Die Ouvertüre dieses fulminanten Werkes heißt „Vertrauen“. Damit ist der Tenor im ersten Kapitel für das gesetzt, was Klaus Michael Leisinger auf 408 Seiten zu vielen Facetten dessen entfaltet, was „Integrität im geschäftlichen Handeln“ bedeutet, sein kann, sein soll und sein darf. Wobei das Gegenteil auch zur Sprache kommt, kommen muss, doch das bekommt hier kein Übergewicht. So ist das Handbuch eine fundierte Reflexions- und Praxisanleitung zu integrem Business und Führungshandeln.
Der Sozialwissenschaftler Leisinger ist Gründer und Präsident der Stiftung Globale Werte Allianz. Er war bis 2013 der Stiftungsratspräsident und CEO der Novartis Stiftung und ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Basel. Gut 50 Jahre Praxiserfahrung, darunter viele Jahrzehnte in oberster verantwortlicher Position, verbinden sich bei Leisinger mit gründli-chen wissenschaftlichen Kenntnissen und einer überzeu-genden ethischen Denkungsart. So macht er klar: „Das Schaffen von Mehrwert muss einhergehen mit Schaffen von Vertrauen“. Dazu gehören nicht nur „auf integre Weise erzielte Erfolge am Produkt- und Dienstleistungsmarkt, sondern auch glaubwürdige Teilnahme am öffentlichen Diskurs über den Beitrag geschäftlichen Handelns zum Gemeinwohl“. Insofern handeln „verantwortungsbewusste Führungspersönlichkeiten“ über das gesetzlich Vorgeschriebene hinaus.
Leisinger gilt „die Erhöhung der ethischen Qualität unternehmerischen Handelns“ als „Voraussetzung für eine men-schenwürdige Gegenwart und Zukunft“. Was er an die „Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung“ der UN und die Leitgedanken der Enzyklika „Laudato Si‘“ von Papst Franziskus bindet. Vertrauen ist also von Leisinger in einem weit umfassenderen und grundsätzlichen Sinne aufgefasst als das einfach verstandene, unmittelbare Vertrauen zwischen wenigen Menschen. Vertrauensaufbau und –erhalt bezieht sich auf den Sockel jeglichen geschäftlichen Handels, jegliche kommunikative Interaktion und auf die Tugendethik der Entscheidungsträger. Dies ist durch einen ordnungspolitischen Rahmen, den Leisinger Wirtschaftsethik nennt, und durch betriebliche Selbstverpflichtungen, die er Unternehmensethik nennt und die sich oft in einem Leitbild spiegeln, abzusichern und anzuregen.
Das Zentralstück des Buches ist „Die Sache mit der Ethik“, in dem Leisinger die unterschiedlichen Ethik-Typen wie etwa Pflichtethik, Tugendethik, Diskursethik und Situationsethik, jedoch auch ethische Ansätze „nach christlichen Sozialethi-ken“ und nach der Verantwortungsethik beschreibt. Dabei geht er begrifflich und argumentativ sehr präzise vor, dass es wie im ganzen Buch eine Freude ist, seinen Ausführungen zu folgen. Leisinger spielt die ethischen Handlungsansätze nicht gegeneinander aus, wie das oft Mode ist, sondern findet ihr gut begründetes und für die Praxis taugliches Zu- und Miteinander heraus. Zu Recht stellt er heraus, dass „Menschen, besonders jene im Geschäftsleben in der Regel nicht die Möglichkeit haben, sich unter Wettbewerbs- und Zeitdruck sowie Ressourcenknappheit zurückzulehnen“ und über die dargelegten Ansätze nachzudenken. Dazu fordert selbst die Darstellung von Leisinger in diesem Kapitel einiges an Denkanstrengung denen ab, die in solcher Materie nicht mal eben sehr bewandert sind. Hilfreich dabei seine Perspektive: „Die meisten ethisch relevanten Probleme, die sich im geschäftlichen Alltag stellen, ergeben sich aus dem Mangel an anständigem, weil respektvollem und achtsamem Umgang mit den Menschen innerhalb und außerhalb des Unternehmens“.
Was die Rolle von Unternehmen gegenüber und im Zusam-menspiel mit Staat und den Individuen bedeutet, klärt Leisinger mit den „drei Ebenen der ethischen Reflexion“: 1. der „Ordnungs- bzw. Wirtschaftsethik“, durch die verant-wortungsvolles Handeln gesetzlich herausgefordert und „unverantwortliches Handeln entmutigt und bestraft wird“; 2. der „Gouvernance-Ethik im Sinne der Reflexion und Ent-scheidung über firmeninternen Regelungen“, durch die das Gewinnstreben in die unternehmerische Verantwortungs-kultur eingebettet und das erwünschte Handeln von Mitar-beitern unterstützt wird; 3. die „personale Ethik, durch die sichergestellt wird, dass Menschen im Unternehmen die erwünschte ethische Grundhaltung haben“ und auch bei Stress und Konflikten aufrechterhalten. Denn „richtiges Entscheiden und Handeln ist auf jeder Ebene wichtig für das Gesamtresultat ethischer Bemühungen. Die personale Ethik hat eine herausgehobene Bedeutung“. Dabei müssen drei Ebenen der Verantwortung im Blick sein: die Muss-, die Soll- und die Kann-Dimension der Verantwortung. Die Muss-Dimension ist die Sorge um die Legalität, die Produktivität, die Effektivität und die Innovation im Business.
Doch auch „legales Handeln kann illegitim sein“. Daher gilt es darüber hinaus, dass Führungspersönlichkeiten das Rich-tige tun und dadurch „absehbare Schäden legalen Handelns vermeiden sowie zusätzliche Beiträge an das Gemeinwohl leisten“. Die Goldene Regel hat hier eine maßgebliche Be-deutung, so dass es zu keinen „doppelten Standards“ kommt und zu klaren Kriterien wertorientierten Handelns. Dazu gehören unter anderem Ehrfurcht vor dem Leben, Respekt der Menschenwürde, Gewaltverzicht, Schöpfungs-bewahrung, Freiheitsrechte, Gerechtigkeit und Fairness. Damit ist der Übergang zur Kann-Dimension von Verantwor-tung schon gelegt. Was können Führungspersönlichkeiten und Unternehmen „zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme beitragen“? Leisinger mit jahrzehntelanger Expertise im Umgang und in der Kommunikation und Partnerschaft mit Stakeholdern und Nichtregierungs- und Nonprofitorganisationen erschließt die „Beziehungen zu Stakeholdern“ für die Praxis im Business. Dadurch haben Führungspersönlichkeiten die Möglichkeit, „am Puls gesellschaftlichen Wertewandels zu sein und durch Kommunikation mit Akteuren aus anderen Teilsystemen bessere Lösungen für Probleme von strategischer Bedeutung zu finden“. Das wird aber nur gelingen, wenn „Führungspersönlichkeiten statt Manager“ die Verantwortung tragen. Denn von der „Persönlichkeit der Entscheidungsträger“ hängt es ab, was jenseits gesetzlicher und internationaler Normen geschieht oder unterlassen wird.
Damit eröffnet das wichtige Kapitel über „Charakter und Persönlichkeit“, in dem Leisinger nach der Sozialphilosophie und –psychologie von Erich Fromm (1900-1980) die „Kriterien für das Anforderungsprofil von Führungspersönlichkeiten“ konturiert. Dazu gehören im Frommschen Sinne Für-sorge, Verantwortungsgefühl, Achtung vor Anderen und Erkenntnis. Ohne eine kritische Selbstreflexion lässt sich Integrität und fundierte Führung im geschäftlichen Handeln nicht erreichen. Das trägt zur Bescheidenheit bei, wo Hybris durch Erfolge oder Lobhudelei – modern bisweilen PR genannt – naheliegend ist. Das hat Folgen für die Unternehmenskultur. Leisinger: „Ich habe nie erlebt, dass bei informellen Gesprächen bei Firmenseminaren oder Arbeitspausen geschweige in Fallstudien besonders sensibles, menschenfreundliches Handeln und Verhalten als vorbildlich herausgestellt wurde“; Graubereiche sind oft akzeptiert. Es gibt seiner Ansicht nach „nicht ‚die eine richtige‘ Kultur für eine Organisation. … Eine rigide Verfestigung der Organisa-tionskultur sollte vermieden werden“.
Entscheidend bleibt eine offene Unternehmenskultur: „mit einer offenen Organisationskultur ist ein Unternehmen in der Lage, permanent mit seinem sozialen Umfeld zu kommunizieren. … Eine solche Unternehmenskultur aufzubauen, glaubwürdig vorzuleben und nachhaltig zu pflegen, gehört zu den bedeutungsvollsten Aufgaben des Topmanagements“. Dazu sind intrinsische motivierte, charaktergefes-tigte, ethisch reflektierte, fach- und führungskompetente Persönlichkeiten unerlässlich, die zu ihrem Arbeitsinhalt und –umfeld passen.
Dafür schlägt Leisinger „Leadership für einen neuen Gesellschaftsvertrag“ vor: „Es geht um einen von allen Akteuren anerkannten Gesellschaftsvertrag, der die impliziten und expliziten Abmachungen und Erwartungen festlegt, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft im Licht neuer Rahmenbedingungen regelt.
Dafür braucht es „aufgeklärte Führungspersönlichkeiten“, die Führende und nicht Nachvollziehende sind. Und die sich so für ihr Unter-nehmen so einsetzen, dass sie dabei zugleich das Gemeinwohl verfolgen, in das ein Unternehmen und vor allem die Menschen als Konsumenten, Produzenten, Bürger, Mediennutzer, Wissenschaftler, Verbandsvertreter usw. eingebettet sind. Dazu kann die Beachtung der „UNO Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte“ dienen. Denn wie wir in der Pandemie und globale Klimakrise erfahren, sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Realität weltweit so miteinander vernetzt, dass es keinen nachhaltigen Erfolg für die einen auf Kosten der anderen gibt. Es sei denn, man bastelt sich einen mickrigen Begriff von Nachhaltigkeit, der am Anliegen vorbeigeht. Dagegen aber gibt es „Nachhaltigkeit unternehmerischen Erfolgs“ durch Anstrengung der Einzelnen, der Führungspersönlichkeiten, der Gruppen und aller am geschäftlichen Handeln Beteiligten, wenn Integrität zum Markenkern jeglicher Führung wird. Dafür hat Klaus Leisinger eine grandiose Summe seines Wissens und seiner Erfahrung zum Thema vorgelegt, ein Leitbild für Führung vorge-legt. Ihm ist eine nachhaltige Wirkung bei allen mit Führung und Verantwortung Betrauten zu wünschen ist. Norbert Copray
Klaus M. Leisinger: Integrität im geschäftlichen Handeln. Reinhardt Verlag, Basel 2020. 431 Seiten. 29,80 €
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