Im Schatten der Pandemie stecken Grundrechte und Demokratie folgenschwere Rückschläge ein. Schreibt die FR-Redakteurin Ursula Rüssmann heute in ihrem Leitartikel „Fataler Reformstau“ in der Frankfurter Rundschau. Sie macht deutlich, wie vollmundige Versprechen seitens der Politik besonders nach akuten Vorfällen von Diskriminierung und das politische Handeln überhaupt nicht zusammenpassen. So tragen die politischen Instanzen entgegen ihren Behauptungen dazu bei, die Zivilgesellschaft auszuhungern, zu schwächen und in der Anfeindung stehen zu lassen. Für den Zusammenhalt unternehmen die politisch Verantwortlichen zu wenig bis nichts. Rüssmann schreibt: >>Es war Anfang April eher eine Randnotiz in den Medien: Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) hatte ihre telefonische Beratung wegen Überlastung eingestellt, schon seit Wochen. Denn die Zahl derer, die wegen Benachteiligung Hilfe suchen, hatte sich 2020, auch durch Corona, verdoppelt. Mehr Berater:innen aber bekam die Behörde nicht. Vernachlässigung von Hilfestrukturen für Diskriminierungsopfer, und niemand schaut hin?
Der Fall ist symptomatisch für die grundrechtlichen und demokratiepolitischen Rückschläge, die das Land gerade erleidet. Im Schatten der Pandemiebekämpfung baut sich riesiger Reformstau auf, werden Defizite vergessen, die längst behoben sein sollten.
Dafür gibt es viele Beispiele, aber zunächst zur ADS, die Menschen helfen soll, wenn sie wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Neigung benachteiligt werden. Bei der Institution liegt auch strukturell viel im Argen. Europarat und EU-Kommission fordern schon länger, die Unabhängigkeit der nationalen Beratungsstellen müsse gestärkt werden, aber davon ist Deutschland Lichtjahre entfernt.
Neulich kamen die Probleme bei einer Anhörung im Bundestags-Familienausschuss auf den Tisch: Leitung seit 2017 (!) unbesetzt; krasse Unterfinanzierung. Schweden gibt 1,10 Euro pro Kopf für seine nationale Gleichbehandlungsstelle aus, Deutschland nur sechs Cent. Es fehlt an einem Verbandsklagerecht; die Klagefristen sind zu kurz. Und: Die ADS kann zu wenig bewegen, weil sie – anders als etwa der Bundes-Datenschutzbeauftragte – keine unabhängige Behörde ist, sondern Teil des Familienministeriums.
Dabei wäre eine Gleichbehandlungsstelle mit Schlagkraft dringend nötig, um auch institutionelle Diskriminierungen abzubauen. Das sieht man etwa beim Kampf gegen „Racial Profiling“, also gegen gezielte Polizeikontrollen von Menschen anderer Hautfarbe. Die vom Innenministerium angekündigte Polizeistudie spart das Reizthema bekanntlich aus, weil Minister Horst Seehofer es nicht will. Bei den Planungen zur Studie hat das Ministerium die ADS nicht mal konsultiert. Stimmen, die das anprangern, finden pandemiebedingt kaum Gehör.
Der Kampf gegen Rassismus stockt auch an anderer Stelle, die Einsichten, die auf den rechten Terror von Hanau und Halle folgten, scheinen fast wieder vergessen. So ist es ein dramatischer Rückschlag, dass die Union vor einigen Wochen das Wehrhafte-Demokratie-Gesetz im Kabinett blockierte.
Das Gesetz gehört zu den Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Rassismus, zu denen sich die Konservativen nach Hanau durchgerungen hatten. Es wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen seit Jahren herbeigesehnt, damit ihre Basisarbeit gegen rechts und die Opferberatung endlich abgesichert sind und sie nicht mehr am Tropf befristeter Projektmittel hängen.
Wird es nun verwässert und verschleppt, ist der Schaden kaum zu überschauen. Auch wenn das Kabinett jetzt Mai für den Beschluss anvisiert: Viel hängt davon ab, ob die Union ihren populistischen Plan einer „Extremismusklausel“ durchsetzt, nach der alle Geförderte ein Bekenntnis zur freiheitlichen Grundordnung ablegen sollen. Das stellt die Initiativen gegen rechts unter Generalverdacht, und es würde zum Einfallstor für die Ausgrenzung linker Projekte. Die Chancen schwinden, dass das Gesetz vor der Wahl kommt. Für die Angehörigen der Opfer rechten Terrors ist das ein weiterer Schlag ins Gesicht. Auf die traurige Liste gehört übrigens auch die Reform des Gemeinnützigkeitsrechts vom Winter. Zwar gehen jetzt auch Klimaschutz und einiges andere als gemeinnützige Vereinszwecke durch, aber das Parlament hat sich geweigert, auch politisches Engagement für gemeinnützige Ziele abzusichern. Für Dorfverschönerung kann man künftig steuerbegünstigt spenden, aber nicht für eine Bürgerinitiative, die sich in die Wohnungsbauplanung einmischt. Damit agieren viele Organisationen weiter am Rand der Existenzbedrohung, ihre Kräfte werden (siehe Attac) teils jahrelang gebunden durch Konflikte mit Finanzbehörden.
Es gäbe weitere Beispiele. Allen gemeinsam ist: Stillstand und Rückschritt treffen uns alle, nicht nur ein paar Aktivist:innen und Gruppen. Die Reformverweigerung lähmt eben die, die für sozialen Ausgleich, Chancengleichheit, Minderheitenrechte eintreten. Diejenigen also, die täglich für die Demokratie arbeiten.
Ihnen kommt eine wichtige Rolle zu – erst recht nach der Pandemie, angesichts der sich schon abzeichnenden gesellschaftlichen und ökonomischen Spaltungen und Verteilungskämpfe. Ohne eine starke und hörbare Zivilgesellschaft wird der angeknackste innere Zusammenhalt in diesem Land nur schwer zu erhalten sein“.
Es mangelt der Spitzenpolitik an hartnäckigem, zugesagtem und wirksamem Einsatz für gesellschaftliche Fairness.
"Wie steht es um Ihre Fairness-Kompetenz?"
"Fataler Reformstau"
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