Blog nach Monat: November 2023

21.11.2023 12:24
Wenn es um Unfairness und Fairness geht – frühzeitig den Anfängen wehren
Beleidigung, Bedrohung, sogar Schläge: Jeder vierte Beschäftigte erlebt Gewalt am Arbeitsplatz. Hier spricht der Autor und Dozent Holger Pressel darüber, warum Betroffene häufig schweigen und was Chefinnen und Kollegen tun können. Maren Hoffmann von Spiegel-Online interviewt dazu Holger Pressel*, Leiter der Stabsstelle Politik bei der AOK Baden-Württemberg:

SPIEGEL: Kürzlich meldete der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dass 64 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Beleidigungen, Bedrohungen und körperlichen Angriffen im Job berichten. Wie verbreitet ist Gewalt am Arbeitsplatz?

Pressel: Es gibt Daten von der gesetzlichen Unfallversicherung, denen zufolge es jedes Jahr zwischen 10.000 und 20.000 sogenannte Gewaltunfälle gibt, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen führen. Beschäftigte im öffentlichen Dienst sind rund dreimal so oft betroffen wie andere Erwerbstätige.

SPIEGEL: Das ist viel. Was gilt denn alles als Gewalt am Arbeitsplatz?

Pressel: Laut einer Definition der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, ILO, wenn jemand im Kontext seiner Arbeit beleidigt, bedroht oder körperlich angegriffen wird. Insbesondere bei psychischer Gewalt gibt es aber Grauzonen, wie etwa Kränkungen.

SPIEGEL: Die ILO hat im vergangenen Jahr eine Untersuchung veröffentlicht, der zufolge ein Viertel der Beschäftigten weltweit schon selbst Gewalt am Arbeitsplatz erlebt hat. Gibt es besonders gefährdete Gruppen?

Pressel: Ja. Die gesetzliche Unfallversicherung sammelt Daten darüber. Besonders betroffen sind Beschäftigte in Wach- und Sicherheitsdiensten, in Bahnbetrieben sowie im Gesundheits- und Sozialwesen, speziell in Heimen und Psychiatrien. Man kann unterscheiden zwischen betriebsinterner Gewalt und Gewalt von Betriebsfremden – etwa, wenn Kunden sich über lange Wartezeiten oder verweigerte Leistungen ärgern und die Situation eskaliert. Bei betriebsinterner Gewalt sind es in der Regel andere Gründe: Kränkung oder Beleidigung, Neid, Eifersucht und Missgunst sowie Stress.

SPIEGEL: Welche Rolle spielt Hierarchie?

Pressel: Zumindest psychische Gewalt wird eher von oben nach unten ausgeübt – es gibt Studien, die zeigen, dass in über der Hälfte der Mobbingfälle Führungskräfte beteiligt sind. Diese mobben entweder selbst oder dulden, dass gemobbt wird. In diesen Fällen spricht man von Bossing. Und in der Folge kann es dann zu einer Umkehrung der Gewalt kommen: Jemand entscheidet sich dann, es dem oder den anderen heimzuzahlen. Rache ist kein seltenes Motiv bei Gewalt im Betrieb.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?

Pressel: In einer Bank hatte eine Führungskraft ihren Titel als Direktor eines Geschäftsbereichs verloren. Ein herber Statusverlust. Diese Person hat für diesen Titel gekämpft, beim Betriebsrat, bei der Personalabteilung, stieß aber überall auf taube Ohren. Und fasste dann den Plan, sich an seinem Nachfolger zu rächen. Der Ex-Direktor hat dann ein Flugblatt gefälscht, auf dem angeblich die Polizei warnte, sein Nachfolger sei ein wegen Sexualdelikten an Kindern vorbestrafter Täter. Das Flugblatt verteilte er anonym in dessen Nachbarschaft.

SPIEGEL: Und dann?

Pressel: Zunächst flog er nicht auf. Und zeigte auch noch den Betriebsrat wegen angeblicher Unterschlagung an, weil er sich nicht unterstützt gefühlt hatte. Als auch das keinen Erfolg hatte, warf er von einer Brücke aus Steinplatten auf Autos. Dabei wurde er beobachtet – und erst dann kam alles heraus, weil die Polizei bei der Hausdurchsuchung auch das Flugblatt fand. Letztlich war der Ausgangspunkt von allem die Kränkung durch den Verlust des Jobtitels.

SPIEGEL: Kann man aus so extremen Geschehnissen irgendetwas lernen?

Pressel: Durchaus. Auch kleinere Eskalationen funktionieren oft nach ähnlichen Mustern. Das eine ist: Wehret den Anfängen. Das beginnt mit der Frage, wen man überhaupt einstellt. Einiges kann man schon aus dem Arbeitszeugnis lesen. Wenn dasteht, „Herr XY arbeitete lieber für sich allein als im Team“ oder „er legte sehr viel Wert auf die Durchsetzung seiner Meinung“, dann wird klar, dass dieser Herr XY nicht unbedingt der Inbegriff der sozialen Kompetenz und Teamfähigkeit ist.

SPIEGEL: Da sollten also die Alarmglocken schrillen.

Pressel: Unbedingt. Auch Referenzen von früheren Arbeitgebern sind wichtig. Und Leute zeigen im Vorstellungsgespräch oft überraschend offen, wie sie ticken. Wenn man jemanden bittet, den bisher besten und den schlechtesten Vorgesetzten zu beschreiben, und ihm fällt beim besten nichts ein, aber beim schlechtesten kommt eine Schimpftirade – das ist schon ein Warnsignal.

SPIEGEL: Im Vorstellungsgespräch reißen sich doch aber viele noch zusammen. Was ist denn, wenn es später kracht?

Pressel: Im Sinne der Prävention sind Kommunikation und Wertschätzung zentral. Ein wichtiger Punkt ist: Schweigen heißt dulden. Schon wenn sich jemand im Ton vergreift, muss man die Person ansprechen. Manchmal kracht es auch erst bei einer Trennung. Auch dabei ist Wertschätzung der zentrale Punkt. Viele Arbeitgeber legen Wert auf ein gutes Onboarding, aber viel weniger auf das Offboarding. Wenn das schlecht läuft, kann es schnell zu Kränkung und letztlich zu Rachegefühlen führen. Wichtig ist, dass man Warnsignale früh erkennt.
„Es braucht eine Unternehmenskultur, in der sich alle verantwortlich fühlen und füreinander Sorge tragen“

SPIEGEL: Was können denn Warnsignale im Alltag sein?

Pressel: Schon kleine Anzeichen wie etwa Veränderungen im Verhalten. Was ist mit der Kollegin los, die früher immer beim Mittagessen dabei war und jetzt nicht mehr mitkommt und sich völlig zurückzieht?

SPIEGEL: Und wie sollte ich reagieren, wenn mir so etwas auffällt?

Pressel: Sprechen Sie die Person an! Sagen Sie in einer ruhigen Situation, was Ihnen aufgefallen ist. Menschen sind häufig dankbar dafür. Oft öffnen sie sich dann und erzählen, was los ist.

SPIEGEL: Was mache ich, wenn ich als unbeteiligte Person einen Konflikt im Team mitbekomme? Die Sache geht mich ja erst einmal nichts an, wenn sich da zwei Kollegen in die Haare kriegen.

Pressel: Es ist die Frage, ob Sie das wirklich nichts angeht. Sie sind auch Teammitglied. Da gibt es keine unbeteiligten Personen, weil alle ein Interesse daran haben sollten, dass es allen im Unternehmen gut geht. Ich würde es dann schon als meine Aufgabe empfinden, der Führungskraft einen vertraulichen Hinweis zu geben, dass es ein Problem gibt. Die Führungskraft hätte dann zunächst zwei Einzelgespräche zu führen und sich die jeweilige Sicht der Dinge schildern lassen. Auf keinen Fall zielführend ist es, wenn die gekränkte Person selbst nichts artikuliert und die Kollegin oder der Kollege auch nicht. So wird das Problem nicht gelöst, und die negativen Gefühle verhärten sich – mit unabsehbaren Folgen.

SPIEGEL: Wessen Aufgabe ist es, eine Lösung zu suchen? Ist das Chefsache oder kollegiale Verantwortung?

Pressel: Das betrifft alle. Es braucht eine Unternehmenskultur, in der sich alle verantwortlich fühlen und füreinander Sorge tragen. Generell ist in sehr hierarchisch geprägten Unternehmen Gewalt weiterverbreitet als in flachen Hierarchien.

SPIEGEL: Warum?

Pressel: In hierarchischen Unternehmen kann sich eher ein Klima der Angst entwickeln. Oft fällt es deutlich schwerer, Missstände anzusprechen, weil man Sanktionen befürchtet. Die psychologische Sicherheit fehlt.

SPIEGEL: Kommen wir noch einmal auf die ILO-Studie zurück. Nur die Hälfte der Opfer von Gewalt am Arbeitsplatz spricht über das, was ihnen widerfahren ist.

Pressel: Und das ist schon viel. Es gibt eine andere Studie aus dem vergangenen Jahr, da hat die Hochschule Speyer speziell den öffentlichen Dienst untersucht. Es kam heraus: Nur rund ein Drittel der Gewaltvorfälle wurden überhaupt gemeldet.

„Die attackierte Person muss merken, dass sie nicht allein gelassen wird“

SPIEGEL: Warum so wenige?

Pressel: Die Antwort ist ernüchternd: Weil sich die Opfer von Gewalt nichts davon versprechen, den Fall zu melden. Die denken: Es ändert sich ja eh nichts.

SPIEGEL: Das sagt auch der Opferverband Weißer Ring: Betroffene würden viel zu oft von ihren Arbeitgebern und Dienstherren allein gelassen; es gebe kaum Maßnahmen zur Gewaltprävention, aber auch kaum zur Nachsorge.

Pressel: Nachsorge muss vor allem sehr, sehr rasch sein. Ich rede nicht von der medizinischen Versorgung körperlicher Verletzungen, das ist ja ohnehin selbstverständlich. Auch die psychische Betreuung sollte schnell greifen. Der Begriff „Psychologische Erstbetreuung“ ist insofern irritierend, als die Leute, die Unterstützung leisten sollen, gar keine Psychologen sein müssen. Die attackierte Person muss merken, dass sie nicht allein gelassen wird. Dafür braucht man kein Studium. Da reichen Empathie, Kollegialität und Fürsorge. Im weiteren Verlauf müssen dann bei Bedarf natürlich Profis übernehmen, etwa um posttraumatische Belastungsstörungen zu verhindern.

SPIEGEL: Im Zuge der Coronapandemie hat sich die Arbeitswelt grundlegend verändert. Die meisten Unternehmen arbeiten hybrid, es sind nicht mehr alle zugleich im Büro. Werden die Gewaltprobleme größer oder kleiner?

„Wenn jemand sich entschieden hat, sich an seinem Peiniger zu rächen, dann kann man nichts mehr deeskalieren.“

Pressel: Mobiles Arbeiten ist generell eine gute Sache, aber unter Gewaltpräventionsaspekten sehe ich die hybride Arbeitswelt eher kritisch. Warnsignale kommen schwerer an, wenn Leute sich im Extremfall wochenlang gar nicht persönlich sehen.

SPIEGEL: Was können Führungskräfte tun, wenn sie den Eindruck haben, dass sich einzelne Mitarbeitende auffällig verhalten?

Pressel: Aufmerksam sein. Wenn einer sich zwar bei Videomeetings einloggt, aber auf einmal gar nicht mehr aktiv teilnimmt – da würde ich schon eine Veranlassung sehen, ein Vieraugengespräch mit dieser Person zu suchen. Auf keinen Fall aber vor versammelter Mannschaft.

SPIEGEL: Wenn die Stimmung schon am Kochen ist – wie gelingt Deeskalation?

Pressel: Man muss unterscheiden zwischen Deeskalation und Bedrohungsmanagement. Deeskalieren kann man bei sogenannter heißer Gewalt: Da ist die Stimmung akut aufgeheizt, jemand regt sich auf und handelt im Affekt. Solche Leute muss man anders ansprechen als die, die das Stadium der kalten Gewalt erreicht haben: Da passiert Gewalt nicht im Affekt, sondern geplant, vorsätzlich, kaltblütig.

SPIEGEL: Hat man da noch eine Chance auf eine friedliche Konfliktlösung?

Pressel: Wenn jemand sich entschieden hat, sich an seinem Peiniger zu rächen, dann kann man nichts mehr deeskalieren. Solche Gefahren beziehungsweise die Vorboten von Gewalt sollte man möglichst im Vorfeld erkennen. Sollte von einer Person im Betrieb wirklich Gefahr ausgehen, dann müssen auch hier Profis ran. Die Polizei hat eine beeindruckende Quote mit sogenannten Gefährderansprachen: In ungefähr 95 Prozent der Fälle führt allein das Reden mit dem potenziellen Gefährder dazu, dass dieser seine Pläne nicht umsetzt – weil er weiß, dass er auf dem Radar ist.

*Holger Pressel ist promovierter Politik- und Verwaltungswissenschaftler und leitet die Stabsstelle Politik bei der AOK Baden-Württemberg. Nebenberuflich ist er als Dozent tätig und publiziert über das Thema „Arbeitsplatz: Prävention - Deeskalation – Nachsorge“. Zuletzt erschien im Haufe Verlag sein Buch „Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz: Prävention - Deeskalation – Nachsorge“.

Zur Etablierung einer fairen und gewaltpräventiven Unternehmens- und Organisationskultur: Norbert Copray: Fairness – Schlüssel zu Kooperation und Vertrauen“. https://www.fairness-stiftung.de/Buecher-Podcast.htm

14.11.2023 13:48
Unfairness im täglichen Verkehr hat stark zugenommen
Rücksichtslosigkeit, Regelmissachtung und Unfairness im Straßenverkehr hat deutlich zugenommen. Rowdyhaftes Verhalten und aggressive Vorteilsnahme sind weit verbreitet. Das belegt die 2023 durchgeführte Unfallforschung der Versicherer (UDV) mit einer erneuten die Befragungsstudie „Verkehrsklima in Deutschland“. Die Studie wird seit 2010 in regelmäßigen Abständen durchgeführt. Die letzten Vergleichswerte stammen aus dem Vor-Corona-Jahr 2019.

Im Mittelpunkt standen die Veränderungen im Sicherheitsempfinden im Straßenverkehr im Vergleich zu 2019. Des Weiteren wurden verstärkt Radfahrer:innen befragt. Insgesamt nahmen 2.002 Personen ab 18 Jahre an der Online-Befragung teil.

Grundsätzlich fühlen sich Männer (64 Prozent) deutlich sicherer als Frauen (49 Prozent). Nicht überraschend also, dass sich Frauen deutlich häufiger für schärfere Maßnahmen zugunsten der Verkehrssicherheit aussprechen. Beides zeigte sich auch in allen Vorgängerstudien. Bei den Maßnahmen selbst wird eine Null-Promille-Regelung für alle Kraftfahrende mit 68 Prozent am häufigsten gewünscht. Dieser Wert war allerdings 2019 noch um 8 Prozent höher. Nicht verändert hat sich die knappe Befürwortung (53 Prozent) von Tempo 130 auf Autobahnen.

In Bezug auf aggressives und sicherheitskritisches Verhalten haben sich alle Werte gegenüber den Vorgängerstudien verschlechtert. Wie auch schon in den Vorjahren, unterscheiden sich Selbst- und Fremdbild der Befragten. So antworten 96 Prozent aller Autofahrer, dass sie Radfahrer mit ausreichendem Abstand überholen, gleichzeitig aber bei 93 Prozent der anderen Autofahrer wahrnehmen, dass sie Radfahrer zu eng überholen. Die Radfahrer zeigen in Bezug auf ihr Selbstbild ähnliche Tendenzen. Knapp die Hälfte gibt zu, gelegentlich auf den Gehweg auszuweichen, beobachtet dieses Verhalten aber bei 92 Prozent der anderen Radfahrer.

10.11.2023 10:17
Permanent bei der Arbeit überfordert: Wann Sie eine Überlastungsanzeige stellen sollten

Wer sich am Arbeitsplatz ständig überlastet fühlt, sollte eine entsprechende Anzeige beim Arbeitgeber stellen – zur eigenen Absicherung. Die Arbeitsrechtlerin Silke Gottschalk und andere erklären im Gespräch mit Katrin Schreiter beim Redaktionsnetzwerk, was es damit auf sich hat:

„Zunehmender Leistungsdruck, zusätzliche Aufgaben, dünne Personaldecke – es gibt zahlreiche Gründe, warum sich Beschäftigte immer mal wieder überlastet fühlen. Wenn dieses Gefühl jedoch regelmäßig oder permanent auftritt, können Betroffene eine Überlastungsanzeige beziehungsweise Gefährdungsanzeige stellen.

„Das sollten sie sogar, um sich abzusichern“, sagt Rechtsanwältin Silke Gottschalk. „Die Überlastungsanzeige ist ein offizieller Hinweis, den der oder die Beschäftigte an den Arbeitgeber adressiert, weil die Arbeitsanforderungen zu hoch sind und nicht bewältigt werden können.“ Das könne eine konkrete Situation betreffen, aber auch den Job-Alltag.

Rechtlich gesehen, seien die Betroffenen sogar verpflichtet, Sorge für die eigene Sicherheit und Gesundheit zu tragen und den Arbeitgeber unverzüglich über diese Gefährdung zu informieren. „Die Hinweispflicht ergibt sich aus dem Arbeitsschutzgesetz, Paragraf 15 und 16", erklärt Gottschalk.

„Andererseits schützt eine Anzeige vor arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Denn sie dient als Haftungsfreistellung“, erläutert die Juristin weiter. Das heißt: „Der oder die Beschäftigte kann nicht für auftretende Schäden beispielsweise bei Kunden verantwortlich gemacht werden.“ Und: Eine Abmahnung oder die Kündigung wären in diesem Zusammenhang somit unwirksam.

Aktuelle statistische Erhebungen gebe es nicht, aber nach Angaben der Gewerkschaften, gebe es Überlastungsanzeigen zunehmend in Bereichen, in denen Fachkräfte fehlen und der Arbeitgeber bestehende Aufgaben auf das vorhandene Personal verteile, vor allem in Pflegeeinrichtungen, Kliniken oder Kindertagesstätten.

Überlastung schriftlich melden

Wie stellt man die Überlastungsanzeige? „Am besten schriftlich“, rät Gottschalk. Die Anzeige sollte mit Datum und Namen versehen sein. „Außerdem gehört eine genaue Beschreibung der Belastung am Arbeitsplatz und der jeweiligen Risiken dazu.“ Auch sei es wichtig zu schildern, was man selbst bereits unternommen habe, um die Situation zu verbessern. „Am Ende folgt die Aufforderung, unverzügliche Abhilfe zu schaffen.“

Wie muss der Arbeitgeber darauf reagieren? „Er hat gegenüber seiner Beschäftigten eine Fürsorgepflicht, die sich aus den arbeitsvertraglichen Nebenpflichten ergibt“, weiß Gottschalk. „Sie bedeutet vor allem eine Pflicht zur Fürsorge für Leben und Gesundheit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wie sie im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 611a, 241, Absatz 2 und 618 geregelt ist.“

Anzeige ist kein Freibrief

Zudem habe der Arbeitgeber ein Direktionsrecht, „das ihn berechtigt, die Arbeit der Beschäftigten zu bestimmen, aber auch so zu gestalten, dass keine Schäden entstehen“, erklärt die Rechtsanwältin. „Im besten Fall greift er die Überlastungsanzeige auf, geht der Sache auf den Grund und verbessert die Umstände.“

Arbeitssucht: Wann Fleiß und Leistungswille gefährlich werden

Work, work, work – 10 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland neigen dazu, suchthaft zu arbeiten. Zwei Workaholics erklären, wie sie ihre Arbeitssucht erleben – und wie sie es geschafft haben, aus dem Teufelskreis auszubrechen.

Was kann passieren, wenn der Arbeitgeber nicht reagiert? Gottschalk: „Das könnte für ihn weitreichende Folgen haben, bis hin zu Schadensersatzforderungen und Schmerzensgeld.“

Allerdings sei die Überlastungsanzeige kein Freibrief, betont die Arbeitsrechtlerin. Die Anzeige berechtige nicht zu pflichtwidrigem Handeln. „Auch entbindet sie die Beschäftigten nicht von ihren Pflichten zur sorgfältigen Arbeitsleistung.“

Nicht einschüchtern lassen

Beschäftigte riskieren möglicherweise bei der Überlastungsanzeige den Unmut des Arbeitgebers. „Doch wer sich bei seiner Arbeit überlastet fühlt, tut niemandem einen Gefallen, wenn er dies verschweigt“, warnt Tjark Menssen, Sprecher des DGB Rechtsschutz.

Die Anzeige könne Beschäftigte schützen. „Denn passieren Fehler, die unter Umständen auch noch gravierende Schäden zur Folge haben, kann der Beschäftigte die Anzeige anführen, um sich zu entlasten.“

Wichtig in diesem Zusammenhang ist das verankerte Maßregelungsverbot im Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 612a. Menssen: „Letztlich darf der Arbeitgeber einen Beschäftigten nicht benachteiligen, weil dieser in zulässiger Weise seine Rechte ausübt.“

07.11.2023 12:31
Keine faire deutsche Gesellschaft - Der allgegenwärtige Rassismus in Deutschland
Forschende haben 21.000 Menschen zu ihren Rassismus-Erfahrungen in Deutschland befragt. Das Ergebnis offenbart ein massives Gefälle zwischen weißen Menschen und all jenen, die als rassistisch markiert gelten. Spiegel-Online berichtet darüber heute:

„Rassismus ist in Deutschland allgegenwärtig. Viele nicht deutsch gelesene Menschen machen regelmäßig negative Erfahrungen – im Umgang mit Mitmenschen, Behörden, in Praxen oder bei der Polizei. Das ist das Ergebnis einer umfangreichen Untersuchung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim). Am stärksten betroffen sind schwarze Menschen, hier hat der Analyse zufolge mehr als jeder zweite eigene Rassismuserfahrungen in der Öffentlichkeit gemacht.

Demnach berichten vor allem schwarze Männer (54,8 Prozent) häufiger davon, in ihrer Freizeit Diskriminierungserfahrungen zu machen. Muslimische Männer sind mit 41,2 Prozent ebenfalls stark betroffen. Dezim hat für die Untersuchung von Juni bis November 2022 eine repräsentative Befragung mit mehr als 21.000 Personen durchgeführt.

Zentrale Details aus der Rassismus-Studie:

Fast jede fünfte schwarze Frau (19 Prozent) gibt an, immer wieder Bedrohungen oder Belästigungen zu erfahren, bei den schwarzen Männern sind es 18 Prozent. Unter den nicht rassistisch markierten Menschen betrifft dies nur elf Prozent der Frauen und sechs Prozent der Männer.

37 Prozent der schwarzen Männer gaben an, dass ihnen regelmäßig mit Angst begegnet wird. Das ist damit viermal mehr als bei nicht rassistisch markierten Männern (neun Prozent). Bei den schwarzen Frauen berichtete jede Fünfte, dass ihr immer wieder mit Angst begegnet wird – im Vergleich zu etwa jeder 30. nicht rassistisch markierten Frau (vier Prozent).

Muslimische Menschen machen besonders oft Diskriminierungserfahrungen in Ämtern und Behörden sowie mit der Polizei. Mehr als ein Drittel der muslimischen Männer (39 Prozent) berichte von häufigeren Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen bei der Polizei, 51 Prozent würden Ämter und Behörden nennen. Unter den muslimischen Frauen hätten 46 Prozent angegeben, dass sie Diskriminierung in Ämtern und Behörden nicht selten erlebt haben. Im Kontakt mit der Polizei beträgt der entsprechende Anteil 25 Prozent.

Die Diskriminierung von Sinti und Roma ist ebenso aggressiv wie vielfältig

Als rassistisch markiert definieren die Forschenden beispielsweise Personen, die sich als schwarz, muslimisch oder asiatisch identifizieren. Als nicht rassistisch markiert gelten mit Blick auf Deutschland weiße Personen.

Mit speziellem Schwerpunkt haben die Forschenden das Gesundheitswesen untersucht. »Schwarze, muslimische oder asiatische Frauen und Männer geben jeweils mehr als doppelt so häufig wie der Rest der Bevölkerung an, im letzten Jahr medizinische Behandlungen aus Angst vor Schlechterbehandlung verzögert oder vermieden zu haben«, sagte der Direktor des Dezim-Instituts, Frank Kalter. Diskriminierung finde hier an unterschiedlichen Stellen statt. Die Betroffenen erhielten zum Beispiel schlechter Termine und fänden weniger Gehör mit ihren Leiden.

Dem Bericht zufolge machen dort Frauen häufiger negative Erfahrungen als Männer: 39 Prozent der schwarzen Frauen, 35 Prozent der muslimischen Frauen und 29 Prozent der asiatischen Frauen berichten von mindestens gelegentlich ungerechter und schlechterer Behandlung. Und auch 26 Prozent der nicht rassistisch markierten Frauen haben Diskriminierung im Gesundheitswesen erlebt.

Eine Teilnehmerin berichtete, eine Frauenärztin habe ihr einen Gesundheitscheck für sexuell übertragbare Krankheiten verweigern wollen. So was »sei eher unwahrscheinlich bei Frauen aus meiner Kultur«, gibt sie die Begründung wieder. »Bei Frauen aus meiner Kultur?« »Du gehst zum Frauenarzt«, berichtete eine andere Betroffene, »und sie fragen dich: ›Haben Sie schon einen HIV-Test gemacht?‹ Nur weil du schwarz bist, wollen sie dich testen.«

Naika Foroutan, Leiterin von Dezim, beklagte eine ungleiche Verteilung von erlebter Diskriminierung in Deutschland. »Das darf in Demokratien nicht passieren, dass gerade deren Ämter und Institutionen nicht alle Menschen gleichbehandeln«, so Foroutan. Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, nutzte die Studienergebnisse zur Werbung für bessere Antirassismus-Schulungen bei Ärztinnen und Ärzten sowie in Krankenhäusern. »Hautfarbe oder Nachname dürften niemals entscheiden, wer wann den Arzttermin oder den Therapieplatz erhält«, sagte die SPD-Politikerin“.


03.11.2023 08:07
Edeka, Rewe, Aldi und Lidl verstoßen gegen Lieferkettengesetz - Ausbeutung ist Standard
Oxfam hat Beschwerdee gegen Edeka und Rewe wegen Ausbeutung im Kontext mit Bananenankauf und -Handel eingereicht und schreibt dazu:

"Arbeit im giftigen Pestizidnebel, Hungerlöhne, Niederschlagung von Gewerkschaften: Immer wieder haben wir Arbeitsrechtsverletzungen auf Bananen- und Ananas-Plantagen aufgedeckt. Immer wieder haben wir an die Verantwortung der vier großen Supermarktketten appelliert. Doch einige Supermärkte machen weiter wie bisher, vor Ort hat sich kaum etwas geändert. Jetzt reicht‘s: Wir haben Beschwerde nach dem Lieferkettengesetz eingereicht.

Grillen zirpen, die Sonne scheint auf ein Meer aus riesigen grünen Blättern – Bananenstauden, soweit das Auge blickt. Die Arbeiter*innen auf der Plantage packen gerade die empfindlichen Früchte ein, da ertönt plötzlich ein ohrenbetäubendes Dröhnen: Ein Pestizidflugzeug fliegt tief und versprüht seine Wolke aus Gift direkt über den Köpfen der Arbeiter*innen. „Man versteckt sich unter den Blättern, damit die Flüssigkeit einen nicht trifft“, erzählt ein Arbeiter einer Plantage für Aldi-Bananen in Costa Rica. Ein- bis zweimal pro Woche kommt das Flugzeug – wann genau, weiß niemand. „Sie holen die Arbeiter*innen nicht aus der Plantage, wenn gesprüht wird. Sie sagen den Arbeiter*innen auch nicht Bescheid.“

Die Flüssigkeit ist sehr intensiv, nicht mal Masken bekommen wir, um dem starken Geruch nach Gift zu entgehen.
Giftdusche aus dem Flugzeug

Auf einer Plantage für Rewe-Bananen in Ecuador läuft es ähnlich: „Heute gab es eine Luftbesprühung per Flugzeug, wir waren alle noch bei der Arbeit“, erzählt ein Arbeiter. „Niemand ist vom Feld heruntergegangen, niemand hat uns Bescheid gesagt. Die Flüssigkeit ist sehr intensiv, nicht mal Masken bekommen wir, um dem starken Geruch nach Gift zu entgehen.“

Auch auf Plantagen, die Edeka beliefern, berichten Arbeiter*innen: „Manchmal haben sie auch nachmittags um vier Uhr gesprüht. […] Die Arbeiter*innen, die geerntet haben, waren da noch in der Plantage.“

Warum stellen die Plantagen keine geeignete Schutzkleidung zur Verfügung?

Mitverantwortlich für die schlechten Arbeitsbedingungen ist auch der Preisdruck der deutschen Supermärkte: Damit die Marge stimmt, muss das Obst möglichst billig im Einkauf sein. Dieser Preisdruck wird entlang der Lieferkette weitergereicht – bis zu den Arbeiter*innen auf dem Feld.

Alles wird teurer, selbst Reis, Bohnen, Salz, Speiseöl, aber was am wenigsten steigt, ist der Lohn.

Das zeigt sich auch bei den Löhnen: Der Mindestlohn für Landarbeiter*innen in Costa Rica liegt bei 11.738,83 Colones pro Tag, das entspricht rund 20 Euro. Doch viele Arbeiter*innen auf den Plantagen berichten, dass sie deutlich weniger bekommen – z.B. zwischen 5.000 und 10.000 Colones pro Tag, also zwischen rund 10 und 18 Euro, laut einem Arbeiter, der Aldi-Bananen anbaut.

„Wenn wir den Lohn den Lebenshaltungskosten gegenüberstellen, sehen wir, dass der Lohn nicht ausreicht“, erklärt auch ein Arbeiter auf einer Bananen-Plantage in Costa Rica, die für Lidl produziert. „Alles wird teurer, selbst Reis, Bohnen, Salz, Speiseöl, aber was am wenigsten steigt, ist der Lohn. […] Das trifft uns sehr.“

Auftrags-Ausbeuter

Besonders hart trifft es Migrant*innen aus Nicaragua, die häufig über „Contratistas“ angestellt sind. Contratistas lassen sich am besten als Auftrags-Ausbeuter beschreiben:

„Ich war wie versklavt“, erzählt Walter Montoya, der für einen Contratista auf einer Plantage gearbeitet hat, die an Lidl liefert. „Und nicht nur ich, es gab eine Unzahl von Personen, die versklavt waren. Sie wurden zum Arbeiten geschickt und sie bekamen vielleicht 3000 oder 2500 Colones [rund 9 Euro pro Tag] bezahlt; Personen, denen die Krankenversicherungsbeiträge gestohlen wurden. All das wissen sie [die Firma].”

Auch in Ecuador werden die Löhne gedrückt: „Sie zahlen uns nicht für Vollzeit, lassen uns aber Vollzeit arbeiten“, erklärt eine Arbeiterin auf einer Bananen-Plantage, die für Rewe produziert. „Sie lassen uns um 6 [Uhr morgens] anfangen und wir arbeiten bis 6 Uhr abends. Diese Überstunden werden uns nicht bezahlt. […] Auf der Lohnabrechnung steht eine Summe Geld, aber auf dem Konto steht eine andere. Sie zahlen uns nicht, was wir vermeintlich verdienen.“

Frauen und Ältere diskriminiert

Wer jahrzehntelange gesundheitsgefährdende Arbeit überstanden hat, kann sich immerhin auf eine bescheidene Rente freuen – in Ecuador z.B. schreibt das Gesetz nach 25 Jahren im Betrieb eine Betriebsrente vor. Was tut also der sparsame Plantagenbesitzer? „Ich wurde entlassen, ungefähr einen Monat bevor ich die Betriebszugehörigkeitsjahre erreicht hatte, ab denen mir eine Rente zugestanden hätte“, erzählt ein ehemaliger Arbeiter eines Edeka-Zulieferers in Ecuador. „Das betrifft nicht nur mich, wir sind eine Gruppe von ungefähr 300 Arbeiter*innen, die in dieser Art entlassen wurden.“

„Die älteren Kolleg*innen werden noch mehr ausgebeutet“, erklärt ein Arbeiter auf einer Plantage für Rewe-Bananen. „Sie lassen sie schwerere Arbeiten machen, damit sie von allein gehen und ihre Kündigung unterschreiben.“

Von Diskriminierung berichten auch Frauen auf der Plantage: „Wir werden mehr ausgebeutet [als die Männer]. Sie marginalisieren uns, behandeln uns schlecht, beschimpfen uns, die Chefs, Ingenieure, Vorarbeiter.“ Auch bei den Löhnen berichten Frauen von Benachteiligung: „Die Männer verdienen mehr und wir verdienen weniger. Den Männern zahlen sie etwa 13 US-Dollar [rund 12 Euro] pro 1000 Kisten, uns nur 10,24 US-Dollar [rund 10 Euro].“

Mutige Gewerkschaften

Viele Arbeiter*innen wollen sich gegen die Missstände wehren und organisieren sich gewerkschaftlich. Doch dafür braucht es Mut, denn wer gegen das Unternehmen aussagt, riskiert viel:

„Ich habe viele Kolleg*innen, die entlassen wurden, nur weil sie mit mir einen Kaffee oder ein Getränk getrunken haben“, berichtet der Gewerkschafter Cristino Hernández von einer Plantage eines Aldi-Lieferanten. „Sie bekommen keine Arbeit mehr, weil Gewerkschaften nicht geachtet werden.“

Der Gewerkschafter Cristino Hernández bekommt wegen seines aktiven Engagements keinen Job mehr.

Auch Cristino Hernández selbst hat es inzwischen getroffen: Ein Teil der Farm wurde unter fadenscheinigen Gründen im August 2023 verkauft und dabei alle Arbeiter*innen entlassen. Ein Großteil der Beschäftigten wurde nach dem Verkauf wieder eingestellt – Gewerkschaftsmitglieder bekamen aber keinen Job.

„Es nennt sich ‚die schwarze Liste‘“, erklärt ein*e ehemalige*r Arbeiter*in einer Zulieferer-Plantage von Edeka. „Wenn mein Name auf der Liste ist, wird diese Liste an alle Unternehmen weitergereicht. Wenn das passiert, findest du keine Arbeit mehr in keinem Unternehmen. […] Das ist vielen Kolleg*innen passiert.“

Auch Familienangehörige von Gewerkschaftsmitgliedern sind von den Verstößen gegen die Vereinigungsfreiheit betroffen, berichtet ein Arbeiter eines Lidl-Lieferanten: „Wenn Familienmitglieder von mir auf der Plantage arbeiten wollen, werden sie abgelehnt. Dann wird einem gesagt: ‚Wenn Sie wollen, dass Ihr Bruder, Ihr Vater oder Ihr Neffe hier arbeitet, müssen Sie aus der Gewerkschaft austreten.‘“

Trotz dieser widrigen Bedingungen kämpfen Gewerkschaften in Ecuador und Costa Rica weiter für die Rechte der Arbeiter*innen. Das führt inzwischen sogar dazu, dass sie Morddrohungen erhalten.

Die Gewerkschafterin Diana Montoya leitet eine Infoveranstaltung für Arbeiter*innen über die Arbeit von ASTAC und die Rechte der Arbeiter*innen. Diese Art von Austausch ist offensichtlich nicht gern gesehen, denn Diana erhielt bereits Morddrohungen aufgrund ihres Engagements.

Was Supermärkte bisher tun: Siegel, Zertifizierungen und Audits

Einmal im Jahr fährt ein Auto vor, jemand in Hemd und Krawatte steigt aus und macht fleißig Häkchen auf einem Formular. Dafür gibt es dann einen grünen Frosch oder ein anderes hübsches Siegel auf dem Produkt. Für die Supermärkte ist es bequem, sich auf solche Zertifizierungen und Audits zu verlassen. Doch die bringen nichts, um die Situation auf den Plantagen zu verbessern.

Denn für die Zertifizierungsfirmen ist der Kunde König – und der Kunde ist das Unternehmen, das die Zertifizierung bezahlt. Plantagen-Arbeiter*innen eines Lidl-Zulieferers in Costa Rica sprechen Klartext: „Zertifizierungsfirmen wie Rainforest [Alliance] kommen hierher und nehmen lediglich Lügen und Falschheiten mit. Sie zertifizieren das Unternehmen und sagen, dass es die Anforderungen erfüllt, und das ist falsch. Eine Lüge. Das Unternehmen umgeht alle Hindernisse, aber hält die Regeln, die die Abnehmer stellen, nicht ein.“

Wer also wissen will, was tatsächlich auf den Plantagen passiert, muss den Arbeiter*innen und Gewerkschaften zuhören.

„Wir haben die Vorgesetzten darum gebeten, dass sie uns mit zu den Audits nehmen“, erzählt ein Arbeiter auf einer Plantage in Costa Rica, die Aldi beliefert. „Aber sie bringen nur ihre eigenen Leute. Sie lassen sie in der Nähe arbeiten, wo [die/der Auditor*in] vorbeikommt und sagen ihnen: ‚Das wird passieren und das hier sagt ihr und nicht mehr.’“

Arbeiter*innen auf einer Plantage für Rewe-Bananen in Ecuador erhielten am Tag vor dem Audit folgende Sprachnachricht: „Morgen haben wir voraussichtlich Besuch von einer Person von ‚Rainforest‘. […] Nur Glyphosat darf verwendet werden. Nicht verwendet werden dürfen Ammonium-Glufosinat und Paraquat. Das heißt, auf den Plantagen darf es keine Behälter dieser zwei Produkte geben. Nur Glyphosat, nur dieses wird berichtet.” Daraufhin mussten Arbeiter*innen die Pestizidbehälter verstecken oder entsorgen.

Welche Supermärkte Verantwortung übernehmen – und welche nicht

Wir sind mit allen großen Supermarktketten seit Längerem im Austausch und bieten ihnen an, den Kontakt zu Gewerkschaften und Arbeiter*innen vor Ort zu vermitteln. Denn zu ihrer Sorgfaltspflicht nach dem Lieferkettengesetz gehört, dass sie dafür sorgen, dass die oben beschriebenen Menschenrechtsverletzungen nicht mehr passieren. Dazu müssen sie sich mit den Betroffenen austauschen. Und sie haben die Macht, etwas zu verändern, denn die vier großen Supermarktketten beherrschen 85 % des deutschen Lebensmittel-Einzelhandels.

Auf Bananenplantagen aller vier großen Supermärkte – Aldi, Edeka, Lidl und Rewe – haben Gewerkschaften vor Ort Menschenrechtsverletzungen festgestellt und sich darüber bei den Supermärkten beschwert. Wie sollte ein Supermarkt auf solche Beschwerden reagieren? Der erste Schritt ist eigentlich ganz einfach: Mit den Beschwerdeführerinnen in den Austausch zu gehen.

Aldi und Lidl haben das getan: Sie haben sich den Vorwürfen gestellt und verhandeln inzwischen mit Gewerkschaften und Zulieferern. Anders Edeka und Rewe: Sie wollen lieber weiter Augen und Ohren verschließen und an die Magie der Audits und hübschen Siegel glauben. Der Rewe-Zulieferbetrieb Otisgraf war bis zuletzt von Rainforest Alliance zertifiziert. Erst auf die Beschwerde der Gewerkschaft ASTAC hin hat der Betrieb die Zertifizierung verloren. Nun hat Otisgraf einige Monate Zeit, um die Lage zu verbessern und das Siegel wieder zu erhalten. Doch bei der Erstellung des Maßnahmenplans wurden die Beschäftigten und ASTAC wieder nicht einbezogen. Nach einem ersten Gespräch zusammen mit Rewe und ASTAC über die Situation Anfang August gab es keine weiteren Gespräche zwischen dem Unternehmen und der Gewerkschaft. Edeka will die Missstände nicht einmal anerkennen – bei eigenen Untersuchungen der Vorwürfe wurden die Gewerkschaft und die betroffenen Arbeiter*innen nicht einmal einbezogen.

Deshalb haben wir nun gegen Edeka und Rewe Beschwerden nach dem Lieferkettengesetz bei der zuständigen Behörde eingelegt: dem Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA).

Wie geht es jetzt weiter?

Das BAFA als Kontrollbehörde muss jetzt unseren Hinweisen auf Verstöße gegen das Lieferkettengesetz nachgehen. Es darf nicht folgenlos bleiben, wenn einzelne Unternehmen wie Rewe und Edeka gegen das Gesetz verstoßen, während andere ihre gesetzlichen Pflichten ernst nehmen. Wir erwarten, dass das BAFA den Unternehmen konkrete Anweisungen geben wird und klar formuliert, welche Anforderungen es an Prävention und Abhilfe bei Menschenrechtsverletzungen gibt. Wenn Unternehmen ihre Pflichten nicht erfüllen, kann das BAFA Bußgelder verhängen: bis zu 2 % des Jahresumsatzes.

Wir bleiben dran

Oxfam wird die behördliche Durchsetzung des Lieferkettengesetzes durch das BAFA anhand der eingereichten Beschwerden gegen Edeka und Rewe in den kommenden Monaten verfolgen. Genauso werden wir beobachten, ob Aldi und Lidl tatsächlich angemessene Maßnahmen ergreifen, um in Zusammenarbeit mit den lokalen Gewerkschaften bestehende Probleme strukturell zu beheben"

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