Blog nach Monat: Januar 2021

27.01.2021 08:55
Die Pandemie verschärft die soziale und ökonomische Ungleichheit
Die Pandemie erweitert die Kluft zwischen Arm und Reich spürbar, so eine Studie der NGO Oxfam. Milliardäre stehen vielfach besser da als vorher. Thomas Magenheim-Hörmann fasste den Bericht von Oxfam für die Frankfurter Rundschau (25.1.21) wie folgt zusammen:

>>Die Corona-Pandemie verschärft die soziale Ungleichheit weltweit. Das ist das Ergebnis eines Berichts der Nothilfeorganisation Oxfam zur aktuellen Verteilung des Reichtums, den diese jedes Jahr um diese Zeit veröffentlicht. Die neue Version trägt den vielsagenden Titel „The Inequality Virus“, was übersetzt so viel heißt wie „das Ungleichheitsvirus“. Der Report gipfelt in der Aussage, dass die Superreichen dieser Erde ihre monetären Corona-Verluste an den Börsen mittlerweile mindestens wieder aufgeholt oder sogar weit überkompensiert haben. Ganz anders sehe es dagegen bei den Ärmeren aus. Es könne ein Jahrzehnt oder länger dauern, bis sie die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie überwunden hätten – falls sie dann noch lebten. Denn das Virus tötet vor allem Einkommensschwache.

So ist die Todesrate von Coronakranken laut Studie in einkommensschwachen Gegenden Großbritanniens doppelt so hoch wie in wohlhabenden. Wirtschaftlich drohe derzeit eine Verschärfung des Ungleichgewichts in fast allen Ländern der Erde gleichzeitig, was es seit über einem Jahrhundert nicht gegeben habe, heißt es in der Untersuchung.

Für den Bericht hat Oxfam knapp 300 Ökonominnen und Ökonomen aus 79 Ländern befragen lassen und die in Teilen auf Schätzungen beruhende Milliardärsliste des US-Magazins „Forbes“ sowie eine Hochrechnung der Weltbank ausgewertet.

87 Prozent der befragten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler erwarten demnach in ihren Ländern eine Zunahme der Einkommensungleichheit. Das vorausgesetzt, sage die Weltbank voraus, dass weltweit 2030 mehr Menschen in Armut leben werden als vor Ausbruch der Pandemie.

Für die Reichsten sei die Coronakrise zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht schon vorbei, heißt es im Oxfam-Report. Er bezieht sich dabei auf die zehn reichsten Menschen der Welt, unter ihnen Amazon-Boss Jeff Bezos, Tesla-Gründer Elon Musk oder Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Diese rein männliche Zehnerriege habe ihr addiertes Vermögen von der Zeit vor der Pandemie bis Ende 2020 um gut 400 auf 920 Milliarden Euro gesteigert. Dabei muss man allerdings berücksichtigen, dass eine solche Rechnung vor allem die Entwicklung von Börsenkursen widerspiegelt. So hat der Onlinehändler Amazon wegen des Lockdowns in aller Welt zuletzt Geschäfte gemacht wie nie. In dieser Dimension haben nicht viele Konzerne von der Krise profitiert.

In Deutschland hat sich der Reichtum der Milliardäre ähnlich, wenn auch nicht so extrem entwickelt. Das liegt vor allem daran, dass die Superreichen hierzulande in eher traditionellen Branchen unterwegs sind. Die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre ist binnen Jahresfrist von 114 auf 116 gestiegen, das Gesamtvermögen von knapp 400 auf knapp 500 Milliarden Euro, so Oxfam. Für das durchschnittliche Jahresgehalt eines Dax-Chefs müsste eine durchschnittliche Pflegekraft rund 156 Jahre lang schuften.

Im Kontrast dazu erlebe die Welt nun die schlimmste Jobkrise seit über 90 Jahren mit Hunderten Millionen Menschen, die Arbeit und Einkommen verloren hätten, so Oxfam. Überproportional betroffen seien dabei Frauen, da sie besonders häufig in extrem von der Pandemie betroffenen Bereichen wie der Gastronomie arbeiten. Zudem stellten Frauen weltweit gut zwei Drittel aller Arbeitskräfte im Gesundheits- und Sozialwesen, wo sie oft schlecht bezahlt, auch ein größeres Risiko tragen, am Virus zu erkranken.

„Die tiefe Kluft zwischen Arm und Reich erweist sich als ebenso tödlich wie das Virus“, findet Tobias Hauschild von Oxfam Deutschland. Die Organisation plädiert angesichts dessen für eine Demokratisierung der Wirtschaft und eine Pandemiesteuer für Konzerne, die besonders von der Krise profitiert haben.<<

"Die Dokumentation von Oxfam zur wachsenden Ungleichheit"
Siehe linke Spalte unter Downloads!

15.01.2021 12:44
50 Jahre „Gerechtigkeit als Fairness“ – der Meilenstein des 20. Jahrhunderts für unsere Gegenwart
In der Süddeutschen Zeitung (12.1.21) erinnert Gustav Seibt an die einflussreichste moralphilosophische Schrift des atlantischen Westens im späten 20. Jahrhundert, das vor 50 Jahren erschienen ist. Nun sind „sozialpolitische Kosten-Nutzen-Rechnungen in der Pandemie wieder aktuell: Sterben Alte und Kranke nicht sowieso?“, fragt Seibt. Er nennt John Rawls' Buch „Gerechtigkeit als Fairness“ ein aktuell passendes Werk. Und stellt bei seiner Rezension zugleich die neue zweisprachige Ausgabe von Reclam vor:

Die „Ausstrahlung reicht inzwischen sogar darüber hinaus, denn Rawls hat es später um eine politische Philosophie ergänzt, der es vor allem um das Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und Weltanschauungen in liberalen Gesellschaften geht. Damit ist auch die Frage gestellt, wie auf der Basis von so unterschiedlichen Voraussetzungen gemeinsame Vorstellungen von Gerechtigkeit entwickelt und aufrechterhalten werden können. Dieses Thema wird das 21. Jahrhundert weiter begleiten.

Die "Theorie der Gerechtigkeit" hat einen einfachen und weitreichenden Grundgedanken, den Rawls schon ein Jahrzehnt vor seinem umfangreichen Buch in einem längeren Aufsatz formuliert hat. Er erschien 1958 unter dem Titel "Gerechtigkeit als Fairness" ("Justice as Fairness") in The Philosophical Review. Reclam hatte jetzt die schöne Idee, diesen Urtext in einer zweisprachigen, detailliert kommentierten Ausgabe vorzulegen. Die Übersetzung ist nicht nur sprachlich sehr gelungen, sie stellt auch eine Hilfe beim Verständnis des Originaltextes dar, weil sie durch in Klammern gesetzte Wiederaufnahmen von Begriffen syntaktische Bezüge in Rawls' zuweilen langen, komplex aufgebauten Sätzen verdeutlicht.

Lang sind diese Sätze, weil sie die Argumente schon im Entstehen gegen Einwände absichern oder durch beispielhafte Anwendungen erläutern. Die Prosa von Rawls ist konzentriert und luzide, und das lässt eine Übersetzung besonders schön hervortreten. Dem zu folgen, bereitet großes Vergnügen, auch weil Rawls philosophiegeschichtlich wenig voraussetzt, obwohl er sich doch immer wieder auf ältere Traditionen, etwa das Vertragsdenken oder Kant anspielt. Der neugierige Leser kann sich aber ganz dem Text überlassen.

Gerecht sind nur Ordnungen, denen alle daran Teilnehmenden zustimmen können

Rawls geht es nicht um gerechte Handlungen, um Gerechtigkeit als individuelle Tugend. Er fragt vielmehr nach der Gerechtigkeit gesellschaftlicher, politisch-sozialer Ordnungen. Diese Ordnungen betreffen nicht nur Individuen, sondern auch Verbände, beispielsweise Familien, juristische Personen, Institutionen oder sogar Staaten. Vorausgesetzt ist die Verschiedenheit der Teilhaber an solchen Ordnungen. Gerechtigkeit wird ja überhaupt erst zum Problem, wenn Menschen oder ihre Verbände erst einmal unterschiedlich und ungleich sind. Das Spannungsfeld, in dem Gerechtigkeit hergestellt werden soll, liegt zwischen der Autonomie oder Freiheit solcher Teilnehmer einerseits und dem Nutzen für alle diese Teilnehmer andererseits.

Dabei müssen zwei Hauptfragen beantwortet werden: erstens die nach der sogenannten Verteilungsgerechtigkeit, also der Zuteilung von Gütern, Chancen, Rechten und Pflichten an die Teilhaber einer Gerechtigkeitsordnung; zweitens die nach dem Nutzen für alle Beteiligten.

Mechanische Verteilungsgerechtigkeit ist schwierig in einer Gesellschaft Verschiedener, ihre Folge kann leicht die Beschneidung individueller Bedürfnisse und persönlicher Freiheit sein. Und eine Berechnung des Gesamtnutzens, die Vor- und Nachteile einfach über die Köpfe der Teilnehmer hinweg zusammenaddiert, kann höchst ungerechte Auswirkungen haben. So können ökonomische Überlegungen dahin führen, dass Sklaverei zwar im Einzelnen großes Leid erzeugt, dieses aber in der Summe durch den Nutzen an anderer Stelle übertroffen wird.

Solche utilitaristischen Überlegungen spielen in der aktuellen Pandemie wieder eine gewisse Rolle, wenn vorgerechnet wird, dass der Schutz von Vulnerablen in keinem Verhältnis zu den wirtschaftlichen, aber auch psychologischen Schäden an anderen Stellen der Gesamtgesellschaft durch die Schutzmaßnahmen stünden. Sterben Alte und Kranke nicht immer und sowieso? Warum müssen dafür Jugendliche, Geschäftsleute oder Künstler leiden? Werden unterm Strich nicht sogar mehr Lebensjahre verspielt als gewonnen?

Rawls hält solche Berechnungen für prinzipiell falsch. Gerecht sind für ihn nämlich nur Ordnungen und Einrichtungen, denen alle daran Teilnehmenden zustimmen können, unabhängig von der Frage, welche Position sie in dieser Ordnung innehaben. Es geht immer um Wechselseitigkeit. Man müsste, um beim pandemischen Beispiel zu bleiben, also danach fragen, ob man die Kosten-Nutzen-Rechnung auch dann akzeptieren würde, wenn man selbst alt, gebrechlich oder vorerkrankt wäre. Oder, um zum Beispiel von Rawls zurückzukehren: Würde man mit der Aussicht, selbst Sklave werden zu müssen, der Institution der Sklaverei aus gesamtgesellschaftlichen Vorteilserwägungen zustimmen?

Im Mittelpunkt stehen die Vorteile aller Einzelnen

Diese Frage lässt sich auch für andere Verteilungsfragen stellen. Die Menschen sind nicht nur verschieden nach Anlagen, Motivationen, Herkünften, sie leben und kooperieren auch arbeitsteilig. Ungleichheiten sind so unvermeidlich wie meist auch lebensdienlich. Die Gesellschaft ist auf Leistungsanreize und Tauschgeschäfte angewiesen, und dieses Zusammenwirken Verschiedener ist, wenn es gerecht zugeht, zum Vorteil jedes einzelnen Teilnehmers. Dieser Vorteil aller, nicht der Kollektive, sondern aller Einzelnen, ist jene "Fairness", die für Rawls das entscheidende Kriterium der Gerechtigkeit darstellt.

Es geht also um ein Prinzip. Die Umsicht, mit der Rawls es schon in dem ersten Aufschlag von 1958 formuliert, zeigt ein hohes Bewusstsein für die Komplexität der Ausbuchstabierung und der Anwendungen in der sozialen Wirklichkeit. Chancengerechtigkeit, also die prinzipielle Möglichkeit für jeden, nach seinen Fähigkeiten alle Positionen in einer Gesellschaft zu erreichen, auch die "höchsten", angesehensten, am besten dotierten, bleibt angesichts sehr unterschiedlicher gewachsener Startbedingungen ein nur annäherungsweise erreichbares Ziel.

Die enorme Wirkungsgeschichte von Rawls' Gedanken hat mit dem Anwendungspotenzial zu tun, das er eröffnet. Die Spannung von individueller Autonomie und von allen geteilten Vorteilen in einer für alle akzeptablen Ordnung muss immer wieder neu "ausgehandelt" werden. "Aushandeln" mag ein aktuelles Modewort sein, aber immerhin erinnert es an den ehrwürdigen Hintergrund von Theorien des Gesellschaftsvertrags, an die Rawls' genial-einfacher Begriff der Fairness - deutsch käme ihm wohl die alte "Billigkeit" am nächsten - anknüpft.<<

John Rawls: Justice as Fairness/Gerechtigkeit als Fairness. Aus dem Englischen von Corinna Mieth und Jacob Rosenthal. Reclam. Ditzigen 2020. 174 Seiten, 6,80 €

"Die zentralen Thesen John Rawls - siehe Titel unter Pkt. 2"

12.01.2021 12:33
Verleugnung und Verschwörungsideologie gehen bei Pandemien Hand in Hand
Der amerikanische Medizinsoziologe Nicholas Christakis im Interview mit Frederik Jötten vom Redaktionsnetzwerk RND über Verleugnung der Gefahr als Wesenszug von Pandemien,über die Probleme der Rechten wie der Linken mit der Wahrheit – und die Gründe, warum Corona nicht das Ende aller Partys ist (am 12.2.2021):

>>Mr. Christakis, Sie haben neulich getwittert, dass wir mit Covid-19 Glück gehabt haben – warum?

Wir haben nicht Glück, dass es diese Krankheit gibt – wir haben Glück, weil sie so viel schlimmer hätte sein können. Bei Sars-1 starben 2003 10 Prozent der Menschen, die sich angesteckt hatten, bei Mers 2015 sogar 30 Prozent – das waren beides ebenfalls Coronaviren.

Viele Menschen im jungen und mittleren Alter erscheinen denn auch recht unbesorgt, sich anzustecken.

Wenn man sehr jung ist, ist die Wahrscheinlichkeit zu sterben sehr gering. In den 20ern hat man ein Risiko von 1:3000, im mittleren Alter von circa einem Prozent – und ab 75 besteht schon eine 20-prozentige Gefahr. Als Vater bin ich froh, dass meine Kinder nicht gefährdet sind.

Wie alt sind die?

Meine Frau und ich haben Kinder von 28 bis zehn Jahren, denn wir haben einen zehnjährigen Jungen adoptiert. Ich bin erleichtert, dass ich mir keine großen Sorgen um meine Kinder machen muss. Bei anderen Infektionskrankheiten erwischt es ja eher die Jungen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass meine Kinder im kommenden Jahr sterben, ist ohnehin gering. Wenn sie sich dagegen mit dem Corona-Virus infizieren, wird ihr Risiko zu sterben, trotzdem über ihrem herkömmlichen Risiko liegen. Die meisten Eltern fürchten sich vor sehr unwahrscheinlichen Gefahren für ihre Kinder – aber bevor wir uns sorgen, dass sie gekidnappt werden oder ertrinken könnten, sollten wir uns eher um Covid-19 Gedanken machen.

Vielen Menschen ist die Gefahr des Virus nicht bewusst.

Für Menschen im mittleren Alter ist die Gefahr sogar wesentlich höher. Wenn man als 40-Jähriger mit Covid-19 ins Spital kommt, liegt das Risiko zu sterben bei 2 bis 4 Prozent. Das ist ungefähr so hoch wie bei einem 70-Jährigen, der in den USA mit einem Herzinfarkt in ein Krankenhaus kommt. Auch wenn die Krankheit absolut betrachtet nicht bedrohlich ist, relativ betrachtet ist sie das durchaus. Man möchte dieses Virus nicht haben – in keinem Alter.

Warum fällt es vielen Menschen so schwer zu akzeptieren, dass das Virus gefährlich ist?

Sars-Cov-2 ist sehr heimtückisch, denn es hat eine große Spannbreite in dem, was es uns antut – es kann uns einerseits schwer krank machen, uns als Behinderte zurücklassen oder gar töten. Andererseits gibt es auch Infizierte, die milde oder gar keine Symptome haben. Wenn ein Mensch daran stirbt, wird seiner Umgebung die Gefahr bewusst. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass Bekannte eine Infektion sehr gut überstehen. Und so denken die Menschen in der Umgebung vielleicht – das ist harmlos. Aber das ist die falsche Schlussfolgerung. Die aktuelle Pandemie wird wahrscheinlich der zweitschlimmste Ausbruch eines Atemwegserregers nach der Spanischen Grippe 1918 sein.

Wir erleben in Europa immer stärkeren Widerstand von Menschen, die die Existenz des Virus verleugnen – keine Überraschung für Sie, wenn ich Ihr Buch richtig lese?

Infektionen verbreiten sich durch soziale Netzwerke – und die Lügen und Verleugnungen folgen ihnen direkt nach. Sie sind fester Bestandteil von Epidemien. Das ist sehr menschlich – viele Menschen wollen nicht akzeptieren, dass es eine Gefahr durch eine Seuche gibt. Für sie ist es einfacher, mit einer Epidemie umzugehen, in dem sie diese verleugnen. Die Todeszahlen müssten alarmieren – doch die Menschen gehen Rodeln. Ideologische Festlegungen verhindern, dass Menschen die Wahrheit sehen.

Sehen Sie die Forschung geschwächt oder gestärkt durch die Pandemie?

Ich hoffe, dass die Menschen jetzt ein bisschen besser verstehen, dass es wichtig ist, der Wissenschaft zu vertrauen – zum Beispiel bei anderen globale Katastrophen wie dem Klimawandel. Er hat ja eine Menge mit der Pandemie gemeinsam. Ein wichtiger Unterschied ist der Zeithorizont. Wenn ein Forscher eine Vorhersage über den Verlauf der Pandemie macht, wissen wir in spätestens einem halben Jahr, ob sie falsch war. Beim Klimawandel ist die Spanne zwischen Prognose und dem Zeitpunkt, wann man das Ergebnis überprüfen kann, größer, uns fehlt das unmittelbare Feedback. Aber ich bin sicher, die Pandemie wird die Einstellung der Öffentlichkeit zur Wissenschaft bessern.

Allerdings konstatieren Sie in Ihrem Buch, dass es sowohl im rechten als auch im linken Lager Gegner der Wissenschaft gibt.

Sie haben beide Probleme mit der Wahrheit. Die Rechte mit dem Klimawandel, oder auch in der Pandemie. Etwa mit dieser Fantasie, dass Hydrochloroquin funktionieren könnte oder dass diese Pandemie lediglich so schlimm wie eine Grippe sei. Und bei der Linken dachte man wohl, wenn man für das Richtige demonstriert, also gegen die Polizeigewalt, dann wird das okay sein. Aber nein, dem Virus ist es natürlich vollkommen egal, für was man protestiert. Es verbreitet sich. Es gibt eine Menge ideologischer Festlegungen, die verhindern, dass Menschen die Wahrheit sehen – und viele Menschen haben sich eingeredet, dass die Realität ein soziales Konstrukt sei und dass man diese durch bloße Umdeutung ändern kann.

Konstruktivismus, wie er durchaus auch an geisteswissenschaftlichen Fakultäten gelehrt wird …

Ja, aber es ist komplett abstrus, diesen philosophischen Ansatz auf eine Pandemie anwenden zu wollen. Wir können das Virus nicht wegdekonstruieren, und wir können auch nicht einfach ein neues Narrativ erfinden, dass es nicht schlimm sei und es würde dem gehorchen und ungefährlich werden. Wir können darüber debattieren, wie fähig Menschen sind, die Wahrheit zu sehen. Und natürlich ist die Art, wie wir die Wahrheit sehen, abhängig davon, wer wir sind. Wissenschaftlerinnen mögen andere Dinge sehen als ihre männlichen Kollegen. Aber das ist etwas anderes, als zu sagen, dass es keine Wahrheit gibt. Die gibt es – und wir spüren sie auf bittere Weise jetzt. Die psychische und ökonomische Erholung wird ein paar Jahre dauern.

Vielleicht fällt es vielen einfach schwer, die Einschnitte ins Leben zu akzeptieren?

Wenn es einen Zeitpunkt gibt, an dem der Staat durchgreifen muss, dann während einer Pandemie. In einem freien Land sollte man mit seinem Körper tun und lassen können, was man will. Aber das hört da auf, wo dieses Verhalten andere betrifft. Wir regulieren die Geschwindigkeit auf der Straße nicht, um den Fahrer vor sich selbst zu schützen, sondern die anderen Verkehrsteilnehmer vor ihm. Das Gleiche gilt für ansteckende Krankheiten. Der Staat führt keine Maskenpflicht und keine Reisebeschränkungen ein, um Sie zu schützen, sondern andere – Sie sollten nicht die Infektion übertragen.

In Deutschland bestimmen die Bundesländer – vergleichbar mit den US-Bundesstaaten – weitgehend, welche Corona-Maßnahmen an einem Ort gelten. Ist es aus Ihrer Sicht richtig, dass dies auf regionaler Ebene entschieden wird?

In verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Corona-Regeln zu haben, ist, wie Menschen in einem Schwimmbecken zu erlauben, in einer Ecke urinieren zu können – und dann zu hoffen, dass sich der Urin nicht ausbreitet. Ein Virus hält sich nicht an Grenzen. Wenn ein Bundesland strikt ist und ein anderes nicht, ist das keine gute Strategie. Je mehr Menschen mitmachen, umso besser. Wir sind nicht am Beginn des Endes der Pandemie, wir sind einfach am Ende des Pandemieanfangs.

Warum so pessimistisch? Die Impfstoffe sind doch auf dem besten Weg.

Die Neuigkeiten aus der Impfforschung sind großartig. Wir haben unglaubliches Glück – unsere Pandemie tötet nur ein Prozent der Infizierten und wir haben die Möglichkeit, Impfungen zu entwickeln, die sie stoppt. Und wir können diese auch noch sehr schnell entwickeln. Rund ein Jahr nachdem dieser Erreger auf uns Menschen übergesprungen ist, werden wir uns dagegen impfen können – das ist unglaublich. Ich sage nur: In dem Moment, in dem die Vakzine zugelassen sind, ist die Pandemie noch nicht vorbei.

Aber ihr Ende ist doch dann absehbar?

Wir müssen uns dann aber immer von den psychischen und ökonomischen Folgen erholen – das wird ein paar weitere Jahre dauern. Die Menschen werden nicht plötzlich alle wieder in Restaurants und Flughäfen zurückkehren. Nur weil ein Teil der Bevölkerung geimpft sein wird, heißt das nicht, dass das Virus weg sein wird. Dieses Virus wird niemals ausgerottet werden. Es wird für immer bleiben.

Was verändert es gesellschaftlich?

Epidemien sind Zeiten der Trauer. Menschen sterben, andere verlieren ihre Lebensgrundlage, ihren Job, die Zeit, die sie sonst mit Freunden verbringen. Infektionskrankheiten treffen leider immer die Verletzlichsten der Gesellschaft am stärksten: die Kranken, die Armen, die Alten, die sozial Ausgegrenzten, die Minderheiten. Viele Menschen werden in der Not religiöser – es gibt keine Atheisten in Fuchsbauten, sagen wir. Heißt: Alle, die in Löchern sitzen, glauben plötzlich an Gott. Wie wir jetzt leben, fühlt sich unnatürlich an. Aber Seuchen sind nicht neu für unsere Art. Sie sind einfach neu für uns. Wir denken, es ist verrückt, was passiert, aber unsere Vorfahren hatten diese Erfahrung für Tausende von Jahren. Wir müssen uns einfach klarmachen – Menschen haben früher Epidemien erlebt und künftigen Generationen wird das auch wieder passieren. Jetzt ist eben unser Moment, diese unausweichliche Erfahrung menschlicher Existenz zu machen.

Wird das Virus unseren Lebensstil nachhaltig verändern?

Das ist natürlich schwer zu sagen, aber Pandemien ändern Gewohnheiten. In den USA war öffentliches Spucken früher sehr verbreitet. Aber um 1900 herum gab es Tuberkulose-Epidemien – und deshalb kam eine Bewegung auf, die das Spucken stoppen wollte. Aber sie kam nicht wirklich voran – bis dann 1918 die Spanische Grippe kam. Dadurch bekam die Bewegung richtig Schwung. Die Spucknäpfe verschwanden aus allen Restaurants und von allen öffentlichen Plätzen – und nach der Pandemie kamen sie niemals zurück. Und niemand wundert sich heute noch darüber, niemand denkt: Verrückt, dass es keine Spucknäpfe gibt.

Wie wird die jetzige Pandemie die Gesellschaft verändern?

Ich denke, der Handschlag könnte für immer verschwinden – viele Kulturen weltweit kommen ja schon ohne Berührung bei der Begrüßung aus. Geschäftsreisen werden stark abnehmen, verhandelt wird dann immer noch Angesicht zu Angesicht, aber viele Meetings werden einfach bei Zoom gemacht werden. Das Lehren an der Uni wird sich zu einem großen Teil ins Virtuelle verlagern. Von zu Hause aus zu arbeiten wird eher die Regel als die Ausnahme werden.

Werden unsere Nachfahren später auf uns schauen und sagen – bis 2020 haben die Menschen gefeiert, getanzt, getrunken und einfach so in die Gegend geatmet, verrückt, total unhygienisch? Mit andern Worten: Wird es wieder anständige Partys geben?

Natürlich, keine Sorge. In Zeiten von Pandemien fliehen die Menschen auch aus der Stadt – seit Tausenden von Jahren. Trotzdem würde ich nicht darauf wetten, dass Städte weniger attraktiv werden – sie werden zurückkommen genau wie die Partys. Nach der Spanischen Grippe kamen auch die wilden Zwanziger Jahre.<<

Zur Person: Bevor Nicholas Christakis, 58, ein „intellectual rockstar“ („New York Times“) wurde, kümmerte er sich um Sterbende. Als Arzt in einem Hospiz in Chicago betreute er Mitte der Neunziger todkranke Patienten. Diese Erfahrung prägt ihn bis heute. In seiner weiteren Karriere wurde der Sohn griechischer Einwanderer, der parallel zur Medizin Soziologie studierte, Professor für Medizin-Soziologie in Harvard. 2013 wechselte er nach Yale, wo er heute Sterling Professor ist, eine Auszeichnung, die die Yale University nur an Fakultätsmitglieder vergibt, die als die Besten ihres Fachs gelten – seine wissenschaftlichen Artikel wurden allein in den letzten fünf Jahren rund 30.000 Mal von Kollegen zitiert.

04.01.2021 10:28
Bei Problemen mit Amazon wird Amazon zum Problem
Es geschah Ende 2020. Aus dem Amazon-Fan Rainer Hank - bis zur Rente leitender Wirtschaftsredakteur der FAZ - wurde ein scharfer, enttäuschter Amazon-Kritiker. Und das passsiertes so, wie er in der FAZ am 3.1.2021 schrieb: "In den letzten Wochen des Jahres 2020 habe ich den Glauben an Amazon verloren.

Und das kam so. Einige kurz hintereinander erfolgte Abbuchungen von Anfang November auf meiner Kreditkartenabrechnung, keine großen Beträge, kamen mir spanisch vor. Ich hatte die Befürchtung, ein Betrüger müsse mein Amazon-Konto gehackt haben. Solche Sachen liest man ja; warum sollte ich verschont bleiben. Ich bat meine Bank, das mutmaßlich betrügerisch abgebuchte Geld zurückzufordern. Das funktionierte binnen eines Tages reibungslos.

Tags darauf musste ich feststellen, dass es keinen Hacker gab, ich bloß bei der coronabedingt vielfältigen Online-Bestellerei den Überblick über meine Käufe verloren hatte. So waren mir etwa die Fahrradhandschuhe für 10,97 Euro nicht mehr präsent. Mein Fehler, gewiss – aber ein Fehler, den ich mir durchgehen lasse. Kann passieren.
Amazon ächtete mich

Danach lernte ich Amazon von einer anderen Seite kennen. Wie naiv war es von mir zu meinen, die Sache lasse sich mit einer korrigierenden E-Mail an Amazon aus der Welt schaffen. Erst einmal reagierte das Unternehmen gar nicht. Dann erhielt ich die Mitteilung, mein Amazon-Konto sei gesperrt, angeblich, um mich zu schützen. Einige Tage später wurde ich aufgefordert, ich solle die Nummer einer Kreditkarte angeben, um die Bestellungen zu bezahlen, die aber nicht jene Kreditkarte sein dürfe, von der ursprünglich die Beträge abgebucht worden seien; sie müsse aber gleichwohl auf meinem Amazon-Konto hinterlegt sein. Das werde schwierig, antwortete ich, denn es sei keine andere Kreditkarte hinterlegt, ich könne das aber jetzt gerne nachholen. Nein, das sei nicht möglich, wurde mir einige Tage später mitgeteilt.

Da schwante mir: Die Sache wird sich ziehen. Ich kürze ab: Amazon ächtete mich und schloss mich wochenlang aus der Community aus. Am anderen Ende der Telefon-Hotline traf ich zwar immer auf freundliche Call-Center-Mitarbeiterinnen, die stets versicherten, mein Anliegen weiterzugeben. Doch ohne Erfolg.

Ich wäre bereit gewesen, das Geld persönlich mit Schufa-Zertifikat vorbeizubringen oder als Einschreiben an Jeff Bezos nach Seattle zu schicken. Es nützte alles nichts. Wie Hohn kam es mir vor, dass die in nicht leicht zu verstehendem Deutsch formulierten E-Mails von „Kontospezialist. Amazon.de“ mit dem Hinweis enden: „Unser Ziel: das kundenfreundlichste Unternehmen der Welt zu sein. Ihr Feedback hilft uns dabei.“

Ich höre schon die Häme der Leser: Das kommt davon, wenn man sich auf Amazon verlässt. Und ich höre den Vorwurf: Hier wird ein einmaliger Vorfall, für dessen Eintreten ich auch noch selbst verantwortlich bin, generalisiert und zum Vertrauens-Super-GAU hochstilisiert. Diesen Verdacht zu entkräften half mir – wie stets – das F.A.Z.-Archiv. Dort findet sich genügend Material meiner Leidensgenossen, alle mit dem Tenor: Wehe dem, der den Automatismus von Amazon stört. Der wird bestraft.
Marktmacht ist verführerisch und bequem für den Kunden

Als dilettierender Kartellexperte hätte ich vor diesem ärgerlichen Vorfall stets behauptet, Amazon sei nicht gefährlich trotz seiner inzwischen 80 Prozent Marktanteile im Online-Handel. Denn das Unternehmen nützt seine Macht ganz offensichtlich nicht aus, mir höhere Preise abzuknöpfen. Der Erfolg verdankt sich seiner auf Netzwerkeffekten beruhenden Leistung – mit freundlicher Unterstützung durch die aktuelle Seuche, die es uns verbietet, beim stationären Händler einzukaufen. Doch jetzt sehe ich: Preissetzungsmacht ist nicht der einzige Schaden, den ein Monopolist den Menschen zufügt. Ich wurde Opfer einer Mischung aus Bürokratismus und Desinteresse am einzelnen Kunden.

Der Monopolist braucht sich – allen Marketingsprüchen zum Trotz – nicht mehr besonders anzustrengen. Bei einem Rekordumsatz von hochgerechnet etwa 380 Milliarden Dollar im Jahr 2020 und einem Gewinn allein in den ersten drei Quartalen von 14 Milliarden Dollar kommt es auf den Kunden Hank nun wirklich nicht an. Abwandern wird er nicht, er hat ja keine Alternative".

Das stimmt nun allerdings nicht; es ist nur etwas aufwändiger: etwa 20 mehr Klicks mit dem Finger, etwas mehr Grips-Einatz. Was ist daran wirklich mühsam? Es soll Menschen geben, die mehr tun müssen, um Gewünschtes zu bekommen...

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