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13.04.2015 13:15
Aufschrei über unmenschliche Zustände in Kranken- und Altenpflege  

Dieser offene Brief einer seit 6 Jahren im Gesundheitsbereich und in der Kranken- und Altenpflege aktiven Fachkraft ist ein Aufschrei! weiter twittern!

AN ALLE, DIE ES ANGEHT!

Politiker, Geschäftsführungen und Träger von Altenpflegeheimen, Heimleitungen und PDLs, Heimärzte, Lehrkräfte, Pflegekräfte (Fachkräfte, Helfer, Studenten, Auszubil-dende), Betreuungskräfte, Ehrenamtliche, Angehörige und Pflegebedürftige, Menschen!

Ich bin 31 Jahre alt und seit 6 Jahren im Bereich der Gesundheits- und Kranken-pflege, sowie der Altenpflege tätig. Und ich bin wütend! Wütend als Mensch, wütend als examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin, wütend als Studentin der Pflege-wissenschaft! Ich bin wütend auf ein System, wie es unmenschlicher nicht sein kann! Aber warum ist das so? Als ich heute in einem Kurs für Mitarbeiter der Pflege in an-gestrebten Leitungspositionen saß, wurde mir das Ausmaß der Katastrophe einmal mehr bewusst. Der Dozent stellte die Aufgabe, in einem Zeitrahmen von 25 Minuten selbstständig darüber nachzudenken, welche Impulse im Leben dazu geführt haben, dass sich dieses in irgendeiner Art und Weise einprägsam veränderte. Während meine Antwort in nicht mehr als 10 Sekunden feststand, dachte der Rest der Gruppe weiter angestrengt nach. Impulse zur Veränderung kamen stets aus meinem Inneren. Unzufriedenheit und letztlich Wut über ein System, welches ich nicht begreifen kann, ließen mich als Pflegekraft nicht wegschauen. Ich handelte! Die Gruppe jedoch war sich einig. Wenn sich in ihrem Leben bislang etwas verändert hat, dann weniger aus eigenem Antrieb, sondern mehr aus einer von außen vorgegebenen Notwendigkeit. Rückblickend lässt mich das erschauern, ein Teufelskreis zeichnet sich ab. Wenn sich das System der Altenpflege nicht verändert, dann wird sich die Arbeit derer, die sie tun, nicht ändern. Wer aber soll die Bedingungen verbessern, wenn keiner einen Antrieb dazu verspürt? Sind wir wirklich alle so? Ich sage NEIN! Und brauchen wir die, die einfach nichts verändern wollen? Ich sage NEIN! Wir brauchen sie nicht!

Was also müssen wir tun?

Wir müssen zu Dingen stehen, die wir sagen. Wir müssen aufhören uns in der Anonymität zu verstecken! Es darf nicht sein, dass kaschiert, gefälscht und gelogen wird, wenn Fehler passiert sind, wenn ein firmeninternes Audit stattfindet oder davon ausgegangen wird, dass wahrscheinlich bald wieder der MDK zu Besuch kommt. Und es darf nicht sein, dass man - aus Angst vor Repressalien oder gar eines Ver-lustes des Arbeitsplatzes - Missstände oder Mängel anonym zur Anzeige bringen muss. Warum wird ein firmeninternes Audit angekündigt? Die Antwort hierauf kann nur sein, dass man nicht an der Wirklichkeit interessiert ist. Bereits Wochen vorher werden die „Papiere“ in Ordnung gebracht und das Haus und die Bewohner auf Hochglanz poliert. Was das ganze Jahr gut genug war, ist auf einmal nicht mehr ausreichend? Ein solches Audit kann man sich im wahrsten Sinne des Wortes sparen! Warum gibt es stattdessen kein firmeninternes Anzeigenmanagement? Eine Beschwerde bei den Aufsichtsbehörden bringt im besten Fall wirklich eine Verän-derung, meistens bleibt es jedoch bei ein bis zwei unruhigen Tagen und danach ist alles wieder vergessen. Es besteht kein Interesse, Mängel zu beheben, denn dafür müsste man sich eingestehen, dass etwas gewaltig schief läuft. Eine Notwendigkeit ist dazu jedoch nicht gegeben, denn es ist ja gerade alles nochmal gut gegangen. Untragbare Mitarbeiter, welche Bewohnern mit Respektlosigkeit, seelischer Grau-samkeit, Zwang und Folter begegnen und eine Gefahr für deren Leben und Gesund-heit darstellen, müssen des Arbeitsplatzes mit sofortiger Wirkung verwiesen werden. Solche Mitarbeiter zu melden, bedeutet nicht, einen Kollegen zu verraten, es bedeu-tet, einen Bewohner oder eine Bewohnerin zu schützen! Es ist firmenintern zu signa-lisieren, dass Meldungen jeglicher Art vertraulich behandelt und ernst genommen werden. Hierfür ist ein offener Dialog aus der obersten Leitungsebene notwendig. Der Fisch stinkt vom Kopf, das wissen wir doch nun alle!

Grenzüberschreitungen sind an der Tagesordnung, seelische und körperliche Gewalt scheinen Normalität geworden zu sein. Mitarbeiter, bei denen Hopfen und Malz noch nicht ganz verloren scheint, die sich zumindest vorstellen können, was es heißt, vier Stunden mit einer vollen Blase auf einen Toilettengang zu warten, oder, dass ein in Kaffee ertränktes Stück Kuchen erstens nicht schmeckt und zweitens nicht das richtige für eine Person mit einer ausgeprägten Schluckstörung sein kann, müssen sensibilisiert, wachgerüttelt werden. Also warum anstatt eines teuren Fort- und Weiterbildungskataloges nicht einfach Selbsterfahrungskurse für die Basis veran-stalten? Warum kein Fortbildungsgremium aus internen Pflegekräften ins Leben rufen? Warum für eine solche Aufgabe nicht die sich bereits in vielen Unternehmen befindlichen Pflege-Dual-Studenten einbinden und dies im Rahmen eines Projektes gestalten? Wir brauchen keinen neuen Standard für Selbstverständlichkeiten! Wenn nichts anderes hilft, dann muss am eigenen Leib erfahren werden, wie es ist, acht Stunden in einem Rollstuhl am Tisch vor der Wand zu sitzen, stundenlang nicht zur Toilette zu können, oder zu essen, während man vom anderen Ende des Raumes schreiend darauf hingewiesen wird, zu trinken. Wer dann noch sagt, das ist doch alles nicht so schlimm, ist schlichtweg ungeeignet für diesen Beruf!

Auch im Rahmen eines Beschwerdemanagementsystems kann ich mir den Einsatz von Studenten der Pflegewissenschaft, im Sinne eines mobilen Kriseninterven-tionsteams, vorstellen. Gibt es Mängelanzeigen, kann dieses Team häuserüber-greifend tätig werden. Es geht nicht darum, einen Schuldigen zu finden, sondern zu analysieren, worin die Ursachen für eventuelle Missstände liegen. Ich muss die Ursache kennen um Veränderung zu bewirken und letztlich müssen eingeleitete Interventionen begleitet und überprüft werden. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Hochschulen hinweisen, die ein solches Projekt begleiten können.

Nicht jeder kann pflegen! Mal ganz abgesehen von der persönlichen Eignung, kann es derjenige auf keinen Fall, der über gar keine Qualifikation verfügt. Ein Kurs für Pflegeassistenten - über mindestens ein Jahr - muss das Minimum einer vorzuwei-senden Zugangsvoraussetzung zur Arbeit in der Pflege sein. Wo aber sollen nun die Arbeitskräfte herkommen, wenn die schlechten gefeuert und die ohne Qualifikation gar nicht erst eingestellt werden? Zunächst heißt keine Qualifikation ja nicht, dass man keine erwerben kann. Wird jemand ohne Ausbildung eingestellt, muss dieser sofort an ein Fortbildungsprogramm angeschlossen werden. Erst einmal einstellen und dann alles Weitere regeln? Nein! Denn es wird im Anschluss nichts geregelt, genauso wenig, wie nach der Einstellung über versprochene Gehaltsverhandlungen nach Beendigung der Probezeit geredet wird. Versprechen, die beim Vorstellungs-gespräch gemacht werden, müssen gehalten werden. Es kann nicht sein, dass das Ende der Probezeit stumm in die Weiterbeschäftigung übergeht und es kann nicht sein, dass bei Ablauf von befristeten Verträgen nicht gesprochen wird. Hier ist die mittlere Leitungsebene gefordert, ihren Mitarbeitern Wertschätzung zu signalisieren, denn die Mitarbeiter, die von ihrer Arbeit überzeugt sind, wünschen sich das. Alle sprechen von der hohen Fluktuation, dabei wäre es so einfach, die Guten zu halten und endlich damit anzufangen, sich von den Schlechten zu trennen. Wertschätzung müssen auch die Auszubildenden erfahren. Das fängt schlicht und einfach schon bei der Bezahlung an. Auszubildende sind zudem keine vollwertige Arbeitskraft, sie sind hilfreich, aber nicht dazu da ein Abdecken des Dienstplanes zu ermöglichen. Sicher-lich fügen sie sich den Gegebenheiten und kommen auch irgendwie zurecht, das heißt aber nicht, dass es gut ist. So beobachtete ich vor kurzem, wie zwei Schüler (erstes und zweites Lehrjahr) - aufgrund von einer Krankmeldung - auf einmal alleine die Bewohner im Frühdienst auf einem Wohnbereich versorgten. Auf Nachfragen bekam ich die Antwort: „Wir kommen klar.“ Dass im selben Moment eine Bewohnerin über den Gang taumelte, die auf den ersten Blick krank und kreislaufgeschwächt war, hatten sie den gesamten Morgen jedoch nicht bemerkt. Dies ist kein Vorwurf an die Auszubildenden, sondern an die Verantwortlichen. Gerade in der Ausbildung ist es wichtig zu erfahren, was Altenpflege bedeutet. Auch hier schlage ich kleine Pro-jekte vor, die man in die Hand der Auszubildenden geben kann. Das Organisieren kleiner Feste, die Betreuung von Bewohnern auf Ausflügen, eine Zuständigkeit für die Geburtstage der Bewohner, oder das Bilden eines „Pflegezirkels“, der sich mit Problemen der Grundpflege in der eigenen Einrichtung (z.B. Mundpflege oder Wahren des Schamgefühls) auseinandersetzt, eingreift und zeigt wie es gehen kann. Wer kann dafür besser geeignet sein, als unsere Auszubildenden? Das Totschlag-argument „Dann fehlen sie aber im Dienstplan!“ kann ich nicht gelten lassen. Auszu-bildende fehlen auch im Dienstplan, wenn sie in der Schule sind. Ich habe noch keine Einrichtung erlebt, die für diesen Zeitraum schließen musste. Um den Gedan-ken der Wertschätzung abzuschließen, möchte ich noch zwei Punkte anmerken. Erstens: Die Bezahlung nach Leistung. Ein schöner Gedanke, den ich voll und ganz unterstütze. Die Ausführung ist jedoch mangelhaft. Von den Gehältern der Mitarbeiter soll gar nicht groß die Rede sein. Ich denke es ist nur logisch, dass sich das Gehalt einer Fachkraft stark von dem einer Pflegehilfskraft mit einjähriger Ausbildung ab-heben muss. Eine weitere Differenz muss spürbar sein, wenn ein Mitarbeiter gar keine Ausbildung hat. Wo soll sonst der Anreiz zur Qualifikation herkommen? Einen Anreiz zur guten Arbeit möchte der ein oder andere Arbeitgeber durch Gratifikations-systeme schaffen. Das Zahlen von Prämien ist eine gute Idee, die Umsetzung jedoch krankt gewaltig. Es geht schon los, dass eine Prämie ausgeschlossen ist, wenn der Mitarbeiter eine bestimmte Zahl von Fehltagen überschreitet. Aber welcher Mitar-beiter fällt denn aus? Es sind in erster Linie diejenigen, welche die Arbeit der anderen machen ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren. Während der Großteil des Teams mal wieder Pause macht, bleibt meist ein Dummer übrig, der Toiletten-gänge durchführt, Material sichtet und aufräumt, die Pflegewägen putzt und so weiter. Weiter fehlt es an einem System, wonach beurteilt wird, welcher Mitarbeiter in welcher Höhe prämiert werden soll. Die Aufteilung entscheidet letztendlich die Ein-richtungsleitung, die den Mitarbeiter das ganze Jahr über nicht ein einziges Mal im Dienst begleitet hat. Da bleiben nur noch die vom Qualitätsmanagement entwickelten Bewertungsbögen, wäre da nicht die „interne“ Vorgabe, dass alle Mitarbeiter mit einem „Sehr gut!“ zu bewerten sind. So hat also weder eine Pflegehilfskraft, noch ein Auszubildender und schon gar keine Fachkraft irgendein anleitungswürdiges Defizit. Also worüber rege ich mich hier eigentlich auf? Das Leben der Bewohner in unseren Heimen muss demnach traumhaft sein! Geld kann eine Art Wertschätzung sein. Geld allein motiviert aber nicht, schon gar nicht, wenn ich mich dafür nicht anstrengen muss! Gänzlich beendet ist - zum Zweiten - ein wertschätzender Umgang, wenn eine Kündigung im Raum steht. Hierbei spielt es keine Rolle, ob der Mitarbeiter das Unter-nehmen verlassen möchte oder von Seiten der Einrichtung kein Interesse mehr an einer Zusammenarbeit besteht. Um ein Gespräch wird sich gekonnt gedrückt. Wenn man Glück hat, erhält man als Vorwarnung eine SMS vom direkten Vorgesetzten über die im Briefkasten zu erwartende Kündigung. Dies berichtete mir eine exami-nierte Altenpflegerin kürzlich. Als Begründung wurde ihr ein wiederholtes Krank werden innerhalb der Probezeit benannt. Darauf, dass die Kündigung bereits mehrere Tage vor einem weiteren Dienstausfall ausgestellt war, achtete man nicht mehr.

Es reicht nicht, Chef zu spielen! Man muss es auch sein! Das betrifft nicht nur das Verhalten im Kündigungsfall, sondern auch die Fälle, in denen die das Leben und die Gesundheit der Bewohner gefährdende Umstände bekannt werden. Hierzu zählen jegliche Grenzüberschreitungen im direkten Bewohnerkontakt, aber auch dienst-gefährdende Verhaltensweisen des Personals, wie das Verlassen eines geschlos-senen Wohnbereiches zum gemeinsamen Rauchertreffen in einem anderen Ge-bäude. Von einer Abmahnung wurde hier abgesehen, da die Betroffenen immer eine so gute Arbeit machen (laut Bewertungsbogen mit Sicherheit). Wie kann es dann sein, dass sich alle Mitarbeiter eines Hauses gerade am Weihnachtsabend zur Zeit des Festessens zum Rauchen und Tratschen versammeln, anstatt mit den Bewoh-nern eine besinnliche, warme und liebevolle Zeit zu verbringen? Und wie kann ich es mir dann als Pflegekraft noch anmaßen, darüber zu jammern, wie anstrengend die Arbeit in der Pflege ist und wie schlecht die Bedingungen für das Personal sind? Ich habe noch keinen Berufszweig erlebt, in dem man von acht Stunden - sagen wir mal hoch geschätzt - effektiv vier arbeitet, aber das Gehalt für eine Vollzeittätigkeit erhält. Hier möchte ich vorwegnehmen, dass das nicht bedeutet, dass es nichts zu tun gäbe, um die acht Stunden eines Arbeitstages auszufüllen. Da wäre die Mobilisation der Bewohner. Manche verbleiben tagelang im Bett, andere verrichten den Mittags-schlaf sitzend im Rollstuhl am Tisch im Speisesaal. Wieder andere dürfen ein Nicker-chen im Bett machen, werden dann aber bis zum nächsten Morgen nicht mehr herausmobilisiert. Die Mahlzeiten werden im Eiltempo abgehalten, eine warme Suppe wird gar nicht erst angeboten oder als Basis für die gesamte Mahlzeit ver-wendet. Warum sollte man einem Bewohner zweimal das Essen eingeben, wenn man das Brot, was er eigentlich noch kauen könnte, doch auch gleich in der Suppe aufweichen kann? Warum sollte man Unterstützung bei Toilettengängen geben, wenn man dem Bewohner doch am Morgen die Einlage mit der höchsten Saugstärke angelegt hat? Warum sollte man Zeit mit dem Föhnen von langen Haaren ver-bringen, wenn man den Friseur anweisen kann, eine heimtaugliche Kurzhaarfrisur zu schneiden? Warum sollte man versuchen einem Menschen mit Demenz Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln, wenn man durch die Gabe eines Sedativums doch viel schneller wieder seine Ruhe hat? Warum sollte man überhaupt mit irgendeinem Bewohner kommunizieren? Vor allem, wenn in der Pflegeplanung aufgeführt ist, der Bewohner kommuniziert nicht mehr? Ist er tot? Sollte ich nicht wenigstens jetzt etwas unternehmen? Wie kann man sich erdreisten, bei einer solchen Arbeitsweise noch zu jammern? Das ist und bleibt mir unbegreiflich! Und wie kann ich als Pflegedienst-leitung und Einrichtungsleitung nur davor die Augen verschließen? Ein Vorgesetzter der Desinteresse vorlebt, wird Desinteresse ernten! Ein hausgemachtes Problem, kein politisches! Und herausgeworfenes Geld! Jemanden für acht Stunden bezahlen, der nur vier Stunden arbeitet? Welcher Unternehmer macht so etwas? Geld für neue Möbel einer Raucherecke ausgeben, anstatt es den Bewohnern zugutekommen zu lassen? Wofür? Für noch mehr Pausen? Für noch mehr untätiges Herumsitzen, während der ein oder andere schon ganz unruhig auf seinem Platz hin und her rutscht, weil die Blase nach drei Stunden nun doch ein wenig gefüllt ist? Ist es not-wendig, jedes Jahr neue Dekomaterialien zu kaufen? Dinge, die einfach nur irgend-wo herumstehen, können nicht kaputt gehen und weisen auch keine Abnutzungs-erscheinungen auf. Und wieso kommt neu Gekauftes nur im Eingangsbereich eines Hauses zum Einsatz? Wieso bekommen die Bewohner, die ihren Wohnbereich ohne fremde Hilfe nicht mehr verlassen können, den so wunderschönen Oster- oder Weih-nachtsschmuck nicht zu Gesicht? Wieso gibt man zu Festen Geld für Lebkuchen-herzen aus, die dann nicht für alle Bewohner reichen? Und wieso muss dann ent-schieden werden, welcher Bewohner kein Herz bekommt, weil er doch sowieso nichts mehr merkt? Wieso werden Feste nur für die Außenwirkung und nicht zum Wohle und Spaß der Bewohner organisiert? Wieso schmeißt man Geld, wovon man angeblich immer zu wenig hat, so aus dem Fenster? Und wieso bekommt man so oft zu hören, dass es eben anders nicht geht?

Ich sage es geht anders! Ich sage, es geht um ein so vieles besser für Bewohner, für Angehörige, für Mitarbeiter in Altenpflegeeinrichtungen und das, trotz verbesserungs-würdigem Pflegeschlüssel und dem in aller Munde herrschenden Fachkräftemangel, einer Argumentation auf der sich die Pflege nur zu gerne ausruht. Hier jedoch auf das Wunder der Eigeninitiative zu warten, wäre verheerend. Die Grundvoraus-setzungen müssen stimmen. Hierzu zähle ich das Gehalt, die Qualifikation, aber auch die Ausstattung, um eine vollumfängliche und gute Pflege zu gewährleisten. Als ein Beispiel hierfür möchte ich den Lifter als Mobilisationshilfe erwähnen. Meines Erachtens ist ein Lifter, sowie eine Aufstehhilfe ein Muss auf jedem Wohnbereich. Ein Gerät pro Haus ist zu wenig. Es ist nicht nur der zeitliche Aufwand, der benötigt wird, das Gerät von einem Stock in den anderen zu transportieren, es ist zudem die Tat-sache, dass man ihn dort, wo man ihn wegholt, auch braucht. Wie also wird eine Person mit Pflegestufe III mobilisiert? Man greift zu zweit unter die Achselhöhle und hebt den Pflegebedürftigen in den Roll- oder Pflegestuhl. Bewohner, die unter Kontrakturen leiden, werden - anstatt im Liftertuch - im „Waschstuhl“ geduscht, auf dem sie kaum zum sitzen gebracht werden können. Dass dies alles andere als angenehm ist, sollte sich jeder vorstellen können. Unangemessen lange Pausen-zeiten können reduziert werden, indem Arbeitsabläufe streng vorgegeben werden. Es hört sich an wie eine Maßnahme aus dem Kindergarten, ist, da aber ein Appel-lieren an den gesunden Menschenverstand zu keinem Ergebnis führt, die Ultima Ratio in diesem Fall. Hier sind besonders die Pflegedienstleitungen und Heim-leitungen als Kontrollinstanzen gefordert. Der Blick muss auf das Leben der Bewoh-ner und deren Angehörige gerichtet sein. Die Ressourcen von hilfsbereiten Ange-hörigen werden nicht genutzt, stattdessen wird es als unangenehm empfunden, wenn sich jemand besonders um seine Mutter oder seinen Vater bemüht. Auch hier gilt es, Wertschätzung zu signalisieren. Ein regelmäßiger Angehörigenabend, ein nettes Beisammensein, kann viele Blockaden lösen, da gerade in entspannter Atmosphäre versteckte Wünsche und Sorgen leichter zum Ausdruck gebracht werden. Angehörige können zudem in die Planung von Festen oder Ausflügen eingebunden werden. Wie oft höre ich, was alles nicht möglich ist, weil man nicht genug Mitarbeiter hat. Dabei bräuchte man die helfenden Hände nur mit offenen Armen empfangen. Die Mitarbeiter der Sozialen Betreuung und Beschäftigung benötigen ein größeres Wissen zu Krankheitsbildern und damit verbundenen Ver-haltensweisen, sowie frische Impulse, um im wahrsten Sinne des Wortes Leben in die Bude zu bringen. Warum kann das Frühstück am Sonntag mit Hilfe der Sozialen Betreuung und Beschäftigung nicht etwas Besonderes sein? Warum werden keine Ausflüge geplant, an denen auch stärker gehandicapte Bewohner teilnehmen können? Warum werden Trinkgelder für Trinkgelage der Pflege verwendet, anstatt einem sozial schwachen Bewohner die Teilnahme an einem Ausflug zu ermöglichen? Warum gleichen Feste einer Art Trauerveranstaltung, auf denen die Mitarbeiter nur signalisieren, dass ihnen das eigentlich alles viel zu viel Arbeit und Stress ist? Warum gibt es keinen Frühschoppen mit einem kühlen Bier für die Männer? Warum besteht ein „Italienischer Abend“ aus der Bestellung einer Pizza und ein wenig Gedudel aus dem Radio? Und warum gibt es keinen griechischen oder schlicht und ergreifend bayerischen Abend? Warum gibt es keine Tanzveranstaltung oder Geburtstagsfeiern? Warum müssen „Feste“ spätestens um 19:00 Uhr beendet sein? Warum wird der Bereich der Pflege nicht in derartige Veranstaltungen eingebunden? Warum werden Bewohner nicht in Vorbereitungen integriert? Warum gibt es keine Tiere? Warum kooperiert man nicht mit Kindergärten oder Schulen? Warum ist es nicht möglich, einmal selbst einkaufen zu gehen? Warum ist es nicht möglich, sich das Essen selbst zu wählen. Warum ist alles so lieblos, Hauptsache man hat es gemacht? Warum ist alles überhaupt nicht lebenswert? Warum gibt man beim Einzug in ein Heim sein Leben ab? Und warum wundert man sich dann, dass die Bewohner verstummen?

Ich bin fassungslos über so viel Unmenschlichkeit! Ich bin wütend auf ein System, das nicht ehrlich mit sich selbst ist! Ich bin wütend darauf, diesen Brief schreiben zu müssen!

Anika Sterr
März 2015

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