Blog nach Monat: Oktober 2020

23.10.2020 12:48
Bundesregierung hintertreibt überfälligen Rechtsschutz von Whistleblowern
Die Liste der aktuellen Beispiele für die Bedeutung des Whistleblowings ist lang: Ob Cum-Ex- oder Wirecard-Skandal, Panama Papers, Rechtsextreme bei der Bundeswehr oder missbräuchliche Personenabfragen aus Polizeicomputern – in allen diesen Fällen konnten nur durch Hinweise von Menschen mit Insiderwissen zunächst Medien auf Missstände aufmerksam machen und erst dadurch die Verantwortlichen belangt oder politische Konsequenzen gezogen werden. Damit haben solche Whistleblowerinnen und Whistleblower als journalistische Quellen eine wesentliche Bedeutung für die Kontrollfunktion der Medien.

Ein Jahr nach der Verabschiedung der EU-Whistleblowing-Richtlinie tritt die Umsetzung in nationales Recht in Deutschland auf der Stelle. Statt endlich umfassende Rechtssicherheit für Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber zu schaffen und damit auch den investigativen Journalismus zu stärken, streiten die zuständigen Ministerien darüber, ob sie die Richtlinie überhaupt auf Fragen des nationalen Rechts anwenden oder aber auf EU-Recht beschränken sollen. Damit droht die Bundesregierung die Chance zu verpassen, einen kohärenten Whistleblowerschutz zu schaffen.

Reporter ohne Grenzen (RSF) und Whistleblower-Netzwerk (WBN) fordern in einem gemeinsamen Positionspapier, die längst überfällige Debatte über Regeln zum öffentlichen Whistleblowing, zum Umgang mit amtlichen Verschlusssachen sowie über einen zeitgemäßen digitalen Quellenschutz zu führen.

„Eine halbherzige Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie würde mehr Rechtsunsicherheit als Nutzen für die Betroffenen bringen“, sagte Christian Mihr, Geschäftsführer von Reporter ohne Grenzen (RSF). „Es ist Zeit für einen entschlossenen Schritt zum umfassenden rechtlichen Schutz für Menschen, die oft unter großen persönlichen Risiken die entscheidenden Informationen liefern, um Missstände in Wirtschaft und Behörden aufzudecken:“

Am 23. Oktober 2019 hatte die Europäische Union eine Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden (Whistleblowing-Richtlinie) verabschiedet. Die Mitgliedsstaaten müssen diese nun bis Ende 2021 in nationales Recht umsetzen. Formal gilt die Richtlinie zwar nur für EU-rechtliche Fragen. Doch der europäische Gesetzgeber hat die Mitgliedstaaten ausdrücklich ermutigt, den Anwendungsbereich bei der Umsetzung auch auf Bereiche ausweiten, die ausschließlich im nationalen Recht geregelt sind.

Ministerien streiten um Anwendungsbereich

Ein erster Gesetzesentwurf für die Umsetzung der EU-Richtlinie in Deutschland wird bis Ende dieses Jahres erwartet. Doch aus einem ersten Eckpunktepapier des federführenden Justizministeriums strich das Bundeswirtschaftsministerium grundsätzliche Überlegungen kommentarlos heraus oder verkehrte sie in ihr Gegenteil.

So plädiert das Wirtschaftsressort dafür, den Whistleblowerschutz auf Hinweise zu Verstößen gegen bestimmte Bereiche des EU-Rechts zu beschränken. Das würde bedeuten, dass Whistleblowerinnen und Whistleblower ohne juristische Kenntnisse schwer beurteilen könnten, ob ihr Fall unter die geschützten Bereiche fällt oder nicht. Das Risiko einer Fehleinschätzung mit womöglich schwerwiegenden rechtlichen Folgen wäre groß. Dies würde potenzielle Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber verunsichern und abschrecken.
Kein geringerer Schutz für Whistleblowing gegenüber Medien

Decken Whistleblowerinnen und Whistleblower Rechtsverstöße direkt gegenüber Medien oder der Öffentlichkeit auf und nicht zunächst intern oder gegenüber einer Behörde, so sieht die EU-Richtlinie für sie sie nur einen deutlich eingeschränkteren Schutz vor. Würde dies so in nationales Recht umgesetzt, dann wären Whistleblowerinnen und Whistleblower als journalistische Quellen in vielen Fällen nicht rechtlich geschützt. RSF fordert deshalb Vorrang für die Meinungs- und Pressefreiheit vor anderen geschützten Interessen, solange Informationen nicht leichtfertig und nicht wider besseres Wissen offengelegt werden und sofern es um Fragen von wesentlichem öffentlichem Interesse geht.

Besonderen Schutz benötigen auch Beamtinnen, Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes, deren Hinweise oft einen Bezug zu amtlichen Verschlusssachen haben. Der Vorrang der Meinungsfreiheit vor anderen schützenswerten Interessen darf für sie nicht durch pauschale Ausnahmen ausgehebelt werden. Vielmehr sind klare Regeln nötig, um das Verhältnis von nationaler Sicherheit und öffentlichem Interesse auszubalancieren.

Ebenso sollte die Umsetzung der Whistleblowing-Richtlinie genutzt werden, um rechtliche Schutzlücken zu schließen, die durch die Ausweitung digitaler Ermittlungsmethoden entstanden sind. Konkret sollten mutmaßliche Hinweisgeberinnen und Hinweisgeber in der Strafprozessordnung den gleichen Schutz wie die Berufsgeheimnisträger – also zum Beispiel Journalistinnen oder Anwälte – erhalten, denen sie Informationen zuspielen.

Die ausführlichen Forderungen von Reporter ohne Grenzen für die Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie finden sich in einem Positionspapier, das RSF an diesem Freitag (23.10.) zusammen mit dem Whistleblower-Netzwerk veröffentlich hat.

"Das Positionspapier zum Whistleblowing in Deutschland"

16.10.2020 10:04
Bei Amazon sieht der Vorgesetztes alles - unfaire Arbeitssituation durch Dauerdruck
Amazon ist einer der großen Corona-Gewinner. Die Umsätze steigen rasant und auch die Aktie befindet sich auf einem Rekordniveau: Seit Mitte März hat sich ihr Wert fast verdoppelt. Weniger rosig ist die Situation für viele Beschäftigte: Recherchen zeigen, dass sie engmaschig überwacht werden, damit die Produktivität steigt.

Als Greenpeace zu Umweltproblemen bei Amazon recherchierte, stieß die Organisation auf diese Form der Überwachung und machte die Dokumente dem NDR zugänglich. Sie belegen erstmalig: Amazon kontrolliert permanent die Leistung der Arbeiter.

Dokumente, die dem NDR vorliegen, belegen erstmalig: Amazon kontrolliert permanent die Leistung der Arbeiter. Genutzt wird dafür eine Software des Warenwirtschaftssystems.

Und so funktioniert das Programm zur Leistungskontrolle: Der Amazon-Mitarbeiter scannt jedes Teil, das er einlagert, heraussucht oder in ein Paket packt. Dieser Scan-Vorgang wird sekundengenau aufgezeichnet und einem Vorarbeiter angezeigt. So kann er jeden Arbeitsschritt der Beschäftigten überwachen und sehen, ob ein bestimmter Arbeiter auch genügend Pakete, um die durchschnittliche Rate zu erfüllen. Er sieht auf seinem Display auch, wenn jemand mal für wenige Minuten nicht arbeitet. Geht es insgesamt nicht schnell genug, greift der Vorarbeiter ein.

Vorarbeiter bestätigt ständige Kontrolle
Das bestätigt ein Vorarbeiter, der in einem der Amazon-Versandlager in Deutschland arbeitet und sich gegenüber Panorama anonym äußert: "Dann gucke ich vor Ort, was das Problem ist. Unterhält sich der Mitarbeiter vielleicht zu lange, ist er nicht am Platz, zu oft auf der Toilette?" Amazon schreibt uns, das System helfe "Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beim Anlernen neuer Prozesse" und gebe bei Bedarf "Hilfestellungen".

Ob diese engmaschige, lückenlose Überwachung rechtlich einwandfrei ist, ist aber umstritten. In Niedersachsen läuft deswegen ein Kontrollverfahren der Datenschutzbehörde. Amazon schreibt uns auf Nachfrage: "Nach unserer Einschätzung sind diese Systeme im Einklang mit den Verordnungen und Gesetzen in Deutschland und in der EU." Man nutze das Programm als "Warenwirtschaftssystem, mit dem wir die Abläufe für Kundenbestellungen in unserem Netzwerk planen."

Rate steigt kontinuierlich

Auf dieser Grundlage werden die Arbeiter offenbar verglichen. Obwohl es offiziell keine Akkordarbeit gibt, entsteht so defacto ein starker Druck, so viele Pakete wie möglich zu bearbeiten. Denn: Wer am wenigsten leistet, muss um die Verlängerung des häufig befristeten Vertrags fürchten.

Am Ende entscheide auch die durch die Software gemessene Schnelligkeit, wer beschäftigt wird oder nicht, so der Vorarbeiter. Die Schnellen bleiben, die eher Langsamen müssen gehen. Die Folge: eine kontinuierlich steigende Durchschnitts-Rate, an der sich die Beschäftigten zu orientieren haben. Wer heute noch schnell genug ist, um weiter beschäftigt zu werden, kann schon morgen zu langsam sein - und damit vor dem Aus stehen.

Das Ergebnis, so der Vorarbeiter, führt zu den so genannten "Release Days" - übersetzt etwa "Tage der Freisetzung". An diesen Tagen wird den Mitarbeitern mitgeteilt, ob ihr befristeter Vertrag ausläuft oder verlängert wird. Der Vorarbeiter berichtet: "Man hat die Unterlagen vor sich, die Security steht bereit, falls es Probleme gibt. Denn wenn mehrere Leute gleichzeitig gehen mit schlechter Laune, kann es natürlich auch mal zu verbalen Auseinandersetzungen oder auch zu Handgreiflichkeiten kommen."

Ehemalige Beschäftigte bestätigt Überwachung

Fatma Körugallari hat die Überwachung am eigenen Leib erfahren. Sie hat fast zwei Jahre im großen Versandlager im niedersächsischen Winsen (Luhe) gearbeitet, wurde sogar in den Betriebsrat gewählt. Der Druck war immer zu spüren, erinnert sich die heute 60-Jährige. Wenn die Rate mal fiel, sei sie sofort ermahnt worden. "Ich wurde dann zum Beispiel gefragt, wo ich um eine bestimmte Uhrzeit war", sagt sie.

Kurz nach Weihnachten 2018 hat sie dann erst erfahren, dass ihr nur wenige Tage später endender Vertrag nicht verlängert wird. Zum plötzlichen Abschied habe es lediglich ein kühles Dankeschön und eine Tafel Schokolade gegeben. Amazon möchte diesen Fall nicht kommentieren.

Arbeitssoziologe: Fluktuation und Kontrolle Teil des Amazon-Modells

Für Peter Birke von der Universität Göttingen sind die ständige Überprüfung der Arbeiter und befristete Verträge Teil des Beschäftigungsmodells bei Amazon. "Solange die Leute noch befristet sind, ist die Sanktionsmöglichkeit des Betriebs groß, weil die Beschäftigten ohne Angabe von Gründen nicht weiter angestellt werden müssen", so der Arbeitssoziologe.

von Sebastian Friedrich und Johannes
Jolmes von Panorama für die ARD/1. Programm

"Der TV-Beitrag"

09.10.2020 11:21
Wird bio nachhaltig - und ist es fair?
Mehr Bio, weniger Plastik: Immer mehr Konsumenten in der EU achten laut einer Umfrage beim Einkauf auf Nachhaltigkeit. Besonders ausgeprägt ist dieser Trend demnach in Deutschland.

Die Sorge um die Umwelt verändert laut einer aktuellen Studie das Einkaufsverhalten der Menschen. Für die Studie befragte das Nürnberger Konsumforschungsunternehmen GfK im Juni knapp 61.000 Haushalte in zehn europäischen Ländern.

42 Prozent gaben demnach an, dass Umweltthemen eine wichtige Rolle spielten.

Mehr als ein Drittel der Haushalte haben nach eigenen Angaben das eigene Einkaufsverhalten verändert: Sie verzichten demnach teils auf Produkte oder Dienstleistungen, die ihrer Ansicht nach der Umwelt oder der Gesellschaft schaden könnten. Drei von zehn Haushalten achteten zudem darauf, dass die von ihnen gekauften Artikel nicht in Plastik verpackt seien.
Im Vergleich zu einer ähnlichen Studie im vergangenen Jahr habe das Umweltbewusstsein bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern zugenommen, sagte GfK-Experte Jan-Fredrik Stahlbock. Am stärksten ausgeprägt sei dies in Deutschland. "Aber auch in Frankreich und Spanien werden die Menschen umweltbewusster."

Den größten Einfluss auf das, was im Einkaufskorb landet, haben nach der GfK-Studie die Kinder. In den zehn untersuchten Ländern sagten 45 Prozent der Befragten, dass ihre Kinder für das umweltfreundliche Konsumverhalten ausschlaggebend seien, gefolgt von Freunden (42 Prozent), dem Ehepartner (37 Prozent) und den Eltern (19 Prozent).
Die größte Verantwortung, Umweltschäden zu begrenzen, sehen die Befragten bei den Herstellern (40 Prozent) und den Regierungen (35 Prozent). Sich selbst sehen nur 20 Prozent in der Pflicht". So die Meldung von ssu/dpa.

Nachhaltig ist der Trend noch nicht. Und Bio allein ist noch nicht tiefgreifend. Im letzten Jahr gab jeder Verbraucher 22,23 Euro im Jahr (!) für fair gehandelte Lebensmittel und Handwerksprodukte aus. Das ist fast nichts. Bio, öko und fair gehören zusammen, wenn Missstände überwunden und bio wirklich für die Ehrfurcht vor dem Leben der Menschen, der Tiere und Pflanzen wirksam sein soll.

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