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21.11.2023 12:24
Wenn es um Unfairness und Fairness geht – frühzeitig den Anfängen wehren  

Beleidigung, Bedrohung, sogar Schläge: Jeder vierte Beschäftigte erlebt Gewalt am Arbeitsplatz. Hier spricht der Autor und Dozent Holger Pressel darüber, warum Betroffene häufig schweigen und was Chefinnen und Kollegen tun können. Maren Hoffmann von Spiegel-Online interviewt dazu Holger Pressel*, Leiter der Stabsstelle Politik bei der AOK Baden-Württemberg:

SPIEGEL: Kürzlich meldete der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), dass 64 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Beleidigungen, Bedrohungen und körperlichen Angriffen im Job berichten. Wie verbreitet ist Gewalt am Arbeitsplatz?

Pressel: Es gibt Daten von der gesetzlichen Unfallversicherung, denen zufolge es jedes Jahr zwischen 10.000 und 20.000 sogenannte Gewaltunfälle gibt, die zu einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen führen. Beschäftigte im öffentlichen Dienst sind rund dreimal so oft betroffen wie andere Erwerbstätige.

SPIEGEL: Das ist viel. Was gilt denn alles als Gewalt am Arbeitsplatz?

Pressel: Laut einer Definition der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen, ILO, wenn jemand im Kontext seiner Arbeit beleidigt, bedroht oder körperlich angegriffen wird. Insbesondere bei psychischer Gewalt gibt es aber Grauzonen, wie etwa Kränkungen.

SPIEGEL: Die ILO hat im vergangenen Jahr eine Untersuchung veröffentlicht, der zufolge ein Viertel der Beschäftigten weltweit schon selbst Gewalt am Arbeitsplatz erlebt hat. Gibt es besonders gefährdete Gruppen?

Pressel: Ja. Die gesetzliche Unfallversicherung sammelt Daten darüber. Besonders betroffen sind Beschäftigte in Wach- und Sicherheitsdiensten, in Bahnbetrieben sowie im Gesundheits- und Sozialwesen, speziell in Heimen und Psychiatrien. Man kann unterscheiden zwischen betriebsinterner Gewalt und Gewalt von Betriebsfremden – etwa, wenn Kunden sich über lange Wartezeiten oder verweigerte Leistungen ärgern und die Situation eskaliert. Bei betriebsinterner Gewalt sind es in der Regel andere Gründe: Kränkung oder Beleidigung, Neid, Eifersucht und Missgunst sowie Stress.

SPIEGEL: Welche Rolle spielt Hierarchie?

Pressel: Zumindest psychische Gewalt wird eher von oben nach unten ausgeübt – es gibt Studien, die zeigen, dass in über der Hälfte der Mobbingfälle Führungskräfte beteiligt sind. Diese mobben entweder selbst oder dulden, dass gemobbt wird. In diesen Fällen spricht man von Bossing. Und in der Folge kann es dann zu einer Umkehrung der Gewalt kommen: Jemand entscheidet sich dann, es dem oder den anderen heimzuzahlen. Rache ist kein seltenes Motiv bei Gewalt im Betrieb.
SPIEGEL: Haben Sie ein Beispiel?

Pressel: In einer Bank hatte eine Führungskraft ihren Titel als Direktor eines Geschäftsbereichs verloren. Ein herber Statusverlust. Diese Person hat für diesen Titel gekämpft, beim Betriebsrat, bei der Personalabteilung, stieß aber überall auf taube Ohren. Und fasste dann den Plan, sich an seinem Nachfolger zu rächen. Der Ex-Direktor hat dann ein Flugblatt gefälscht, auf dem angeblich die Polizei warnte, sein Nachfolger sei ein wegen Sexualdelikten an Kindern vorbestrafter Täter. Das Flugblatt verteilte er anonym in dessen Nachbarschaft.

SPIEGEL: Und dann?

Pressel: Zunächst flog er nicht auf. Und zeigte auch noch den Betriebsrat wegen angeblicher Unterschlagung an, weil er sich nicht unterstützt gefühlt hatte. Als auch das keinen Erfolg hatte, warf er von einer Brücke aus Steinplatten auf Autos. Dabei wurde er beobachtet – und erst dann kam alles heraus, weil die Polizei bei der Hausdurchsuchung auch das Flugblatt fand. Letztlich war der Ausgangspunkt von allem die Kränkung durch den Verlust des Jobtitels.

SPIEGEL: Kann man aus so extremen Geschehnissen irgendetwas lernen?

Pressel: Durchaus. Auch kleinere Eskalationen funktionieren oft nach ähnlichen Mustern. Das eine ist: Wehret den Anfängen. Das beginnt mit der Frage, wen man überhaupt einstellt. Einiges kann man schon aus dem Arbeitszeugnis lesen. Wenn dasteht, „Herr XY arbeitete lieber für sich allein als im Team“ oder „er legte sehr viel Wert auf die Durchsetzung seiner Meinung“, dann wird klar, dass dieser Herr XY nicht unbedingt der Inbegriff der sozialen Kompetenz und Teamfähigkeit ist.

SPIEGEL: Da sollten also die Alarmglocken schrillen.

Pressel: Unbedingt. Auch Referenzen von früheren Arbeitgebern sind wichtig. Und Leute zeigen im Vorstellungsgespräch oft überraschend offen, wie sie ticken. Wenn man jemanden bittet, den bisher besten und den schlechtesten Vorgesetzten zu beschreiben, und ihm fällt beim besten nichts ein, aber beim schlechtesten kommt eine Schimpftirade – das ist schon ein Warnsignal.

SPIEGEL: Im Vorstellungsgespräch reißen sich doch aber viele noch zusammen. Was ist denn, wenn es später kracht?

Pressel: Im Sinne der Prävention sind Kommunikation und Wertschätzung zentral. Ein wichtiger Punkt ist: Schweigen heißt dulden. Schon wenn sich jemand im Ton vergreift, muss man die Person ansprechen. Manchmal kracht es auch erst bei einer Trennung. Auch dabei ist Wertschätzung der zentrale Punkt. Viele Arbeitgeber legen Wert auf ein gutes Onboarding, aber viel weniger auf das Offboarding. Wenn das schlecht läuft, kann es schnell zu Kränkung und letztlich zu Rachegefühlen führen. Wichtig ist, dass man Warnsignale früh erkennt.
„Es braucht eine Unternehmenskultur, in der sich alle verantwortlich fühlen und füreinander Sorge tragen“

SPIEGEL: Was können denn Warnsignale im Alltag sein?

Pressel: Schon kleine Anzeichen wie etwa Veränderungen im Verhalten. Was ist mit der Kollegin los, die früher immer beim Mittagessen dabei war und jetzt nicht mehr mitkommt und sich völlig zurückzieht?

SPIEGEL: Und wie sollte ich reagieren, wenn mir so etwas auffällt?

Pressel: Sprechen Sie die Person an! Sagen Sie in einer ruhigen Situation, was Ihnen aufgefallen ist. Menschen sind häufig dankbar dafür. Oft öffnen sie sich dann und erzählen, was los ist.

SPIEGEL: Was mache ich, wenn ich als unbeteiligte Person einen Konflikt im Team mitbekomme? Die Sache geht mich ja erst einmal nichts an, wenn sich da zwei Kollegen in die Haare kriegen.

Pressel: Es ist die Frage, ob Sie das wirklich nichts angeht. Sie sind auch Teammitglied. Da gibt es keine unbeteiligten Personen, weil alle ein Interesse daran haben sollten, dass es allen im Unternehmen gut geht. Ich würde es dann schon als meine Aufgabe empfinden, der Führungskraft einen vertraulichen Hinweis zu geben, dass es ein Problem gibt. Die Führungskraft hätte dann zunächst zwei Einzelgespräche zu führen und sich die jeweilige Sicht der Dinge schildern lassen. Auf keinen Fall zielführend ist es, wenn die gekränkte Person selbst nichts artikuliert und die Kollegin oder der Kollege auch nicht. So wird das Problem nicht gelöst, und die negativen Gefühle verhärten sich – mit unabsehbaren Folgen.

SPIEGEL: Wessen Aufgabe ist es, eine Lösung zu suchen? Ist das Chefsache oder kollegiale Verantwortung?

Pressel: Das betrifft alle. Es braucht eine Unternehmenskultur, in der sich alle verantwortlich fühlen und füreinander Sorge tragen. Generell ist in sehr hierarchisch geprägten Unternehmen Gewalt weiterverbreitet als in flachen Hierarchien.

SPIEGEL: Warum?

Pressel: In hierarchischen Unternehmen kann sich eher ein Klima der Angst entwickeln. Oft fällt es deutlich schwerer, Missstände anzusprechen, weil man Sanktionen befürchtet. Die psychologische Sicherheit fehlt.

SPIEGEL: Kommen wir noch einmal auf die ILO-Studie zurück. Nur die Hälfte der Opfer von Gewalt am Arbeitsplatz spricht über das, was ihnen widerfahren ist.

Pressel: Und das ist schon viel. Es gibt eine andere Studie aus dem vergangenen Jahr, da hat die Hochschule Speyer speziell den öffentlichen Dienst untersucht. Es kam heraus: Nur rund ein Drittel der Gewaltvorfälle wurden überhaupt gemeldet.

„Die attackierte Person muss merken, dass sie nicht allein gelassen wird“

SPIEGEL: Warum so wenige?

Pressel: Die Antwort ist ernüchternd: Weil sich die Opfer von Gewalt nichts davon versprechen, den Fall zu melden. Die denken: Es ändert sich ja eh nichts.

SPIEGEL: Das sagt auch der Opferverband Weißer Ring: Betroffene würden viel zu oft von ihren Arbeitgebern und Dienstherren allein gelassen; es gebe kaum Maßnahmen zur Gewaltprävention, aber auch kaum zur Nachsorge.

Pressel: Nachsorge muss vor allem sehr, sehr rasch sein. Ich rede nicht von der medizinischen Versorgung körperlicher Verletzungen, das ist ja ohnehin selbstverständlich. Auch die psychische Betreuung sollte schnell greifen. Der Begriff „Psychologische Erstbetreuung“ ist insofern irritierend, als die Leute, die Unterstützung leisten sollen, gar keine Psychologen sein müssen. Die attackierte Person muss merken, dass sie nicht allein gelassen wird. Dafür braucht man kein Studium. Da reichen Empathie, Kollegialität und Fürsorge. Im weiteren Verlauf müssen dann bei Bedarf natürlich Profis übernehmen, etwa um posttraumatische Belastungsstörungen zu verhindern.

SPIEGEL: Im Zuge der Coronapandemie hat sich die Arbeitswelt grundlegend verändert. Die meisten Unternehmen arbeiten hybrid, es sind nicht mehr alle zugleich im Büro. Werden die Gewaltprobleme größer oder kleiner?

„Wenn jemand sich entschieden hat, sich an seinem Peiniger zu rächen, dann kann man nichts mehr deeskalieren.“

Pressel: Mobiles Arbeiten ist generell eine gute Sache, aber unter Gewaltpräventionsaspekten sehe ich die hybride Arbeitswelt eher kritisch. Warnsignale kommen schwerer an, wenn Leute sich im Extremfall wochenlang gar nicht persönlich sehen.

SPIEGEL: Was können Führungskräfte tun, wenn sie den Eindruck haben, dass sich einzelne Mitarbeitende auffällig verhalten?

Pressel: Aufmerksam sein. Wenn einer sich zwar bei Videomeetings einloggt, aber auf einmal gar nicht mehr aktiv teilnimmt – da würde ich schon eine Veranlassung sehen, ein Vieraugengespräch mit dieser Person zu suchen. Auf keinen Fall aber vor versammelter Mannschaft.

SPIEGEL: Wenn die Stimmung schon am Kochen ist – wie gelingt Deeskalation?

Pressel: Man muss unterscheiden zwischen Deeskalation und Bedrohungsmanagement. Deeskalieren kann man bei sogenannter heißer Gewalt: Da ist die Stimmung akut aufgeheizt, jemand regt sich auf und handelt im Affekt. Solche Leute muss man anders ansprechen als die, die das Stadium der kalten Gewalt erreicht haben: Da passiert Gewalt nicht im Affekt, sondern geplant, vorsätzlich, kaltblütig.

SPIEGEL: Hat man da noch eine Chance auf eine friedliche Konfliktlösung?

Pressel: Wenn jemand sich entschieden hat, sich an seinem Peiniger zu rächen, dann kann man nichts mehr deeskalieren. Solche Gefahren beziehungsweise die Vorboten von Gewalt sollte man möglichst im Vorfeld erkennen. Sollte von einer Person im Betrieb wirklich Gefahr ausgehen, dann müssen auch hier Profis ran. Die Polizei hat eine beeindruckende Quote mit sogenannten Gefährderansprachen: In ungefähr 95 Prozent der Fälle führt allein das Reden mit dem potenziellen Gefährder dazu, dass dieser seine Pläne nicht umsetzt – weil er weiß, dass er auf dem Radar ist.

*Holger Pressel ist promovierter Politik- und Verwaltungswissenschaftler und leitet die Stabsstelle Politik bei der AOK Baden-Württemberg. Nebenberuflich ist er als Dozent tätig und publiziert über das Thema „Arbeitsplatz: Prävention - Deeskalation – Nachsorge“. Zuletzt erschien im Haufe Verlag sein Buch „Umgang mit Gewalt am Arbeitsplatz: Prävention - Deeskalation – Nachsorge“.

Zur Etablierung einer fairen und gewaltpräventiven Unternehmens- und Organisationskultur: Norbert Copray: Fairness – Schlüssel zu Kooperation und Vertrauen“. https://www.fairness-stiftung.de/Buecher-Podcast.htm

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