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15.09.2021 15:39
Nach der Bundestagswahl 2021: Klimakrise bewältigen ohne Verbote?  

Peter Neher, Präsident der Caritas, plädiert dafür, kein Schindluder mit Verboten zu treiben. Man stelle sich eine Verkehrsordnung ohne Verbote vor oder beim Bauen die Abwesenheit von Bauvorschriften. Fair wird das für die finanziell und psychisch Schwächeren auf keinen Fall, sondern ein unfairer Dschungel zugunsten der Stärkeren und Unfairen. Daher meint Neher:

„Das große Tabuwort des Wahlkampfs zur Bundestagswahl 2021 ist „Verbote“. Wehe, Wähler oder Wählerin wittern hinter der Parteiprogrammatik die Absicht, irgendwas zu verbieten, dann hätten wir ihre Stimme verloren – so scheinen die meisten Kandidatinnen und Kandidaten zu denken. Sie winden und wenden sich, machen aus Verboten „ordnungspolitische Maßnahmen“ oder schließen sie regelrecht aus.

Diese Verbotsscheu bezieht sich zumeist auf die Klimapolitik, wohlbemerkt. In anderen Bereichen ist es offensichtlich nicht so verpönt, Verbote auszusprechen – CDU und SPD wollen verfassungsfeindliche Organisationen verbieten, die Union die Prostitution von Schwangeren, die FDP Operationen an intergeschlechtlichen Kindern. Aber wenn es ans klimafeindliche Konsumverhalten geht – Autofahren, Reisen, Heizen, Essen – ist Verbot ein Schimpfwort. Auch die Grünen nehmen das Wort zuletzt ungern in den Mund.

Verbote sind eigentlich selbstverständlich

Ich für meinen Teil freue mich, in einem Land zu leben, in dem Produkte und Handlungen verboten sind, welche mir und anderen schaden können. Es ist verboten, ohne Führerschein zu fahren und mittlerweile auch ohne Autogurt – lebensschützende Regeln. Dass es verboten ist, seine Kinder von der Schule fernzuhalten oder arbeiten zu lassen, finden wir selbstverständlich. All diese Verbote sind ein Ausdruck dafür, dass der Staat es mit dem Schutz und Wohl seiner Bürgerinnen und Bürger ernst meint. Auch die bisherige Bewältigung der Corona-Pandemie ging nur mit Ver- bzw. Geboten.

Warum sollte dieser Grundsatz nicht in der Klimapolitik gelten? Die Klimakrise sorgt – nicht mehr nur in fernen Ländern, wie dieser Sommer uns schmerzhaft vor Augen geführt hat – für Katastrophen, die Existenzen vernichten. Sie verringert die Lebenserwartung von Menschen. Sie beraubt künftige Generationen einer lebenswerten Zukunft. Und gerade die Ärmsten sind ihr ausgeliefert. Deshalb ist Klimaschutz ein Caritas-Thema – die anwaltschaftliche Arbeit im Namen der Schwächsten ist schließlich unser Metier.

Auch wenn es mich selbst trifft: Verbote müssen her

Ich will, dass der Staat seinen Teil dazu beiträgt, mich, künftige Generationen und gerade die Vulnerabelsten vor den Folgen der Klimakrise zu schützen. Ich will, dass er dafür alle Instrumente nutzt, die er zur Verfügung hat. Auch Verbote. Und zur Not auch Verbote von Sachen, die auf den ersten Blick praktisch oder preiswert sind; die Teil unseres Lebens sind; die die meisten Menschen genießen. So würde es sicherlich Sinn ergeben, dass Öl- und Gasheizungen verboten werden. Verbrennermotore bei Neuwagen. Die Intensivtierhaltung. Die Verbrennung von Kohle. Innerdeutsche Flüge.

Letzteres würde mich als jemanden, der (in Normalzeiten) oft zwischen Berlin und Freiburg, Hauptsitz der Caritas, unterwegs ist, vermutlich mehr treffen als andere Verbotsmaßnahmen. Trotzdem sag ich: Verbieten! Dann stellt sich für mich die Frage Flug oder Bahn nicht mehr.

An diesem Beispiel wird klar: Aus den Verboten entsteht für die Politik die Pflicht, dafür zu sorgen, dass es gute, erschwingliche klimafreundlichere Alternativen gibt. In diesem Fall: dass die Bahnverbindung Freiburg-Berlin perspektivisch weniger als sieben Stunden braucht, dass ich einigermaßen sicher sein kann, pünktlich ans Ziel zu kommen – und das zu einem vernünftigen Preis, wenn ich kein Vielfahrer bin.

Viele Menschen – ich wage sogar zu sagen, die meisten – wissen, was man im Interesse des Klimas tun und lassen sollte. Das reicht im Alltag aber nicht aus. Es braucht den passenden gesetzlichen, „ordnungspolitischen“ Rahmen – die Verbote und Gebote. Der Staat darf sich in einer so wichtigen Frage wie der Klimakrise nicht seiner Verantwortung entledigen, indem er alle Entscheidungen auf den Bürger und die Verbraucherin abwälzt.

„Verbote“ gegen „Freiheit“ auszuspielen, wie das getan wird, ist insofern verkehrt, als dass die Klimakrise längst unsere Freiheit einschränkt, unsere Gesundheit, unser ganzes Leben. Welche Freiheit hatten die Menschen, die in Sizilien zuletzt unter Temperaturen von 50 Grad wochenlang das Haus nicht verlassen konnten? Wie ist das an Ahr und Erft – mitten in Deutschland?

Die Politik scheint zu glauben, Wahlentscheidungen würden von Fragen wie diesen abhängen: „Welche Partei erlaubt mir, weiterhin mit 200 Stundenkilometern zu rasen?“ oder „Welche Partei stellt sicher, dass ich für 29 Euro nach Mallorca fliegen kann?“ Das zeugt von erstaunlich wenig Respekt vor der Wählerschaft. Ich auf jeden Fall traue den Menschen ein bisschen mehr Weitsicht zu und bin sicher, dass fundierte Verbote Akzeptanz finden. Vorausgesetzt, die Politik sorgt für den entsprechenden Rahmen und schenkt uns reinen Wein ein“.

erschienen in der Frankfurter Rundschau 13.9.2021, S. 10

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