Aus einem Spiegel-Interview von Nicola Abé (Sao Paulo) mit der Philosophin Djamila Ribeiro. Sie ist das Gesicht der schwarzen brasilianischen Frauenbewegung. Warum sie jetzt Twitter verklagt hat, berichtet sie in diesem Ausschnitt:
SPIEGEL: Gemeinsam mit anderen Frauen verklagen Sie nun Twitter, warum?
Ribeiro: Twitter ist in Brasilien das toxischste aller sozialen Medien, besonders für schwarze Frauen. Es ist gewalttätig. Ich habe keinen Account, aber meine Tochter wurde auf Twitter bedroht, deshalb bin ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Polizei gegangen. Dann beschloss ich, Twitter zu verklagen, weil sie Rassismus und Frauenhass finanziell ausnutzen. Die sozialen Medien verdienen sehr viel Geld mit »Trending Topics«, und was hier sehr gut läuft, sind sexistische, rassistische Beiträge. Twitter macht daraus Geld. Doch was sie tun, hat Auswirkungen, die psychologischen Schäden sind groß, und viele Frauen haben sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und aufgegeben. Für mich ist es wichtig, Twitter zur Verantwortung zu ziehen und nicht eine Einzelperson, die Twitter nutzt. Twitter muss seine Regeln und Maßnahmen verändern, um solche Dinge zu verhindern. In diesem Jahr soll es eine Anhörung mit Vertretern von Twitter geben.
SPIEGEL: Zwei Wochen vor Ende der Amtszeit von Donald Trump sperrte Twitter dessen Account – ein Grund zum Feiern?
Ribeiro: Bolsonaro ist nicht gesperrt. Er verbreitet ständig Fake News, hetzt und attackiert. Ebenso seine Unterstützer. Vor einigen Monaten gab es hier den Fall eines Mädchens. Sie war erst zehn Jahre alt, von ihrem Onkel missbraucht worden und schwanger. In Brasilien ist Abtreibung im Falle einer Vergewaltigung erlaubt. Die Familie beschloss, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Bolsonaros Unterstützer starteten eine Kampagne gegen das Mädchen – auf Twitter. Ihr Name, der Name eines minderjährigen Gewaltopfers, wurde auf Twitter veröffentlicht. Eine Masse an Menschen versammelte sich vor dem Krankenhaus, um sie von der Abtreibung abzuhalten, zu bedrohen und zu beschimpfen. Das alles lief über Twitter. Das Unternehmen unternahm rein gar nichts dagegen. Sie haben die Situation ausgenutzt und zu Geld gemacht. Wie viel von diesem Geld, das Twitter an diesem Wochenende machte, indem es dieses Mädchen bloßstellte, wie viel davon werden sie der Familie wohl spenden?
SPIEGEL: Präsident Jair Bolsonaro erfreut sich gerade großer Beliebtheit. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Ribeiro: Wir haben nicht an Stärke und Zuspruch verloren. Aber seit Bolsonaro regiert, sind wir noch mehr Angriffen ausgesetzt. In kaum einem anderen Land der Welt werden so viele Frauenrechtsaktivistinnen ermordet wie hier. Wir müssen mit einer extremen Rechten umgehen, die das Coronavirus ebenso leugnet wie die Existenz von Rassismus oder Sexismus. Wir müssen Vorurteile und Fake News widerlegen. Auch die evangelikalen Kirchen sind dafür verantwortlich, die in den ärmeren Gesellschaften aktiv sind, Bolsonaro unterstützen und zum Beispiel verbreiten, Homosexualität sei eine Idee des Teufels.
SPIEGEL: Sie bezeichnen den Rassismus in Brasilien als »Projekt«. Was meinen Sie damit?
Ribeiro: Die Leute verbinden mit Brasilien Karneval und Strand. Alle sind fröhlich und leben in Harmonie. Das ist das Bild, das nach außen verkauft wird. Dieses Bild bekämpfen wir – weil es nicht stimmt. Brasilien war das Land, das die Sklaverei als letztes abgeschafft hat. Danach gab es keinerlei Programme zur Inklusion der schwarzen Bevölkerung. Damals entstanden die Favelas, wo die meisten bis heute leben. Schwarze Frauen fingen an, als Haushaltshilfen zu arbeiten, wie sie es bis heute tun.
SPIEGEL: Ist das nicht eher ein Erbe als ein Projekt?
Ribeiro: Rassismus ist ein Projekt, weil täglich schwarze junge Männer von der Polizei getötet werden, weil etwa 2016 alle 23 Minuten ein schwarzer Mensch in diesem Land ermordet wurde und weil nur 13 von 500 Abgeordneten im Kongress schwarze Frauen sind – obwohl wir Schwarzen die Mehrheit der Bevölkerung stellen. Es gibt diese Idee, dass Hautfarben hier nicht so wichtig seien, dass wir alle ein Mix seien. Doch die Polizei weiß immer, wer schwarz ist. Das Fernsehen weiß immer, wer schwarz ist.
SPIEGEL: Zeigt sich in der Pandemie der Rassismus der Gesellschaft besonders deutlich?
Ribeiro: Rassismus ist ein strukturelles Problem, das sich durch alle Lebensbereiche zieht. Es ist daher wenig überraschend, dass deutlich mehr Schwarze an Covid-19 sterben. Sie haben weniger Zugang zu Bildung, die Hygienebedingungen sind dort, wo sie leben, schlechter. Außerdem sind sie auf die öffentliche Gesundheitsversorgung angewiesen.
"Das ganze SPIEGEL - Interview vom 5.2.2021"
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