Blog nach Monat: Juli 2021

27.07.2021 12:22
Die gläsernen Beschäftigten - Wenn die Chefs online Beschäftigte ausspähen - Datenschutz unfair?
Immer mehr Unternehmen sammeln Daten über ihre Beschäftigten, schreibt Steffen Herrmann am 26.7. in der Frankfurter Rundschau. „Das Homeoffice während der Corona-Pandemie verstärkt die Nachfrage nach Überwachungssoftware.
Private Telefonate führen, stundenlang durch Instagram und Facebook scrollen oder den nächsten Sommerurlaub planen. Alles kein Problem, denn im Homeoffice bekommt es der Chef oder die Chefin ja nicht mit – oder?

Das stimmt nicht ganz. Vorgesetzte können ihre Beschäftigten überwachen, auch aus der Distanz. Wer wissen will, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Homeoffice treiben, muss nicht viel Geld hinlegen: Knapp 50 Euro kostet zum Beispiel die Software Orvell Monitoring pro Arbeitsrechner und Jahr. Nach der Installation zeichnet die Software alle Aktivitäten auf: Wie lange gearbeitet wird, welche Programme genutzt und welche Internetseiten besucht werden. Das Versprechen des Anbieters an die Unternehmen: „detaillierte Tätigkeitsnachweise“ aus dem Homeoffice.

Sonja Köhne forscht am Humboldt Institute für Internet und Gesellschaft, sie kennt sich aus mit den sogenannten People Analytics Tools: Unter dem Begriff verstehe man einen evidenz- und datengesteuerten Ansatz für die Personalführung, sagt Köhne. „Das heißt, man erfasst Verhaltensdaten von Beschäftigten und wertet sie automatisiert aus, um auf dieser Basis geschäftliche Entscheidungen zu optimieren.“
Dabei werden nicht nur Daten gesammelt, um die Beschäftigten zu überwachen: People Analytics Tools können auch andere, wichtige Erkenntnisse liefern – zum Beispiel, welche jungen Talente das Unternehmen wahrscheinlich freiwillig verlassen werden, welche Bewerberin am besten zur ausgeschriebenen Stelle passt oder wie sich die Zahl der Krankheitstage entwickeln wird. Auch für die Beschäftigten selbst können die Anwendungen hilfreich sein: Wo kann ich mich verbessern? Gönne ich mir genug Pausen?

Coronavirus-Pandemie hat Überwachung im Homeoffice verstärkt

Seit der Corona-Pandemie steht allerdings der Aspekt der Überwachung im Fokus. Glaubt man den Anbietern, boomen ihre Programme. Auch beim Anbieter Hubstuff soll sich die Nachfrage nach eigenen Angaben während der Pandemie verdreifacht haben, wie das „Handelsblatt“ berichtet.
Überprüfen lässt sich das nicht. Klar ist aber: Seit viele Menschen im Homeoffice arbeiten, entstehen mehr Daten. Gleichzeitig sind die Beschäftigten der direkten Kontrolle im Betrieb entzogen. Und zumindest bei einigen Unternehmen wächst deshalb der Wunsch nach digitalen Überwachungstools.

Das Vergleichsportal Getapp hat im Mai rund 1100 Führungskräfte und Beschäftigte zur Überwachung im Homeoffice befragt. 21 Prozent der Beschäftigten gaben an, per Software überwacht zu werden. Und bei der Hälfte der Überwachten wurde die Software erst nach Beginn der Corona-Krise eingeführt.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) beobachtet den Einsatz von Überwachungssoftware skeptisch. „Die Digitalisierung schafft unliebsame Möglichkeiten der Kontrolle, die in analogen Zeiten schlichtweg unmöglich waren und an die auch kein Mensch gedacht hat“, sagt DGB-Vorstandsmitglied Anja Piel.

Grundsätzlich ist die Überwachung von Beschäftigten erlaubt. Allerdings nur dann, wenn die Belegschaft eingebunden ist: Die Einführung von Software, die das Verhalten oder die Leistung von Arbeitnehmern überwacht, ist mitbestimmungspflichtig. Der Betriebsrat kann also nicht übergangen werden. Wo es keine Betriebsräte gibt, müssen Beschäftigte einzeln und freiwillig zustimmen. Eine heimliche Überwachung ist nur in Ausnahmefällen erlaubt, etwa beim konkreten Verdacht einer Straftat oder schwerwiegenden Pflichtverletzung.

Mitarbeiterbefragungen und Analyse der Angestellten während der Covid-19-Pandemie

Auch vor der Coronavirus-Pandemie werteten einige Unternehmen die Daten ihrer Beschäftigten aus – unter anderem durch Mitarbeiterbefragungen. „Es gibt aber auch von Sensoren überwachte Hightech-Arbeitsplätze, die alles messen und auswerten – von den Tastaturanschlägen bis hin zur Pulsfrequenz und der Körperhaltung auf dem Bürostuhl“, sagte Stefanie Krügl, eine Expertin für Organisationskultur, schon 2015 in einem „Zeit“-Interview. Durchgesetzt hat sich diese exotische Vermessung der Beschäftigten nicht.

Der Online-Modehändler Zalando geriet vor anderthalb Jahren in die Kritik, weil er seit 2017 eine Software nutzte, die die Leistung eines Teils der Beschäftigten misst. Die Teilnehmenden werden von ihren Kolleg:innen und Vorgesetzten bewertet. Wer überdurchschnittlich performt, bekommt Lohnzuschläge. Die Hans-Böckler-Stiftung hatte die Wirkung des Programms namens Zonar 2019 untersucht. Das Fazit: Durch Zonar leide das Betriebsklima und der Stress nehme zu. Die Software sei ein „umfassendes, quasi panoptisches System der Leistungskontrolle“. Stefanie Nutzenberger, Mitglied im Vorstand der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, kritisierte Zonar daraufhin als „übergriffig, arbeitnehmerfeindlich und datenschutzrechtlich höchst problematisch“.

Und heute? Zalando gibt an, das Tool nicht mehr „in der Ende 2019 beschriebenen Funktionsweise“ zu nutzen. An den jährlich zwei Mal stattfindenden Feedbackrunden mit Hilfe des „Evaluation Tools“ nähmen knapp 6400 der insgesamt mehr als 14 500 Mitarbeiter:innen teil. Dabei kämen weder Rankings, Scores noch künstliche Intelligenz zum Einsatz. Die Berliner Datenschutzbehörde habe bestätigt, dass „Prozess und Tool konform mit der Datenschutz-Grundverordnung“ seien.

Homeoffice-Überwachung: Datenschutzfragen noch ungeklärt

Dem Deutschen Gewerkschaftsbund aber reichen die bisherigen gesetzlichen Regelungen nicht. Seit mehr als zehn Jahren fordern seine Vertreterinnen und Vertreter ein eigenständiges Beschäftigtendatenschutzgesetz, konnten sich im politischen Berlin damit bislang aber nicht durchsetzen. Dabei sei das Gesetz gerade mit Blick auf die neuen technischen Möglichkeiten dringend notwendig, sagt Anja Piel. „Das Arbeitsverhältnis besteht zwar unter formal Gleichen, tatsächlich manifestiert es aber eine wirtschaftliche Abhängigkeit.“ Der Datenschutz müsse deshalb endlich zugunsten der Beschäftigten geregelt werden.
Aber erfüllen die Programme überhaupt die Erwartungen der Unternehmen, steigern sie die Produktivität der Beschäftigten? Die Forscherin Sonja Köhne ist skeptisch: „Wenn die Metriken, die verwendet werden, nur Aussagen darüber treffen, wie viele Minuten am Tag eine Person Microsoft-Produkte verwendet hat oder wie schnell sie auf Mails reagiert, dann sagt das über die Produktivität natürlich nicht viel aus.“ Die Unternehmen müssten sich also vor dem Einsatz von People Analytics Tools ganz grundlegend der Frage stellen: Inwieweit ist die Arbeit der Beschäftigten überhaupt in Daten auszudrücken?“

Es fehlt also ein klarer Datenschutz für Beschäftigten, für ihre erzeugten Daten und Beobachtungsmerkmal. Schnell gerät ein Unternehmen ins Unfaire und Ungefähre, wenn mit Softwaretools zur Überwachung leichtsinnig oder absichtlich so umeggangen wird, dass 'gläserne Mitarbeitende' das Ergebnis sind.

25.07.2021 05:49
Menschenrechtsverletzungen in Aluminum-Lieferketten in der Autobranche
Automobilunternehmen müssen mehr tun, um Menschenrechtsverletzungen in ihren Aluminium-Lieferketten und den Bauxitminen, von denen sie beziehen, anzugehen, so Human Rights Watch und Inclusive Development International in einem am 22.7. veröffentlichten Bericht.

Fast ein Fünftel des weltweit verbrauchten Aluminiums im Jahr 2019 ging auf das Konto der Automobilhersteller und laut Prognosen wird sich ihr Aluminiumverbrauch bis 2050 verdoppeln wird. Grund hierfür ist der Übergang zu Elektrofahrzeugen.

Der 63-seitige Bericht, „Aluminum: The Car Industry's Blind Spot - Why Car Companies Should Address the Human Rights Impact of Aluminum Production“ beschreibt die globalen Lieferketten, die Automobilhersteller mit Minen, Raffinerien und Schmelzwerken in Ländern wie Guinea, Ghana, Brasilien, China, Malaysia und Australien verbinden. Auf der Grundlage von Treffen und Korrespondenz mit neun großen Automobilkonzernen - BMW, Daimler, Ford, General Motors, Groupe PSA (jetzt Teil von Stellantis), Renault, Toyota, Volkswagen und Volvo - untersuchten Human Rights Watch und Inclusive Development International, wie die Automobilindustrie mit den menschenrechtlichen Auswirkungen der Aluminiumproduktion umgeht, von der Zerstörung von Ackerland und der Schädigung von Wasserquellen durch Minen und Raffinerien bis hin zu den erheblichen Kohlenstoffemissionen der Aluminiumschmelze. Drei weitere Unternehmen - BYD, Hyundai und Tesla - reagierten nicht auf die Anfragen nach Informationen...

Obwohl sich viele der weltweit führenden Automobilkonzerne öffentlich dazu verpflichtet haben, gegen Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten vorzugehen, haben sie bisher wenig getan, um die Auswirkungen der Aluminiumproduktion auf die Menschenrechte zu bewerten und anzugehen. Stattdessen haben sie die Sorgfaltspflicht in der Lieferkette bei anderen Materialien priorisiert, die für Elektrofahrzeuge von wesentlicher Bedeutung sind, wie z.B. Kobalt, das für elektrische Batterien benötigt wird.

Da Bauxit über Tage abgebaut wird, nehmen die Minen eine große Fläche ein und zerstören oft Ackerland, das die Lebensgrundlage der lokalen Gemeinden bildet. Bauxitminen können zudem verheerende Auswirkungen auf Flüsse, Bäche und Grundwasserquellen haben, auf die die Gemeinden für ihr Trinkwasser und die Bewässerung angewiesen sind...

Drei deutsche Automobilhersteller - Audi, BMW und Daimler - versuchen, eine verantwortungsvolle Aluminiumbeschaffung zu fördern, indem sie ihre Zulieferer dazu ermutigen, einem von der Industrie geführten Zertifizierungsprogramm, der Aluminum Stewardship Initiative (ASI), beizutreten...

Die Menschenrechtsstandards von ASI sind jedoch nicht ausdifferenziert genug und bieten keine spezifischen Kriterien, um zu beurteilen, wie gut Unternehmen auf wichtige Menschenrechtsfragen reagieren, wie etwa die Umsiedlung von Gemeinden, die durch den Bergbau vertrieben wurden. ASI muss zudem besser sicherstellen, dass die Gemeinden am Prüfungsprozess beteiligt werden und für mehr Transparenz bezüglich der Ergebnisse sorgen.

Einige Automobilkonzerne haben, seit sie von Human Rights Watch und Inclusive Development International kontaktiert wurden, Schritte unternommen, um Aluminium eine höhere Priorität bei der verantwortungsvollen Beschaffung einzuräumen...

15.07.2021 09:39
Dumpingpreise für Faire Trade im Discounter
Es ist ein Corona-Knick, auf den Matthias Fiedler blickt. So Thomas Magenheim-Hörmann in der Frankfurter Rundschau. Und weiter: „Um knapp drei Prozent auf 1,8 Milliarden Euro sind die Umsätze mit fair gehandelten Produkten voriges Jahr in Deutschland gesunken, bilanziert der Geschäftsführer des Forums Fairer Handel (FFH). Das ist der Dachverband von Weltläden und anderen Verkaufsstellen für Produkte aus dem globalen Süden, deren Erzeugerinnen und Erzeugern auskömmliche Preise garantiert werden.

Über sieben von zehn heimischen Verbraucher:innen kaufen derartige Lebensmittel oder Textilien gezielt, um Kinderarbeit oder Hungerlöhne in Asien, Afrika oder Lateinamerika zu unterbinden. Nachfrage ist also da. Was 2020 gebremst hat, waren geschlossene Weltläden aber auch Preisdumping von Discountern.

Denn dort werden hierzulande die bei weitem meisten Waren mit Fairtrade-Siegel verkauft. Discounter sind mit Rekordgeschäften große Pandemiegewinner. Zugleich locken sie Kunden oft mit Sonderangeboten für Kaffee oder Bananen. Beides sind bevorzugte Fairtrade-Waren. Auf Kaffee allein entfallen 30 Prozent des gesamten Fairtrade-Umsatzvolumens, Bananen und andere Südfrüchte kommen auf ein Zehntel, Lebensmittel allgemein auf gut drei Viertel an den 1,8 Milliarden Euro Branchenumsatz.

Um weit überproportionale 14 Prozent sei wegen des Preisdumpings von Discountern auch der Umsatz mit fair gehandelten Bananen 2020 in Deutschland zurückgegangen, kritisiert FFH.

Wenn Discounter fair gehandelten Produkten mit solchen Methoden das Wasser abgraben, treffe dieses Gebahren gezielt Erzeuger:innen im globalen Süden dieser Welt, warnt FFH-Chefin Andrea Fütterer. Ihr Verband fordert deshalb eine Nachbesserung des jüngst verabschiedeten Lieferkettengesetzes. Ein Verbot für Dumpingpreise auf Lebensmittel müsse dort zusätzlich aufgenommen werden. Freiwillige Absichtserklärungen des Handels hätten in der Realität keinen Bestand. Es dürfe keine Endverbraucherpreise geben, die unter den Erzeugungskosten lägen. Aufgeschlossenheit für diese Forderung im Bundestag gebe es. Vor der Wahl im Herbst werde aber nichts mehr beschlossen. Die neue Regierung müsse sich des Themas annehmen".

Thomas Magenheim-Hörmann in der Frankfurter Rundschau am 15.7.2021

12.07.2021 12:29
Unternehmenssteuer: Fairer und gerechter
„Die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft ist willens, die Steuerflucht von großen Konzernen zu beenden. Das ist eine gute Nachricht“, schreibt Andreas Schwarzkopf in der Frankfurter Rundschau am 12.7.2021. Und weiter:

„Die geplante Mindeststeuer für große Unternehmen ist ein Fortschritt, und zwar trotz der noch zu klärenden Details wie etwa den genauen Start. Am Ende wird nicht entscheidend sein, ob die globale Steuerreform bereits im Herbst oder erst im Frühjahr unter Dach und Fach ist und dann von 2023 an gilt.

Wichtiger ist, dass die überwiegende Mehrheit der internationalen Gemeinschaft mit den ökonomischen Schwergewichten von G7 und G20 willens ist, die Steuerflucht von großen Konzernen zu beenden. Die Umverteilung von Milliarden von Euro jährlich wird es vielen Staaten ermöglichen, mehr in Bildung und sozialen Ausgleich zu investieren. Dieser Schritt trägt also dazu bei, das weltweite Steuersystem ein wenig fairer und gerechter zu machen. All das macht es verschmerzbar, dass die ursprünglich anvisierte Mindeststeuer von 21 Prozent diesmal verfehlt wurde.

In den kommenden Wochen und Monaten wird es darauf ankommen, weitere Hürden aus dem Weg zu räumen. Dabei sollte es keine weiteren Ausnahmen für Wirtschaftszweige geben, wie sie bereits für die Finanzbranche ausgehandelt sind. Außerdem sollten Deutschland und die anderen EU-Staaten alles tun, um die Verweigerer Ungarn, Irland und Estland noch umzustimmen“.

Insofern: ein entscheidender Anfang ist gemacht. Jetzt kommt es auf die konsequente Umsetzung an. Und darum, sofort die von Steueranwälten und Finanzjongleure gefundenen Lücken und Nischen zu finden, die bei den Gesetzestexten und Umsetzungen entstehen. Sie sind dann sofort zu schließen und ein hoher Standard der globalen Mindeststeuer ist nachzuhalten.

05.07.2021 06:02
»Wir haben keine echte Demokratie mehr«
Das sagt das Mitglied des Bundestages, Marco Bülow, im Spiegel-Interview. Er sitzt für >Die Partei< im Bundestag. Er sagt: Das parlamentarische System ist gefährlich verkrustet, Abgeordnete handeln nicht mehr frei nach ihrem Gewissen. Wie will er das ändern? Dazu das Spiegel-Interview:

>>SPIEGEL: Herr Bülow, Sie prangern als Bundestagsabgeordneter seit Jahren fehlende Transparenz in der parlamentarischen Arbeit an. Um mal mit dem Positiven anzufangen: Gibt es aus Ihrer Sicht etwas, was gut läuft im Bundestag?

Marco Bülow: Dass es überhaupt einen Bundestag gibt, ist ja nicht so selbstverständlich, wie viele das vielleicht denken. Es ist ein großes Geschenk, eine Demokratie zu haben, dass es freie Wahlen gibt, dass sich in einem Parlament Fraktionen zusammensetzen und dann – eigentlich – in einen politischen Wettstreit treten können. Ich bin froh und dankbar, dass wir in einem föderalen und parlamentarischen System leben.

Bülow: Was ich kritisiere, ist die heutige Ausprägung unseres parlamentarischen Systems. Dieses System entfernt sich von dem, was im Grundgesetz angedacht war. Und das Parlament entfernt sich von unserer Gesellschaft.

SPIEGEL: Was hat sich denn konkret verschlechtert seit Ihrem Einzug in den Bundestag vor fast 20 Jahren?

Bülow: Der Lobbyismus, speziell der Profitlobbyismus, hat überhandgenommen. Die Macht konzentriert sich auf einige wenige Akteure. Wir erleben einen enormen Machtverlust der Fraktionen gegenüber der Regierung. Böse formuliert: Eigentlich bräuchte es nur einen oder eine Fraktionsvorsitzende, der Rest der Plätze im Bundestag könnte mit Beamten besetzt werden.

SPIEGEL: Weil sie meist geschlossen im Block abstimmen?

Bülow: Die Regierungsfraktionen nicken ab, was kommt. Und die Gesetze kommen fast alle von der Regierung. Oppositionsanträge werden ohnehin nie übernommen – dabei müsste es meinem demokratischen Verständnis nach viel mehr Austausch zwischen Regierung und Opposition geben, viel mehr Zusammenarbeit und Abstimmungen über Fraktionsgrenzen hinweg.
Alle Artikel zu Republik 21

Bis zur Bundestagswahl nehmen wir uns nacheinander große Fragen aus Politik und Gesellschaft vor – und laden zum Diskutieren und Mitmachen ein. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage: Wie wird Deutschland gerechter?

SPIEGEL: Aber das gibt es doch auch.

Bülow: Viel zu selten kommt das vor – das letzte Mal bei der Ehe für alle. Da aber auch nur, weil die Kanzlerin die Abstimmung zur Gewissensfrage gemacht hat. Was ja schon nahezu pervers ist: dass die Kanzlerin entscheidet, was eine Gewissensfrage ist, und nicht der Abgeordnete.

SPIEGEL: Nun findet ja auch in den Fraktionen vor einer Abstimmung ein Meinungsbildungsprozess statt, an dem der einzelne Abgeordnete beteiligt ist. Die Fraktionsdisziplin sichert auch die Arbeitsfähigkeit des Parlaments.

Bülow: Es muss eine Solidarität geben, aber beidseitig und ohne Zwang. Denn derzeit ist es so: Wer sich dem Fraktionszwang widersetzt, wer allein versucht, andere Mehrheiten zu suchen, wird abgestraft – ist schnell der Außenseiter. Wegen des Zwangs auch innerhalb der Koalition und weil ja das öffentliche Bild der Geschlossenheit gewahrt werden soll, werden am Ende höchstens Nuancen an der Regierungsvorlage geändert.
»Wer sich dem Fraktionszwang widersetzt, ist schnell der Außenseiter.«

SPIEGEL: Sie sind 2018 aus der SPD-Fraktion ausgetreten. Haben Sie dadurch nicht den Einfluss eingebüßt, den es braucht, um Veränderungen anzustoßen?

Bülow: Nein. In der SPD-Fraktion habe ich zunehmend gegen Windmühlen gekämpft. Ich bin sogar der Überzeugung, dass ich heute mehr Gestaltungsspielraum habe als früher. Ich habe alle Wege, die ein Abgeordneter beschreiten kann, versucht. Ich war Sprecher für Umweltpolitik, habe eigene Anträge eingebracht und versucht, Mehrheiten zu organisieren. Ich habe vor 14 Jahren auf einem Parteitag zusammen mit meinem SPD-Kollegen Frank Schwabe einen Mehrheitsbeschluss erreicht, dass sich die Partei für ein Tempolimit einsetzt. Seitdem ist das Tempolimit nicht ein einziges Mal von der SPD in Koalitionsverhandlungen hineingetragen worden. Mit anderen Worten: Was ein Parteitag beschließt, interessiert überhaupt nicht.

SPIEGEL: Und in einer Satirepartei, die selbst nicht sicher ist, ob politische Mandate ihrem Wesen widersprechen, und deren öffentliche Wahrnehmung vor allem von einem Mann, Martin Sonneborn, geprägt wird, fühlen Sie sich besser aufgehoben?

Bülow: Ja. Es ist ehrlicher und offener. Hier findet eine größere Vielfalt ihren Platz und es läuft nicht stromlinienförmig und so strukturkonservativ ab wie bei den anderen Parteien. Natürlich ist es auch spannend und nicht vorhersehbar, was passiert. Satire ist nur eine Facette, die wir brauchen, aber gegenüber der teilweise absurden und inszenierten Politik ist sie fast schon seriös.
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SPIEGEL: Der damalige Grünenabgeordnete Gerhard Schick und Sie haben 2013 einen Transparenzkodex entworfen, dem sich nur 40 der 709 Abgeordneten im aktuellen Bundestag angeschlossen haben. Warum haben Sie nicht mehr von denen erreicht?

Bülow: Wir haben damals völlig unterschätzt, wie schwer es ist, so etwas fraktionsübergreifend zu machen. Ich habe 2019, damals noch als Parteiloser, mit der Aktion »re:claim the house« die Klimabewegung in den Bundestag geholt und dazu alle Fraktionen eingeladen. Ich habe gesagt: Ihr könnt da hinkommen und diskutieren, ohne dass ich das parteimäßig für mich ausschlachten kann. Das hat am Anfang sogar funktioniert, die Abgeordneten sind dann aber relativ schnell wieder weggeblieben.

SPIEGEL: Ihre Erklärung?

Bülow: Alles ist der Parteitaktik unterworfen. Eine Partei lässt die Finger von so etwas, wenn sie sich den Erfolg nicht auf die eigene Fahne schreiben kann. Höchstens einzelne Abgeordnete halten sich manchmal nicht daran. Wenn die dann aber sagen: »Ich will mit der Klimabewegung reden«, heißt es aus ihrer Fraktion: »Tu das, aber nicht parteiübergreifend«. Dabei war es für die Klimabewegung ja gerade spannend, fraktionsübergreifend zu reden. Aber das politische System ist zu verkrustet, um so etwas zuzulassen.

SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch »Lobbyland« fordern Sie, dieses System zu sprengen. Wie stellen Sie sich das vor?

Bülow: Als Erstes gehört der Fraktionszwang abgeschafft. Jeder Abgeordnete bricht praktisch in jeder Sitzungswoche das Grundgesetz, weil er eben nicht wie dort vorgeschrieben seinem Gewissen, sondern dem Fraktionsvorsitzenden oder der Regierung folgt. Natürlich ist immer schwer zu fassen, wo die Gewissensfreiheit anfängt und wo sie aufhört. Aber das Problem ist so offensichtlich, Abgeordnete sagen ja oft genug frei heraus, dass sie so oder so abgestimmt haben, weil das im Koalitionsvertrag steht. Die Verfassung sieht das aber so nicht vor. Außerdem brauchen wir als dritte Säule neben Regierung und Bundestag eine Mischung aus direkter Demokratie und Bürgerräten, die ich aber mit dem Parlament verweben möchte.
»Alles ist der Parteitaktik unterworfen.«

SPIEGEL: Was heißt das?

Bülow: Bürgerräte sollten nicht nur Empfehlungen abgeben, die mal wieder kaum jemanden interessieren werden. Sie sollten Vorgaben entwickeln, die dann in den Parlamenten abgestimmt werden müssen. Dies erlaubt der Bevölkerung eine direkte Einflussnahme außerhalb der Wahlen. Ich finde es unglaublich wichtig, dass die Menschen wieder denken: Ich kann mitbestimmen. Als die Volksparteien früher – ich kenne das aus meinem Wahlkreis Dortmund gut – noch viel mehr Mitglieder hatten und aktiv am Leben in den Kommunen teilgenommen haben, hat das zum Teil noch funktioniert. Inzwischen haben die Parteien in Deutschland aber mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder verloren. Und die, die noch da sind, sind zu zwei Dritteln über 60.

SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, dass Sie sich für eine echte Demokratie einsetzen wollen. Behaupten Sie ernsthaft, dass wir in Deutschland keine echte Demokratie mehr haben?

Bülow: Ganz genau: Wir haben keine echte Demokratie mehr. Verstehen Sie mich nicht falsch: Man kann Deutschland nicht mit Ungarn oder anderen, autoritär regierten Ländern vergleichen. Aber eine echte Demokratie bedeutet für mich, dass Abgeordnete transparent arbeiten, dass sie nach ihrem Gewissen handeln und dass die Bevölkerung der wirkliche Souverän ist, sozusagen der Chef der Abgeordneten. Bei uns konzentriert sich alles auf Wahlen, die Parteien sind aber nicht mehr verwurzelt in der Gesellschaft. Wir haben genug Gegner, die die Demokratie angreifen. Sie muss verteidigt, aber auch immer wieder neu ausgefochten und weiterentwickelt werden.

SPIEGEL: Aus »Lobbyland« soll auch eine Initiative entstehen: Soll das so etwas werden wie die Bürgerbewegung Finanzwende, die ihr früherer Kollege Schick gegründet hat?

Bülow: Schöne Idee, aber so weit sind wir noch nicht. Mal sehen, was daraus wird.<<

Spiegel-Interview von Okan Bellikli vom 04.07.2021

Marco Bülow, Jahrgang 1971, ist 2018 nach 26 Jahren aus der SPD ausgetreten. Seit 2020 ist der fraktionslose Abgeordnete Mitglied der Satirepartei Die PARTEI und kandidiert im September erneut für den Bundestag. Der gebürtige Dortmunder hat seinen Wahlkreis seit seinem Einzug ins Parlament vor 19 Jahren immer direkt gewonnen. Von 2005 bis 2009 war er umweltpolitischer Sprecher und von 2009 bis 2013 stellvertretender energiepolitischer Sprecher der SPD-Fraktion.

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