„Wir zahlen im Laden nicht den wahren Preis“, sagt Volkert Engelsman, Chef des Bio-Fruchthändlers Eosta, im Interview mit Tobias Schwab für die Frankfurter Rundschau. Es geht über soziale und ökologische Kosten und eine neue Definition von Gewinn.
„Herr Engelsman. Preise sind gerade ein großes Thema. Viele Menschen haben mit den hohen Teuerungsraten zu kämpfen. Sind Lebensmittel trotzdem noch immer zu billig?
Ja, selbstverständlich. Solange die externalisierten Kosten – also all das, was durch den Nahrungsmittelanbau an Schäden für Bodenfruchtbarkeit, Biodiversität, Klima, Wasser und Gesundheit verursacht wird – nicht in die Kalkulation eingehen, zahlen wir im Laden nicht den wahren Preis.
Was bedeutet das?
Für die ökologischen und sozialen Schäden kommen nicht die Verursacher auf. Die Allgemeinheit muss die langfristigen Folgen tragen, wir verschieben die Kosten auf unsere Kinder und die nachfolgenden Generationen. Und die Menschen mit geringem Einkommen, die sich nur die vermeintlich billigen Lebensmittel leisten können, leiden am meisten unter einer Produktionsweise, die Umwelt und Gesundheit schädigt.
Aber viele Menschen brauchen jetzt eine finanzielle Entlastung.
Das verstehe ich. Und es gibt da eine ganz pragmatische Lösung. Ich fordere seit Jahren null Prozent Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse und höhere Abgaben auf Fleisch. Das würde gesündere Lebensmittel erschwinglicher machen und könnte auch zu einer Verringerung des Fleischkonsums beitragen, mit positiven Folgen für die Umwelt. Durch die intensive Viehhaltung und den Anbau von Futtermitteln verlieren wir weltweit in jeder Minute fruchtbare Böden in einer Größe von 30 Fußballfeldern und schädigen die Artenvielfalt.
Sie machen sich für das True-Cost-Accounting stark. Was verbirgt sich dahinter?
Es geht darum, die wahren Kosten eines Produktes zu bilanzieren. Der Markt ist nach meiner Überzeugung erst frei und kann richtig funktionieren, wenn tatsächlich alle Faktoren in eine Bilanz eingehen. Das heißt, neben den direkten Kosten eines Produktes müssen auch die sozialen und ökologischen Folgen geldlich bewertet werden. All das müsste dann idealerweise in den Verkaufspreis einfließen. Unternehmen, die große ökologische und soziale Schäden anrichten, dürfen nicht länger Wettbewerbsvorteile gegenüber Konkurrenten haben, die biologisch produzieren und ihre Ware fair handeln.
Lassen sich die wahren Kosten tatsächlich erfassen und dann auf einzelne Produkte umlegen?
Als US-Präsident Kennedy 1961 die Landung auf dem Mond als Ziel ausgab, war das für viele Menschen auch ein unfassbares Projekt. Und in der Tat, es ist eine komplexe Geschichte, die externalisierten Kosten zu kalkulieren. Es braucht first movers, Unternehmen, die vorangehen und sich mit der Komplexität auseinandersetzen, Prototypen liefern, um die Dinge dann in den Umsetzung für alle einfacher zu machen. Veränderungen gehen immer von einer Minderheit aus. Wo ein Wille ist, da findet sich auch ein Umweg.
Welchen Weg geht Eosta?
Wir haben uns vom Wirtschaftsprüfungsunternehmen EY und Soil & More International, einer Tochter von Eosta, die externalisierten Kosten in den Kategorien Gesundheit, Boden, Klima, Wasser für bislang neun Produkte unserer Marke „Nature & More“ errechnen lassen. Zugrunde gelegt werden dabei Formeln der UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO sowie der Weltgesundheitsorganisation WHO.
Wie müssen wir uns das vorstellen?
Die Gesundheitskosten, die der Anbau von Birnen verursacht, wurden beispielsweise auf Basis der Auswirkungen, die Pestizide auf die Verbraucher haben, berechnet. Eingegangen ist in die Kalkulation auch die Exposition der Beschäftigten auf den Farmen. All die Daten wurden dann in die Maßeinheit Daly der WHO umgerechnet. Ein Daly steht kurz gesagt für ein Jahr verlorener Gesundheit, das geldlich quantifiziert werden kann. In den Niederlanden wird ein Daly beispielsweise mit gesellschaftlichen Kosten von 77 000 Euro beziffert. In der Kategorie Klima gehen wir von den Werten aus, die die FAO pro Kilo Treibhausgasemissionen ansetzt. Es lässt sich so zeigen, welchen Vorteil Bio-Früchte gegenüber konventionell erzeugtem Obst haben.
Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn wir die Auswirkungen auf Klima, Boden und Wasser in Rechnung stellen, dann liegt der Kostenvorteil unserer Bio-Birnen gegenüber konventionellen Früchten bei 2290 Euro pro Hektar Obstplantage und Jahr. In Kilo umgerechnet, beträgt der Kostenvorteil 5,7 Cent für das Bio-Obst. Tatsächlich dürften die Vorteile der Bioprodukte sogar noch größer sein, da die Vollkostenrechnung noch in der Entwicklung ist und viele positive Faktoren nachhaltiger Landwirtschaft in den Modellen noch nicht berücksichtigt werden.
Was müsste noch in die Rechnung eingehen?
Die sozialen Kosten, zum Beispiel der Umgang der Unternehmen mit Beschäftigten, vor allem Frauen, und der Preis, den die Folgen des Anbaus für die Biodiversität haben. Da fehlen noch die entsprechenden Tools, um das zu bepreisen. Aber ein Anfang ist gemacht, jetzt braucht es eine Koalition der Willigen, die da weiter vorangehen und das True-Cost-Accounting dann auch anwenden.
Wo sind denn die Willigen, wer sind Ihre Verbündeten?
Banken, Versicherer und Wirtschaftsprüfer beispielsweise sind längst auf unsere Seite. Sie berücksichtigen in ihren Risikoanalysen mittlerweile Nachhaltigkeitskriterien. Geldhäuser legen bei der Kreditvergabe zum Beispiel auch den ökologischen Fußabdruck eines Unternehmens zu Grunde, weil entsprechende Abgaben auf Emissionen die Firma in Zukunft finanziell belasten könnten. Banken fragen Kunden auch nach ihren Wertschöpfungsketten und interessieren sich für die dort gezahlten Löhne. Der Trend ist unumkehrbar.
Und bei den Herstellern von Konsumgütern und Handelsfirmen?
Auch da wächst die Bereitschaft, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Zu den Pionieren gehört beim True-Cost-Accounting auch die Firma Hipp. Aber selbst Penny engagiert sich. Der Discounter zeigt in seinem Nachhaltigkeitsmarkt in Berlin bei ausgewählten Produkten neben den normalen Ladenpreisen auch die deutlich höheren wahren Preise an. Mit der doppelten Auszeichnung der Ware bringt Penny seine Kunden hoffentlich zum Nachdenken. Selbst große Player wie Unilever beschäftigen sich im Hintergrund mit dem Thema, ohne das groß von den Dächern zu rufen.
Wie weit ist Eosta selbst? Fließen die wahren Kosten schon in die Preise für Ihre Produkte ein?
Es ist im Handel nie einfach, wahre Kosten durchzusetzen. Und die Bildung von Preisen ist eine komplexe Angelegenheit. Faktoren sind schließlich auch Angebot und Nachfrage.
Und Sie wollen bei allem ja auch noch Gewinn machen ...
Profit ist für ein Unternehmen wichtig. Aber gesund ist eine Firma nur, wenn sie die Kosten für Umwelt und die Menschen berücksichtigt und trotzdem Gewinne erzielt. Die alte Gewinndefinition steht unter Druck. Die neue berücksichtigt auch soziale und ökologische Kosten. Unser Slogan lautet „Wo Ökonomie auf Ökologie trifft“. Beides wollen wir verbinden. Dafür haben wir einen klaren Managementplan.
Was heißt das konkret?
Wir arbeiten an der vollen Transparenz auf allen Ebenen, streben die Rückverfolgbarkeit unserer Produkte bis zum Acker an, monetarisieren die externalisierten Kosten und beraten unsere Produzenten auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit. Und wir schauen, wo wir unseren Einfluss nutzen können. Dazu gehört, mit Kommunikations-Kampagnen und Projekten Öffentlichkeit für das Thema zu schaffen – beispielsweise auch für faire Löhne.
Was ist ein fairer Lohn?
Einer, der umfassend die Existenz sichert. Mit Mangos aus Burkina Faso, Avocados aus Kenia und Passionsfrüchten aus Peru zeigen wir, wie es geht. In unserem Bio-Sortiment können sich Verbraucher für Produkte mit einem Existenzlohn-Aufschlag entscheiden. Bei Mangos beispielsweise lässt sich die Lücke zu einem Lohn, mit dem die Menschen in Burkina Faso der Armut entkommen können, schon mit einem Aufpreis von zehn Cent pro Kilo schließen. Wir können nicht die ganze Welt von heute auf morgen retten, aber wir fangen damit an. Und wir fordern von der Politik, dass sie die nötigen Rahmenbedingungen verändert.
Was erwarten Sie konkret?
Wir brauchen faire Verhältnisse auf dem Markt. Noch immer findet der Wettbewerb auf einem schiefen Spielfeld statt, auf dem Verschmutzer einen Konkurrenzvorteil haben. Konventionelle Erzeuger befinden sich auf der nach oben geneigten Seite, Bio spielt weiterhin unten. Erst wenn die Produzenten, die die Umwelt schädigen, auch dafür zahlen müssen, haben wir faire Bedingungen. Der Staat muss Verschmutzer mit Steuern zur Kasse bitten und jene fördern und belohnen, die Natur und Ressourcen schonen. Denn bislang gilt noch immer: Nicht Bio ist zu teuer, Konventionell ist viel zu billig“.
Volkert Engelsman , 64, hat Volks- und Betriebswirtschaft an der Rotterdamer Erasmus-Universität studiert und danach zunächst als Manager für den US-Agrar-Multi Cargill gearbeitet. 1990 gründete der Niederländer gemeinsam mit seinem Studienfreund Willem van Wijk das Unternehmen Eosta. 2007 rief er die Tochtergesellschaft Soil & More Impacts, eine landwirtschaftliche Beratungsfirma, ins Leben. Eosta ist nach eigenen Angaben Europas größter Importeur von biologisch angebauten Produkten und beliefert große Einzelhändler und Naturkostläden in Europa, den USA, Kanada und im Fernen Osten. Jährlich gehen 150 Millionen Kilo Obst und Gemüse durch die Lagerhallen von Eosta in der Nähe von Gouda. Die Firma zählt 250 Beschäftigte und macht keine Angaben zu Umsatz und Gewinn.
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