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28.04.2023 09:40
Für Fairness im Job kämpfen - gegen jetzt illegale Leiharbeiterbehandlung  

Leiharbeitskräfte verdienen häufig weniger als die Stammbelegschaft. Das regeln Tarifverträge. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt diese Praxis nun infrage. Steffen Herrmann schreibt dazu in der Frankfurter Rundschau am 23.4.23:

„Seit 2011 arbeitet Marvin Hüther bei Volkswagen in Wolfsburg. Anders als seine Kolleginnen und Kollegen war der heute 28-Jährige aber viele Jahre nicht direkt bei VW angestellt. Hüther war Leiharbeiter. Die Folge: Für die gleiche Arbeit verdiente er deutlich weniger. Damals war das der Mindestlohn, acht Euro die Stunde. „Als Leiharbeiter ist man der letzte Mann in der Kette“, erzählt Hüther heute. Er habe sich benachteiligt gefühlt, der Druck sei groß gewesen. „Du kannst jederzeit rausgeworfen werden.“

Wie Hüther geht es rund 781 300 Menschen in Deutschland (Stand April 2022). Als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter verdienen sie je nach Branche bis zu 40 Prozent weniger als die Stammbelegschaft. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei hervor, die der FR vorliegt.

„Es gibt eine starke Ausgrenzung“, sagt Wolfgang Däubler. Der renommierte Arbeitsrechtler kämpft seit vielen Jahren gegen die Diskriminierung der Leiharbeit. Und das erfolgreich: Im Dezember urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH): Leiharbeitende dürfen zwar schlechter bezahlt werden als die Stammbelegschaft – aber nur wenn sie dafür einen angemessenen Ausgleich bekommen. „Das ist ein großer Erfolg für Leiharbeiter“, sagt Däubler, der die erfolgreiche Klage beim Gang durch die Instanzen begleitet hatte.

Geklagt hatte eine Frau, die Anfang 2017 bei einem Leiharbeitsunternehmen angestellt war. Dieses überließ sie einem Einzelhandelsunternehmen, wo sie für 9,23 Euro pro Stunde arbeitete. Die Stammbelegschaft erhielt dagegen 13,64 Euro brutto. Die Frau klagte und forderte eine zusätzliche Vergütung in Höhe der Differenz. Nach dem Gang durch die Instanzen legte das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Fall schließlich dem EuGH vor.

Der EuGH entschied nun, dass Leiharbeiter:innen den gleichen Schutz verdienen wie die Stammbelegschaft. Weichen Tarifverträge wie in Deutschland davon ab, müssen diese Tarifverträge den in der EU-Leiharbeitsrichtlinie vorgesehenen „Gesamtschutz“ der Leiharbeiter:innen einhalten. Das heißt: Wer weniger verdient, hat Anspruch auf Ausgleich, zum Beispiel in Form zusätzlicher Urlaubstage.

„Die bisherige Praxis in Deutschland ist damit nicht mehr legal“, sagt der Jurist Wolfgang Däubler. Seit 2004 sehen die deutschen Gesetze für Leiharbeitende Equal Pay und Equal Treatment vor, gleichen Lohn und gleiche Bedingungen. Doch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber nutzen eine gesetzliche Öffnungsklausel, um in Tarifverträgen niedrigere Löhne zu vereinbaren. „Das geht künftig nur noch, wenn die Tarifverträge eine gleichwertige Kompensation vorsehen“, sagt Däubler.

Die Arbeitgeberverbände geben sich betont gelassen: Man werde abwarten, wie das Bundesarbeitsgericht auf die EuGH-Entscheidung reagieren werde, teilt der Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP) mit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), mit dem die Arbeitgeberverbände die Tarifverträge verhandeln, lehnt ein Gespräch mit der FR zu dem Thema ab: Die zuständige Fachkollegin sei im Urlaub.

Die IG Metall lobt die EuGH-Entscheidung zwar als „gut für die Rechte und den Schutz der Leihbeschäftigten“, betont aber auch, dass der Europäische Gerichtshof „zur speziellen gesetzlichen und tariflichen Situation in Deutschland“ keine Stellung genommen habe. „Hier erwarten wir Konkretisierungen des Bundesarbeitsgerichts mit Blick auf Anforderungen an das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und Tarifverträge“, sagt ein Sprecher. Ähnlich ist die Position der Bundesregierung, wie Kerstin Griese, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, im Bundestag sagte.
Wolfgang Däubler kritisiert die abwartende Haltung der Gewerkschaften. „Es gibt einzelne Gewerkschafter, die es ganz gut finden, dass Leiharbeiter schlechter gestellt sind beim Lohn und beim Bestandsschutz. Sie sehen die Leiharbeiter als Polster für wirtschaftlich schlechte Zeiten, weil sie da als erste nach Hause geschickt werden. Solidarität sieht anders aus.“

Die Idee der Leiharbeit – auch Zeitarbeit oder Arbeitnehmerüberlassung genannt – kommt aus den USA. Seit 1972 ist sie hierzulande durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) geregelt: Arbeitskräfte werden von einem Verleihunternehmen, bei dem sie angestellt sind, einem anderen Unternehmen für eine bestimmte Zeit überlassen.

Mit den Hartz-Gesetzen flexibilisierte die rot-grüne Bundesregierung Anfang der 2000er-Jahre den deutschen Arbeitsmarkt und lockerte auch die Regeln für Leiharbeit. Daraufhin stieg die Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter stark an, ihre Löhne lagen meist aber deutlich unter der jeweiligen Stammbelegschaft. „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gib“, lobte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 in Davos.

Und heute? Heute arbeiten knapp 61 Prozent der Leiharbeitskräfte in Vollzeit für ein Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle, sie verdienen weniger als 2344 Euro pro Monat. In der Gesamtwirtschaft beziehen dagegen nur knapp 18 Prozent der Beschäftigten einen Niedriglohn. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl (Linkspartei) hervor, die der FR vorliegt.

Die Daten zeigen außerdem: Der Anteil ausländischer Leiharbeitskräfte ist deutlich gestiegen, von 26,6 Prozent im Jahr 2016 auf 43 Prozent im Jahr 2022. Ausländische Leiharbeiter:innen verdienen im Schnitt auch 470 Euro pro Monat weniger als deutsche Leiharbeitskräfte.

Für Susanne Ferschl ist nun die Ampel-Koalition gefordert: „Die Bundesregierung muss eine gesetzliche Klarstellung auf den Weg bringen und die Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz streichen.“ Theoretisch bedeute das EuGH-Urteil für die einzelnen Beschäftigten zwar eine Verbesserung, sagt die Politikerin der Linkspartei zur FR. Ohne eine gesetzliche Klarstellung werde das aber in der Praxis kaum eine Auswirkung haben, denn jede und jeder Leiharbeitsbeschäftigte müsste individuell auf Gleichbehandlung klagen. Aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis passiere das allerdings so gut wie nie. „Das Nicht-Handeln der Bundesregierung verlängert die europarechtswidrige Ausbeutung der Leiharbeitsbeschäftigten.“

Das Bundesarbeitsgericht soll sein Urteil zur Leiharbeit am 31. Mai fällen. Aber auch dann werden einige Fragen offenbleiben: Wie könnte der Ausgleich aussehen, damit der Gesamtschutz bei niedrigeren Löhnen gewahrt ist? Jurist:innen rätseln auch, welche Folgen der konkrete Vergleich im Einzelfall hat, den der EuGH fordert. Und, vielleicht die wichtigste Frage: Verliert die Leiharbeit durch die Kompensation an Attraktivität für Unternehmen?

Marvin Hüther jedenfalls hat den Absprung geschafft. Seit 2017 arbeitet er festangestellt bei Volkswagen. Unter seine Zeit als Leiharbeiter zieht er ein gemischtes Fazit, trotz Druck, niedrigerem Lohn und Angst vor dem Jobverlust: „Die Leiharbeit ist nicht schlecht für Leute mit wenig Bildung, um in Firmen wie VW hineinzurutschen".“

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