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06.05.2021 08:40
Wenn der Rechtsstaat versagt. Der Fall Assange und die extreme Unfairness  

Der UN-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer. spricht im Interview mit Bascha Mika von der Frankfurter Rundschau über den Wikileaks Gründer Julian Assange, seine Bedeutung für den Journalismus und die Einschüchterung von Medienschaffenden in der Gesellschaft. Der Fall zeigt extreme Unfairness und Verstöße derer auf, die sich in Europa immer wieder auf rechtsstaatliche Prinzipien, auf die CHARTA DER GRUNDRECHTE DER EUROPÄISCHEN UNION und die europäische SOZIALCHARTA des Europarats berufen. Diese gelten als westliche Werte. Dieses Missverhältnis untergräbt den Kanon westlicher Werte unter Umständen mehr – siehe auch die Inhalte der Wikileaks-Erkenntnisse – als etliche EU-externe Versuche, die europäischen Demokratien zu zermürben, zu diskreditieren und verschafft EU-Ländern des Gefühl der Legitimation, die bei sich den Rechtsstaat beschneiden und zu eigenen Gunsten umbauen.

„Herr Melzer, Großbritannien ist ein Mutterland der Demokratie. Dennoch behaupten Sie, dass Wikileaks-Gründer Julian Assange dort gefoltert wird. Harter Vorwurf.

Ja, ich war auch schockiert. Als Sonderberichterstatter für Folter waren westliche Demokratien wie Schweden und England stets meine traditionellen Alliierten. Doch im Fall Assange hat der Rechtsstaat auch in diesen reifen Demokratien komplett versagt. Selbstverständlich begehen auch westliche Staaten Menschenrechtsverletzungen. Aber ich war immer überzeugt, wenn man Beweise dafür erbringen kann, greifen die Überwachungsmechanismen, dann kann man Missstände korrigieren. Dass das im Fall Assange trotz klarer Beweise verweigert wurde, hat mich in eine persönliche und berufliche Krise gestürzt. Plötzlich stand ich mit dem Rücken zur Wand.

Und welcher Feind stand vor Ihnen?

Die politischen Eliten des Westens. Sie sind bereits soweit von ihren Bürgern und Verfassungspflichten entfremdet, dass sie die eigenen Kriegsverbrecher und Folterer vor Strafe schützen, gleichzeitig aber diejenigen schonungslos verfolgen, die ihre schmutzigen Geheimnisse ans Licht bringen. Dies war für mich eine sehr schmerzhafte „Ent-Täuschung“ – im wahrsten Sinne des Wortes.

Woran zeigt sich, dass Assange ein Folteropfer ist?

Selbst ich als Experte habe den Fall zunächst abgelehnt. Assange und Folter? Sicher nicht! Das ist doch dieser Vergewaltiger, Hacker und Spion, der sich in der ecuadorianischen Botschaft versteckt. So habe ich damals reagiert, bis ich mir das Beweismaterial genauer anschaute und immer mehr Widersprüche sah. Der Fall war so stark politisiert, dass man sich auf nichts mehr verlassen konnte. Um ihn dennoch objektiv beurteilen zu können, beschloss ich, Assange im Frühjahr 2019 in London persönlich zu treffen – auch wenn ich eigentlich nur ausnahmsweise einzelne Gefangene besuche.

Was für einem Menschen sind Sie begegnet?

Ich nahm zwei Ärzte mit, die mich auch sonst bei Gefängnisbesuchen begleiten. Beide sind auf Folteropfer spezialisiert und wir kamen alle drei unabhängig voneinander zum Schluss, dass Assange die typischen Anzeichen psychischer Folter zeigte. Er litt unter extremen Stress- und Angstsymptomen, von denen sich der Körper nicht mehr erholt. Das ist nicht, was man sonst bei Gefangenen findet. Er war gewissermaßen über Monate nonstop unter Adrenalin. Das beeinträchtigt das Nervensystem und die Reaktionsfähigkeit.

Welche Rolle spielt dabei die Isolationshaft?

Die Isolation eines gestressten, geängstigten Menschen hat ganz schlimme Konsequenzen, der Gefangene gerät in ein Wechselbad von permanentem Panikzustand und schwersten Depressionen, was ihn stark destabilisiert und zermürbt. Dies wird zusätzlich verschlimmert durch ständige Bedrohung, Demütigung, Diffamierung und Willkür. Solche psychische – oder „weiße“ – Folter ist darauf angelegt, das Opfer zu brechen, ohne physische Spuren zu hinterlassen. Die gezielte Entwicklung solcher Methoden ist die Kehrseite des weltweiten Folterverbots.

Womit wurde Assange so in Angst versetzt?

Für ihn ist die Bedrohung die Auslieferung in die USA, wo ihm ein unfairer Spionageprozess und 175 Jahre Isolationshaft drohen. Menschenrechtsexperten sind sich einig, dass die Isolationshaft in Supermax-Gefängnissen in den USA gegen das Folterverbot verstößt und jeden Menschen unweigerlich zugrunde richtet. Es ist, wie wenn man lebendig begraben würde.

Warum setzen Sie sich gerade für diesen Mann so vehement ein?

Mein Mandat ist hier gleich dreifach betroffen. Erstens wird Assange gefoltert, und zwar nicht mit Elektroschocks und Peitschenhieben. Um die bei ihm angewandte Foltermethode sichtbar zu machen, musste ich den Fall an die große Glocke hängen, denn er ist ja kein Einzelfall. Zweitens hat er selber Folter enthüllt, die aber nicht verfolgt wird – auch das ein Völkerrechtsverstoß. Und drittens würde Assange bei einer Auslieferung in die USA wohl zu Tode gefoltert.

Spielt die Pressefreiheit für Sie dabei eine Rolle?

Sicher, denn hier wird das Recht der Bevölkerung, die Wahrheit zu wissen, ganz gezielt angegriffen. Genau darum geht es im Fall Assange.

Er und Wikileaks können sich auf die Pressefreiheit berufen?

Pressefreiheit ist Teil der Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit – und dieses Recht steht allen Menschen gleichermaßen zu. Darüber hinaus kann Assange aber auch als Journalist gelten, weil er Informationen mit Öffentlichkeitswert enthüllt hat. Mit Wikileaks hat er eine Lücke gefüllt, die die etablierte Presse bei der Untersuchung von Behördenmissbrauch hinterlassen hat. Solchen Missbrauch, von Korruption bis Kriegsverbrechen, hat Wikileaks aufgedeckt…“

3. Mai 2021

Zur Person: Nils Melzer, 51, ist Professor für internationales Recht und lehrt in Glasgow und Genf. 2016 wurde er vom Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen zum Sonderberichterstatter für Folter ernannt. Seit 2019 ist er überdies Vizepräsident des Internationalen Instituts für humanitäres Völkerrecht (IIHL) in Sanremo. Vorher war er als sicherheitspolitischer Berater der Schweizer Regierung tätig sowie als Rechtsberater und Abgesandter in Kriegs- und Krisengebieten für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Mitte April erschien sein Buch „Der Fall Julian Assange – Geschichte einer Verfolgung“.

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