Blog-Artikel

04.09.2017 14:25
Krasse Unfairness in Europa  

Die rechten Parteien geben in Europa den Ton an, treiben die regierenden Parteien mit Provokationen vor sich her und zu unsolidarischem Handeln gegenüber den Flüchtlingen. So ist eine krasse Unfairness in Europa entstanden – wider jede Vernunft und jenseits der europäischen und internationalen Verpflichtungen. Denn keinem Land wird etwas abverlangt, was es nicht zu leisten im Stande ist. Aber es wird suggeriert, das Abendland gehe unter, wenn vor Gewalt, Krieg und Terror Flüchtende für eine gewisse Zeit nach Europa kommen dürfen.

Im Interview mit FR-Redakteur Victor Funk kritisiert die Politikerin Ska Keller die misslungene Umsiedlung Geflüchteter in der Europäischen Union.

Frau Keller, woran, meinen Sie, ist das Programm gescheitert, mehr Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen?

Den Mitgliedsstaaten fehlt der politische Wille zur Solidarität. Sie lassen sich von rechtspopulistischen Ressentiments statt von europäischer Verantwortung leiten. Die allermeisten Mitgliedsstaaten handeln nach dem Motto „Sollen sich doch die anderen um die Flüchtlinge kümmern“. Sie machen Abschottung statt Solidarität zum Leitprinzip der europäischen Flüchtlingspolitik. Auch die Bundesregierung führt das Wort „Solidarität“ zwar gern im Munde, aber wenn es darum geht, Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufzunehmen, ist sie säumig. Sie erfüllt nicht einmal ein Drittel ihrer Verpflichtungen, obwohl die Aufnahmelager in Griechenland und Italien immer noch überfüllt sind, während sie in Deutschland mittlerweile leer stehen. Das ist ein untragbarer Zustand. Trotzdem ist das Umverteilungsprogramm ein wichtiger, wenn auch kleiner Schritt in die richtige Richtung. Damit ist das Dublin-System (die Verordnung, nach der Migranten, in dem EU-Land um Asyl ersuchen müssen, in dem sie zuerst ankommen, d. Red.) erstmals aufgeweicht und durch einen verbindlichen Umverteilungsmechanismus ergänzt worden.

Welche Möglichkeiten hätte die EU-Kommission, von EU-Mitgliedern die Einhaltung der Zusagen zu erzwingen?

Wir dürfen es den EU-Mitgliedsstaaten nicht durchgehen lassen, dass sie sich vor der gemeinsamen Verantwortung für Flüchtlinge in Europa drücken. Deshalb ist es richtig, dass die EU-Kommission klare Kante gegen Mitgliedsstaaten zeigt, die die Flüchtlingsumverteilung boykottieren. Sie muss die im Juni eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, Polen und die Slowakei mit aller Konsequenz vorantreiben. Die allermeisten Mitgliedsstaaten handeln nach dem Motto „Sollen sich doch die anderen um die Flüchtlinge kümmern“.

Und wenn sie sich trotzdem weigern?

Wenn diese Mitgliedsstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen weiter blockieren, sollte die EU-Kommission über weitere Schritte nachdenken. Sie sollte ihnen die EU-Zuschüsse für die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern in deren Heimatländer streichen. Wer keine Flüchtlinge aufnehmen will, sollte auch keine EU-Unterstützung dafür bekommen, Leute wieder loszuwerden.

Hat das jetzige Umverteilungssystem eine Zukunft?

Wenn wir völlig überfüllte Flüchtlingslager und unhaltbare Zustände für Schutzsuchende in den südlichen Grenzstaaten der EU vermeiden wollen, brauchen wir in der EU einen funktionierenden Umverteilungsmechanismus. Griechenland und Italien können die Aufnahme von Asylsuchenden nicht alleine stemmen. Deshalb ist es wichtig, dass die jetzige Umverteilung so lange weiterläuft, bis wir ein permanentes solidarisches Verteilungssystem bekommen. Wir Grüne fordern seit langem, dass das Dublin-System abgeschafft und durch ein gerechtes Verteilungssystem ersetzt wird. Dabei müssen auch Anknüpfungspunkte von Asylsuchenden berücksichtigt werden. Flüchtlinge, die bereits die Sprache eines Mitgliedsstaates sprechen, dort Verwandte haben oder berufliche Anknüpfungspunkte, tun sich deutlich leichter mit der Integration“.

Schon einmal haben die Länder Europas und außereuropäische Länder versagt, als verfolgte Minderheiten vor Unterdrückung, Terror, Verfolgung und Vernichtung aus Deutschland fliehen wollten. Denn etliche europäische Mächte hatten sich mit der Gewalt der Nationalsozialisten gegen Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, kritische Wissenschaftler, Journalisten und Künstler gemein gemacht. Etwa 12 bis 14 Millionen Deutsche und deutschstämmige Angehörige verschiedener Staaten waren zwischen 1944/45 und 1950 von Flucht und Vertreibung betroffen. Nur in geringem Maße wurden sie in andere Staaten hineingelassen. Lässt sich aus solchem Schicksal nichts lernen?

"Ska Keller im Interview mit der Frankfurter Rundschau"

Gesellschaft
  Blog-Artikel
  Blog-Kategorien
  Blog-Archiv