, die demokratische Grundregeln und Weltoffenheit infrage stellt. Es gibt eine Tendenz der nationalen Abschottung, auch in Frankreich. Aber es gibt immer auch lokale Ursachen, wie in Schweden. Einige Grundtendenzen in diesen Staaten sind vergleichbar, die wird man kritisch beobachten müssen. Verletzungen demokratischer Spielregeln wie durch Orban und auch in Polen, darf Europa nicht hinnehmen,

Viele Ihrer Wegbegleiter, wie Burkhard Hirsch, sind verstorben. Generell können immer weniger Menschen von ihren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg berichten, immer weniger können auch mahnen. Sind die Jüngeren bereit, die Verantwortung des „Nie wieder“ zu übernehmen?

Die Jahrzehnte seit 1945 sind auch Jahrzehnte des moralischen Wiederaufbaus. Wir haben eine geglückte Demokratie. Und das ermutigt mich, dass dies auch in anderen Ländern möglich ist. Ich sehe mit großem Optimismus in die Zukunft, getragen von der Feststellung: Der Mensch wird frei geboren. Wir alle werden frei geboren. In uns steckt der Wille zur Freiheit, er ist einfach nicht zu unterdrücken, egal wo ich zu Besuch war. Die Menschenwürde ist nicht totzukriegen.

17.11.2022 FR

24.10.2022 14:39
Krasse Unfairness durch Gesamtmetall-Präsident Dr. Stefan Wolf
Der Gesamtmetall-Präsident predigt Verzicht, macht Party und behandelt seine Mitarbeiter rüde

Er ist einer der wichtigsten Arbeitgeber-Vertreter unseres Landes – Recherchen von RTL und stern bringen Stefan Wolf allerdings in Bedrängnis!

Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall soll nicht nur seine private Haushälterin über Jahre schwarz beschäftigt haben – an der Steuer und den Sozialkassen vorbei. Die Mitarbeiterin arbeitete für Stefan Wolf, der auch Vizepräsident des Arbeitgeber-Verbandes ist, in Vollzeit, fünf Tage die Woche. Das bestätigten dem stern und RTL mehrere Personen aus Wolfs direktem Umfeld. Und es gibt noch mehr Vorwürfe.

Stefan Wolf soll in seinem Autozulieferer Unternehmen ElringKlinger auch Lohndumping betrieben haben, dessen Vorstandsvorsitzender er ist. Die Firma selbst schreibt über sich, sie sei "ein weltweit führender Systempartner der Automobilindustrie für Leichtbaulösungen, Elektromobilität, Dichtungs- und Abschirmtechnik, Werkzeugtechnologie sowie Engineering-Dienstleistungen."
Auch in seinem Unternehmen, dem Autozulieferer ElringKlinger, erheben Mitarbeiter schwere Vorwürfe gegen Wolf. Der Konzern habe an seinem Standort Langenzenn bei Nürnberg gering bezahlte Teilzeitkräfte in niedrigere Tariflohngruppen eingestuft, als es den Mitarbeitern zustand – Lohndumping im Unternehmen des Arbeitgeberpräsidenten Wolf. Der Betriebsrat stimmte dem zu, nach eigenen Aussagen in der Hoffnung, damit Jobs zu sichern.

Auch Bruch des Tarifvertrags? Betriebsrat: „Die haben uns über Jahre belogen, betrogen und verarscht.“

Weiterer Vorwurf: Im Jahr 2020 kündigte das Werk in Langenzenn Kurzarbeit an. Laut IG Metall hielt der Konzern dabei die vorgeschriebene dreiwöchige Ankündigungsfrist zur Kurzarbeit nicht ein und informierte die IG Metall nicht – laut der Gewerkschaft ein klarer Bruch des Tarifvertrags. ElringKlinger bestreitet den Vertragsbruch. Inzwischen kündigte ElringKlinger an, die Produktion in Langenzenn zu schließen, obwohl es profitabel ist. Rund 140 Mitarbeiter werden ihre Jobs verlieren. Betriebsrat Markus Pemsel sagt über Wolf und den Vorstand von ElringKlinger: „Die haben uns über Jahre belogen, betrogen und verarscht.“

Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf fordert von Arbeitnehmern Verzicht

Bei den laufenden Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie fordert Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf von den Arbeitnehmern Verzicht, um ihre Jobs zu sichern. Die Beschäftigten sollen auf Lohnerhöhungen, Weihnachtsgeld, Spätzuschläge und auch auf warme Büros und Wohnungen verzichten, damit Arbeitsplätze gesichert werden können. ElringKlinger-Betriebsrat rät den Verhandlern der IG Metall: „Wenn Wolf verspricht, dass er Arbeitsplätze retten will, dann tut euch einen Gefallen: Glaubt ihm kein Wort.“

Über sein Engagement bei ElringKlinger hinaus ist Dr. Wolf Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall. Er sitzt außerdem im Aufsichtsrat der Allgaier Werke GmbH, Uhingen. Obendrein ist der Rechtsanwalt noch Vorsitzender des Aufsichtsrats der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW).

Den Rechercheren von Stern und RTL, die die Erkenntnisse zusammentrugen, ließ Dr. Wolf bezüglich seiner privaten Haushälterin ausrichten über seine Anwältin lediglich ausrichten lassen, Fragen zu seinem Privatleben werde er nicht beantworten.
Er ruft seine Mitarbeitenden zu Verzicht auf, soll sich aber selbst nicht so genau an Regeln halten. Bei seiner Firma fühlt man sich derweil "belogen, betrogen und verarscht".

"Glaubt ihm kein Wort"

Bei den laufenden Tarifverhandlungen in der Metall- und Elektroindustrie fordert Gesamtmetall-Chef Wolf derweil von den Arbeitnehmern Verzicht, um ihre Jobs zu sichern. Die Beschäftigten sollen auf Lohnerhöhungen, Weihnachtsgeld, Spätzuschläge und auch auf warme Büros und Wohnungen verzichten, damit Arbeitsplätze gesichert werden können. Der ElringKlinger-Betriebsrat rät den Verhandlern der IG Metall: "Wenn Wolf verspricht, dass er Arbeitsplätze retten will, dann tut euch einen Gefallen: Glaubt ihm kein Wort."

(mit Material von Stern, RTL und ntv)

12.10.2022 14:21
dm mogelt mit Bewertungen - Sterne sind irreführend
Wie kommen Windeln, Cremes oder Zahnpasta an? Auch bei dm spielen Bewertungen von Kundinnen und Kunden eine wichtige Rolle. Doch ein einfacher Test zeigt: Das System der Drogeriemarktkette ist leicht zu manipulieren. Darüber berichtet Martin Rücker in der Frankfurter Rundschau am 7.10.22 auf S. 12:

"Nur ein Stern oder gleich fünf? Ein kurzer Text, ein paar Angaben zur Person, ein Klick – schon hat der Internetnutzer, nennen wir ihn Sascha, seine Produktbewertung abgeschickt. Für die Drogeriemarktkette dm sind solche Rückmeldungen offenbar ein wichtiges Instrument. Wer eine Bewertung veröffentlicht, darf bei einer folgenden Verlosung auf Einkaufsgutscheine über 100 Euro hoffen. Und auch in der App des Konzerns sind die Rezensionen von Kund:innen eingebunden: Wer damit in einer Filiale den Barcode eines Produkts scannt, sieht, wie zufrieden andere Kunden damit waren.

Doch stammen die Bewertungen überhaupt von „Kunden“ und „Kundinnen“? Schon das ist ungewiss. „Wir überprüfen nicht, ob die Bewertenden die Produkte tatsächlich gekauft und/oder genutzt haben“, schreibt dm dezent über der Gesamtbewertung eines jeden Artikels.

Drogeriemarktkette „dm“: Überprüfungen sind leicht zu umgehen

Sascha hat die Produkte, die er gerade bewertet, jedenfalls nie in den Fingern gehabt. Mit welchen Mechanismen kontrolliert dm, was echt ist und was Fake? Über die Details gibt das Unternehmen keine Auskunft. Auf Anfrage erklärt Geschäftsführer Sebastian Bayer nur: „Wir überprüfen die eingehenden Bewertungen zu Produkten auf unserer Webseite, ob diese verdächtige Merkmale enthalten. Damit diese Prüfungen nicht wissentlich umgangen werden, legen wir die Inhalte dieser Prüfungen allerdings nicht offen.“ Allzu tiefgründig können sie nicht sein – es bedarf jedenfalls keiner besonders ausgefeilten Tricks, um sie zu umgehen. Sascha gelingt es spielerisch, eine Reihe falscher Produktkritiken einzustellen.

Schickt er eine Bewertung ab, erhält er eine Nachricht an die angegebene E-Mail-Adresse. Darin fordert dm ihn auf, seine Bewertung zu „bestätigen“, in dem er auf einen Link klickt – ein gängiges Verfahren, um die E-Mail-Adresse zu validieren. Nur wer tatsächlich Zugriff auf das Postfach hat, erhält auch die Nachricht und kann seine Bewertung bestätigen.

Kundenbewertungen der Drogeriemarktkette „dm“: Technik mangelhaft

Theoretisch jedenfalls. Doch die Praxis bei dm ist eine andere. Sascha beschließt, erst einmal nicht auf die Nachricht von dm zu reagieren. Eine gute Stunde später erhält er dennoch eine weitere E-Mail, mit der ihn dm informiert, dass seine Bewertung nun veröffentlicht sei. Auch ohne Bestätigung. Die Nachrichten suggerieren damit eine Vertrauenswürdigkeit, die die Technik nicht hergibt.

Sascha schreibt eine neue Bewertung, und dieses Mal gibt er keine E-Mail-Adresse an, auf die er Zugriff hat, sondern eine Fantasieadresse mit der Endung eines verbreiteten E-Mail-Anbieters. Die Bestätigungsnachricht von dm landet also entweder im Nirwana oder bei einer fremden Person, der zufällig das ausgedachte Postfach gehört. Und nun? Rund eine halbe Stunde später ist auch diese Bewertung online.

Wie glaubwürdig die eingegebenen E-Mail-Adressen sind, prüft das System offenbar ebenfalls nicht oder nur oberflächlich. Bewertungen, die unter Angabe einer sogenannten „Wegwerf“-E-Mail-Adresse erstellt werden – eines Postfachs also, das sich nach zehn Minuten selbst zerstört –, gehen ebenfalls problemlos auf die Seite.

Fakes erkennen

Bei Online-Bewertungen ist eine gesunde Skepsis angebracht, wie etwa die Verbraucherzentrale Brandenburg und die Bundesregierung raten. Insbesondere in diesen Fällen:

- Es gibt sehr viele Rezensionen, obwohl das Produkt neu auf dem Markt ist.

- Die Kommentare sind lang und gespickt mit positiven Begriffen aus der Werbung.

- Wenn Konkurrenzprodukte aufdringlich empfohlen werden, gilt Vorsicht.

- Nehmen Sie sich Zeit : Schauen Sie auch nach den Bewertungen des begehrten Produkts auf anderen Portalen.

- Holen Sie sich Rat bei unabhängigen Instituten wie Stiftung Warentest.

Für Kund:innen seien Onlinebewertungen die „wichtigste Informationsquelle“ bei Kaufentscheidungen im Internet, vermeldete der Digitalverband Bitkom vor zwei Jahren auf Basis einer repräsentativen Umfrage. Mehr als jeder Zweite las sie demnach vor dem Onlinekauf. Je jünger, desto häufiger – bei den unter 30-Jährigen waren es sogar zwei Drittel. Und auch die Anbieter haben ein großes Interesse an der Meinung der Massen: Studien zeigen, dass Kundenbewertungen den Verkauf ankurbeln können.

Die Bedeutung dieses Instruments dürfte also eher noch zunehmen. Ein Trend, den Verbraucherschützer mit Skepsis beobachten. Auf Onlinebewertungen sei „kein Verlass“, heißt es beim Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) deutlich. Anfang des Jahres legte der eine Analyse von 141 Kundenbeschwerden im Zusammenhang mit Onlinebewertungen vor. Was dabei auffiel: Webshops lockten mit Gutscheinen für gute Bewertungen, sie löschten negative Rezensionen schneller als positive und in einzelnen Fällen drängten Unternehmen die Kund:innen sogar mit Anwaltsschreiben zur Rücknahme schlechter Kritiken. Sabrina Wagner, Digitalexpertin beim VZBV, warnt daher vor „ernsten Wettbewerbsverzerrungen“.

Irreführende Kundenbewertungen auf Internetseiten

„Besonders kritisch“ sieht sie es, wenn die Abgabe der Bewertung mit einer Gegenleistung verbunden ist. Dann entstehe zwangsläufig der psychologische Effekt „Wer mir etwas Gutes tut, dem will ich auch etwas Gutes tun“, die Bewertungen fielen also besser aus. Für Onlineshops empfiehlt Wagner zudem ein sogenanntes „geschlossenes Bewertungssystem“, in dem nur diejenigen ein Produkt bewerten können, die es zuvor auch dort gekauft haben. Das garantiere zwar keine 100-prozentige Sicherheit, sei aber zumindest „eine wirksame Maßnahme gegen Fake-Bewertungen“.

Dass solche Maßnahmen nötig sind, hängt aus Sicht von Verbraucherschützern auch mit Agenturen zusammen, die spezialisiert als Bewertungsvermittler arbeiten – mal mehr, mal weniger seriös. Produkttester hätten demnach von Fällen berichtet, in denen sie nach eigenen Angaben dazu genötigt wurden, nur positive Rezensionen zu hinterlassen. Teils für Produkte, die sie nie ausprobiert hatten.
„Fake“-Bewertungen sind leicht zu platzieren

Wie häufig solche Fälle sind, wie viele der „Sternchen“ auf beliebten Internetseiten echt sind, dafür fehlen valide Studien. Im vergangenen Jahr taten sich einmal zahlreiche Behörden europaweit zusammen und analysierten Internetseiten auf irreführende Kundenbewertungen hin, von Shops über Buchungsseiten bis zu Preisvergleichen. 223 Seiten testeten sie durch – bei „fast zwei Dritteln“ gab es immerhin „Zweifel an der Zuverlässigkeit der Bewertungen“. Tiefer schürfen konnten sie nicht".

04.10.2022 08:26
Bundesbürger an nachhaltigen Produkten weniger interessiert als andere Nationen
Die Bundesbürger interessieren sich weit weniger für sogenannte „nachhaltige“ Produkte als Konsumenten aus anderen Regionen der Welt. Das ist das Ergebnis einer weltweiten Studie der Beratungsfirma BCG, für die im Juni und Juli rund 19.000 Kunden in acht Ländern befragt wurden, wie der „Spiegel“ berichtet.

Ob bei Unterhaltungselektronik, im Supermarkt oder auch bei Luxusgütern wie Schmuck: Klima- und Sozialstandards scheinen hierzulande beim Einkauf keine entscheidende Bedeutung zu haben. Das jedenfalls gilt im Vergleich zu Käufern aus Frankreich, Italien oder gar China. Lediglich bei der Wahl des Energieversorgers sowie bei Haushaltsprodukten spielen Nachhaltigkeitskriterien überdurchschnittlich oft eine Rolle. Entsprechend ist Deutschland auch bei der sogenannten Adaption Schlusslicht – also etwa bei der Frage, wie sich das eigene Konsumverhalten an strengere Klima- und Umweltziele anpassen lässt.

In jeder abgefragten Produktkategorie liegen die deutschen Konsumenten unter dem Schnitt der acht befragten Länder. Besonders bei der Wahl von Hautpflegeprodukten, Baumaterialien oder dem Auto spielen Ökokriterien eine geringe Rolle. Während Kunden in Italien oder China angeben, sich umfassend darüber zu informieren, wie nachhaltig ihr Neuwagen ist – und dann oft ein elektrisches oder ein Hybridmodell kaufen – gibt mehr als die Hälfte der Bundesbürger an, solche Fahrzeuge seien ihnen zu teuer. Sie setzen stattdessen auf kleinere, konventionelle Verbrenner.

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