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19.05.2023 10:09
Missbrauchte Medizin - zerstörte Medizin  

„Es ist unerträglich für mich, wenn Medizin missbraucht wird“. Sagt der Mediziner Bernd Hontschick.

Aus Anlass seiner 300. Kolumne in der Frankfuter Rundschau am 13. Mai 2023 sprach der Arzt Bernd Hontschik mit Boris Halva über gierige Pharmakonzerne, autoritäre Strukturen in Arztpraxen – und Briefe, die zu Herzen gehen.

Herr Hontschik, heute erscheint Ihre 300. Diagnose in der FR – und Themen gibt’s nach wie vor reichlich. Wünschen Sie sich manchmal, es wäre anders?

Es wäre schön gewesen, wenn der eine oder andere Missstand zwischenzeitlich behoben worden wäre. Aber in den 16 Jahren, die ich jetzt Kolumnen schreibe, hat sich an den großen Themen überhaupt nichts verbessert. Mir fällt nur eine einzige gute Meldung ein: die Abschaffung der leidigen Praxisgebühr. Mir werden die Themen also nicht ausgehen.

Welches Thema treibt Sie bis heute am stärksten um?

Ich bin entsetzt darüber, wie Medizin kaputtgemacht wird. Im Krankenhaus gehen die Patienten als Menschen unter, werden zu Werkstücken, die durch Produktionsstraßen geschoben werden – ein Horror für die Patient:innen, ein Horror für die professionellen Helfer:innen, die zunehmend auf der Flucht sind. Das finde ich entsetzlich! Im Kern geht es mir immer darum, dass das Gesundheitswesen Teil der staatlichen Daseinsfürsorge bleiben muss, dass private Investoren da nichts zu suchen haben. Ich plädiere immer wieder für die allgemeine Bürgerversicherung und die Abschaffung der privaten Krankenversicherungen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens treibt mich auch um, weil Datenschutz und Schweigepflicht als vorgestrig diffamiert werden und hinten runterfallen.

Hat das Schreiben Ihren Blick auf die Welt verändert?

Den Blick auf die Welt vielleicht nicht, aber es ist eine Art Filter, mit der ich Nachrichten aufnehme. Ich finde Themen oder Zusammenhänge auch dort, wo man sie erstmal nicht vermutet. So zum Beispiel bei der Kolumne „Brick Lane“, die ich 2008 geschrieben habe. Ich hatte einen Bericht im Radio über diese Straße in London gehört, in der die Laternenpfähle mit Schaumstoff ummantelt wurden, weil immer wieder Menschen dagegen gelaufen sind, die nur aufs Handy geschaut haben, und sich teils so schwere Kopfverletzungen zugezogen haben, dass sie in die Klinik mussten. Das habe ich zum Anlass genommen, in einer Kolumne den Unterschied von Vorsorge und Früherkennung klar zu machen. Ein ernstes Thema, aber dennoch unterhaltsam aufbereitet.

Wer Ihre Kolumnen regelmäßig liest, weiß: „Vorsorge“ ist eines Ihrer Reizthemen...

Ja, und es regt mich bis heute auf, wenn gesagt wird, man solle zur Krebsvorsorge gehen. Gegen Krebs kann ich höchstens vorsorgen, indem ich aufhöre, zu rauchen. Aber wenn ich eine Koloskopie mache oder mir die Brust röntgen lasse, dann ist das keinerlei Vorsorge, sondern Früherkennung – in der Hoffnung, dass ein früh erkannter Tumor behandelbar ist, was leider auch nicht immer stimmt. Und wenn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass eine Früherkennung auch schädlich sein kann, was die Medien zumeist ignorieren, dann schreibe ich eine Kolumne darüber, und wenn es sein muss, auch noch eine und noch eine. Mein Anspruch ist Information und Aufklärung.

Leitlinien gehören auch zu den Dingen, die Sie umtreiben...

Leitlinien sind nichts Schlechtes, sie waren ja dazu gedacht, dass man einen Behandlungskorridor eröffnet auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie werden aber leider allzu oft verwechselt mit Handlungsvorschriften und dazu missbraucht, abweichende Ideen und Meinungen zu diskreditieren. Das regt mich auf, denn die Behandlung von Menschen ist etwas höchst Individuelles. Wenn die Medizin nur eine Anwendung von Leitlinien wäre, dann bräuchte man ja keine Ärztinnen und Ärzte.

Je individueller medizinische Behandlung ist, desto schwerer ist sie zu kalkulieren. Und das wird beim Lesen Ihrer Kolumnen auch deutlich: Geld und Medizin können eine ungesunde Wechselwirkung haben.

Wenn man finanzielle Anreize für bestimmte medizinische Anwendungen setzt, dann ist Medizin korrumpiert. Dann geht es nur noch um Gewinne, und das ist doch nicht das Ziel von Medizin. Seit es Fallpauschalen gibt, haben sich die Zahlen etwa bei Hüft- oder Rückenoperationen teils verdoppelt – und das ganz sicher nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus pekuniären. Die Bezahlung ist ein riesiges, ungelöstes Problem. Da hilft auch die Debatte über eine Bezahlung nach Qualität nichts.

Weil da erstmal zu klären wäre: Was ist Qualität?

Eben, und Qualität kann man nicht messen, denn dann handelt es sich um Quantität! Wenn ich sage, dass es zu meinen besten chirurgischen Leistungen gehörte, Menschen zu empfehlen, sich nicht operieren zu lassen, wie soll mir das vergütet werden? Wie bezahlen Sie mich, wenn ich mit meiner ganzen Erfahrung und Qualifikation und gemeinsam mit meinem Patienten zu dem Schluss komme, dass es am besten ist, nichts zu tun?

Das Thema Bezahlung behandeln Sie auch immer wieder. Ihre 100. Kolumne, in der Sie sich 2011 mit den sogenannten Igel-Leistungen befasst haben, endet mit dem Satz, dass Sie sich angesichts dieser Praktiken für Ihre Zunft schämen. Kommt das öfter vor?


Ja, leider! Ich habe mich in meiner aktiven Zeit als Chirurg in einem Netzwerk von Ärzten und Ärztinnen aller Fachrichtungen bewegt, mit denen ich gut zusammenarbeiten konnte, aber ich habe doch auch immer wieder gehört, dass Patientinnen und Patienten entweder abgezockt oder überhaupt nicht angeschaut, sondern mit Rezepten, Überweisungen oder Einweisungen abgefertigt wurden. Es war teilweise haarsträubend, was mir die Menschen über ihre Erlebnisse berichtet haben. Vor allem hat mich schockiert, dass manchen gesagt wurde, wenn sie sich nicht an die Anweisungen des Arztes halten, würden sie nicht weiter behandelt. Es gibt in meiner Zunft nicht wenige, die total autoritär strukturiert sind und sagen: Wer nicht gehorcht, fliegt raus!

Glauben Sie nicht, dass mit dem Nachrücken der nächsten Generation ein Wandel stattgefunden hat? Sie haben 2009 geschrieben, dass „eine Dominanz der männlichen Symptome in den Köpfen von Ärztinnen und Ärzten“ vorherrscht und viele Frauen daher falsch behandelt würden – aber bei diesem Thema ist im zurückliegenden Jahrzehnt viel Bewegung reingekommen.

Ich habe seit 2009 mehrfach über Gendern in der Medizin geschrieben. Da hat sich viel getan, das stimmt, vor allem bei der Einsicht, dass Frauen keine kleinen Männer sind, sondern völlig andere Symptomatiken haben, etwa beim Herzinfarkt, dass sie auf manche Medikamente ganz anders reagieren und dass sie ganz andere Gelenke haben, also auch ganz andere Gelenkersatzprothesen brauchen als Männer. Frauen sind in der Medizin überhaupt auf dem Vormarsch. Es gibt längst deutlich mehr Medizinstudentinnen als –studenten. Die Medizin wird davon profitieren. In Berlin gibt es einen Lehrstuhl für frauenspezifische Gesundheitsforschung. Und nicht ohne Grund wird an vielen medizinischen Fakultäten inzwischen Kommunikation gelehrt. Männer haben sich all die Jahrzehnte zuvor dergleichen nicht ausgedacht.

Bei welchen Themen wiederum hat sich so gar nichts getan?

Bei der Krankenversicherung hat sich nichts getan, der Weg in die Bürgerversicherung ist immer noch verschlossen und es können sich immer noch zehn Prozent Gutverdienende in der privaten Krankenversicherung aus der Solidarität verabschieden, ein Skandal. Auch beim Thema Privatisierung ist kein Umdenken zu sehen, im Gegenteil, das wird immer schlimmer. Konzerne machen sich nicht mehr nur in Kliniken breit und locken mit hohen Dividenden, sondern auch der ambulante Bereich wird zunehmend privatisiert. Was hat ein kanadischer Lehrerpensionsfond für ein Interesse an unserer Gesundheit? Warum wohl besitzt dieser Fond über 100 Augenarztpraxen und medizinische Versorgungszentren in Deutschland? Und dann gibt es Zweige, die mindestens genauso wichtig sind, die Kinderheilkunde zum Beispiel, aber dort schreibt man rote Zahlen. Um die Kinderheilkunde kümmert sich kein Investor. Auch ein großer Skandal ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die in der geplanten Form niemand anderem nutzen wird als der IT-Industrie.

Was fühlen Sie häufiger: Wut oder Verzweiflung?

Ich bin schon manchmal verzweifelt über die zunehmende Destruktion unseres Gesundheitswesens. Verhältnisse wie in den USA sind nicht mehr fern, wo Gesundheitsversorgung eine Frage des Geldes ist. Aber es sind trotzdem erstmal andere Dinge, die mich an den Rand der Verzweiflung bringen. Die Verkehrspolitik, die Klimakrise, und jetzt ist auch noch Krieg in Europa! Das sind Anlässe, wirklich verzweifelt zu sein, denn davon sind wir alle betroffen, ob krank oder gesund. Da kann man das Gesundheitswesen hinten anstellen. Aber man kann schon auch wütend werden, wenn man mit anschauen muss, wie Gemeineigentum urplötzlich nur noch dem Reichtum weniger dient.

Apropos Wut: Mit wem legen Sie sich lieber an – mit Pharmakonzernen oder den Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik?

Was den Pharmabereich angeht, hat man in der Coronapandemie gesehen, welche unglaubliche Macht die Konzerne haben. Sie haben nicht nur mit Steuergeld die Impfungen entwickelt und dann später die Preise diktiert, sondern haben sich von jeder Verantwortung befreien lassen, für unerwünschte Impf-Nebenwirkungen oder -Schäden zu haften. Das kann man nicht verstehen. Jetzt kommt es zunehmend zu Dokumentationen von Impfreaktionen – aber niemand will zuständig sein, die Patient:innen werden allein gelassen. Die Pharmakonzerne schwimmen in Geld, aber denken nicht daran, sich für die Folgen ihres Tuns verantwortlich zu zeigen. Mit den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik ist es ein bisschen anders: Gesundheitspolitik müsste dafür da sein, Medizin möglich zu machen. Aber davon kann keine Rede sein. Gesundheitspolitik ist nach wie vor ein Ergebnis des Kampfes zwischen verschiedenen Lobby-Gruppen, die es in diesem Haifischbecken gibt. Wenigstens hat Gesundheitsminister Lauterbach jetzt eingeräumt, dass die Fallpauschalen nicht das Wahre sind – schade nur, dass er für diese Einsicht 20 Jahre gebraucht hat.

Auf welche Ihrer Kolumnen haben Sie die heftigsten Reaktionen bekommen?

Die gab es während der Coronapandemie, weil ich das, was in der Zeit gemacht wurde, nicht einfach hinnehmen wollte und immer wieder Fragen gestellt habe. Ich bin ja selbst geimpft, und ich habe auch nie geschrieben, dass man sich auf keinen Fall impfen lassen sollte, aber ich habe eben immer wieder gefragt: Was geht hier eigentlich vor? Und da bin ich in den Kommentarspalten aufs Übelste beschimpft worden. Menschenverachtend sei das, was ich da schreibe. Man kann mir ja vieles vorwerfen, aber Menschenverachtung ganz sicher nicht!

Hat das dazu geführt, dass Sie zu bestimmten Themen lieber nichts mehr sagen?

Überhaupt nicht! Aber es kommt vor, dass Menschen mir schreiben, es sei mutig, dass ich dies oder das geschrieben habe. Das ist ja nett, dass man mich mutig findet, aber: Mir kann doch keiner was, man kann mir nichts wegnehmen. So gesehen gehe ich mit dem Schreiben keinerlei Risiko ein, auch wenn ich mich noch so kritisch äußere. Mutig sein, das heißt für mich, dass Menschen etwas riskieren. Es gibt Menschen, die riskieren ihr Leben für ihre Sache. Ich riskiere höchstens, dass ich für die Frankfurter Rundschau keine Kolumnen mehr schreiben darf.

Zum Abschluss wüsste ich gern, ob Sie auch Zuschriften bekommen, die zu Herzen gehen?

Oh ja. Einmal hatte ich über den Einsatz von Robotern im OP geschrieben, angeregt durch den sogenannten Robodoc, den die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Frankfurt angeschafft hatte. Später hatte sich rausgestellt, dass der Robodoc gar keine Zulassung hatte, aber da hatte man ihn schon bei mehreren Hüftgelenksoperationen eingesetzt mit dem Ergebnis, dass bei manchen Patientinnen und Patienten das ganze Nervensystem in diesem Bereich zerstört worden war. Ich kann diese OP-Technik hier nicht erklären, aber etwas Gefühlloseres als einen Roboter kann mich sich ja gar nicht vorstellen. Nach der Kolumne habe ich Zuschriften bekommen von Leuten, die auch mit dem Robodoc operiert worden waren und danach vor den Trümmern ihrer Existenz standen: Beruf verloren, Ehe kaputt, Schmerzen rund um die Uhr. Das ging mir wirklich nah! Wissen Sie, ich bin mit Leib und Seele Chirurg, und mit 40 Jahren Erfahrung kann ich sagen: Die Chirurgie kann Menschen wirklich helfen, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen kann man oft noch etwas tun. Aber für mich ist unerträglich, wenn Medizin aus pekuniären Gründen missbraucht wird.


Zur Person
Bernd Hontschik , geboren 1952 in Graz, ist Chirurg und Publizist. Bis 1991 war er Oberarzt am Klinikum Frankfurt-Höchst, bis 2015 in seiner chirurgischen Praxis in Frankfurt tätig. Seine Doktorarbeit über unnötige Blinddarmoperationen erregte großes Aufsehen. Er ist auch Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ bei Suhrkamp, die er 2006 mit dem Bestseller „Körper, Seele, Mensch“ eröffnete.

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