Recht und Gerechtigkeit, richtiges und faires Verhalten sind zweierlei. Die Berliner Kassiererin Barbara E. soll der Supermarktkette Kaiser’s zwei Leergutbons von 48 und 82 Cent unterschlagen haben. Deshalb kündigte ihr fristlos nach 30 Jahren einwandfreier Zugehörigkeit die Firma. In zweiter Instanz befand das Landesarbeitsgericht Berlin diese Kündigung für rechtens. Gerecht und fair ist deshalb jedoch weder die Kündigung noch das Gerichtsurteil.
Sicher gibt es Prinzipien der korrekten Arbeit, die für alle gelten. Im sensiblen Verantwortungsbereich der Kasse sogar in erhöhtem Maße. Wenn der Verstoß gegen solche Prinzipien nicht geahndet wird, wird damit ein negativer Präzedenzfall gesetzt. Daher muss gehandelt werden. Aber wie – was ist hier fair und angemessen, wenn eine Mitarbeiterin 30 Jahre einwandfrei gearbeitet hat? Sicher gilt, dass schon der Verdacht auf eine Straftat eine fristlose Kündigung rechtfertigen kann. Aber der Verdacht muss keine fristlose Kündigung rechtfertigen. Es gibt faire Alternativen.
Das Urteil ist krass unverhältnismäßig. Gerichtsurteile in der letzten Zeit zu von Top-Managern begangenen Straftaten haben in keinem Fall zu existenzbedrohenden Urteilen geführt. In keinem Fall reichte der bloße Verdacht einer Straftat schon aus; in jedem Fall mussten Beweise und Geständnisse zur Urteilsbegründung herangezogen werden.
Die Rechtsprechung ist ein Gesamtsystem und kann nicht einzelne Tatbestände und Rechtsbereiche wie nicht miteinander kommunizierende Röhren behandeln. Das Widerspricht eklatant dem Fairness-Gebot der deutschen Rechtsprechung.
Einer Mitarbeiterin nach 30 Jahren tadelloser Mitarbeit wegen des Verdachts auf Unterschlagung in Höhe von 1,30 € fristlos zu kündigen, ist unfair. Denn jeder Mensch verdient bei Verstößen eine zweite Chance. Angemessen wären eine Abmahnung und damit verbunden die Androhung einer fristlosen Kündigung gewesen, gegebenenfalls auch die Versetzung in einen anderen, weniger sensiblen Tätigkeitsbereich.
Zumal es keinen Beweis, sondern allenfalls Zeugen in Gestalt von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Unterschlagung gibt. Was ist, wenn dieses Zeugnis auf vereintem Mobbing der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beruht? Konnte das Gericht dies hundertprozentig ausschließen? Wenn nicht, gilt im Zweifel: für die Angeklagte.
Die dreifache Mutter und zweifache Großmutter wird jetzt wegen 1,30 € zu einem Hartz IV-Fall. Die Supermarktkette Kaiser’s ist eine interne Kritikerin von Arbeitssituationen und aktive Gewerkschafterin los.
Recht haben die Richter zweifellos mit ihrem Argument, dass das Vertrauen zwischen dem Unternehmen, den Mitarbeitern und Frau Barbara E. unwiederbringlich zerstört sei und deshalb eine Besserung der Situation nicht zu erwarten sei. Das kann aber nicht Teil einer Urteilsbegründung sein, in der eine fristlose Kündigung wegen des Verdacht auf Unterschlagung von 1,30 € gerechtfertigt wird. Vielmehr hätte das Gericht die Angemessenheit und damit die Fairness der fristlosen Kündigung nach 30 Jahren tadelloser Mitarbeit abwägen, die Mitarbeiterin vor dauerhafter Rufschädigung und Kriminalisierung schützen und eine gütlichen Vergleich herbeiführen müssen, der der Angeklagten weiterhin eine Teilhabe an der Arbeitsgesellschaft – wenn auch nicht bei Kaiser’s - ermöglicht.
Aktenzeichen: Landesarbeitsgericht Berlin 7 Sa 2017/08
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