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24.07.2017 15:35
Entwickelt sich die Pflegesituation insgesamt weiter krass unfair?  

„Gut gemeint ist nicht automatisch gut gemacht“, meint Journalist und Redakteur Timot Szent-Ivanyi von der DuMont-Redaktionsgemeinschaft im Berliner Hauptstadtbüro. Der sogenannte Pflege-TÜV sei der beste Beweis dafür: „Mit wenigen Klicks im Internet herausfinden, ob ein Pflegeheim oder ein ambulanter Pflegedienst seine Arbeit gut macht – das war die Idee, als 2009 die damalige große Koalition das Benotungsverfahren einführte.

Doch die Pflegenoten erwiesen sich als untauglich. Sie verschleiern, statt aufzuklären. Die Politik hat Pflegekassen und -verbände daher beauftragt, bis Ende des Jahres ein neues Bewertungssystem zu entwickeln. Doch eine Einigung ist nicht absehbar. Das zuständige Gremium hat bereits angekündigt, die Frist nicht einzuhalten. Die Bertelsmann-Stiftung hat nun eigene Vorschläge vorgelegt, um die Debatte voranzutreiben.

Problematisch ist bisher, dass Pflegeeinrichtungen auch dann eine gute Gesamtnote bekommen können, wenn sie in Kernbereichen der Pflege schlechte Qualität bieten, etwa bei der Versorgung der Pflegebedürftigen mit Flüssigkeit und Nahrung oder bei der Verhinderung des Wundliegens (Dekubitus). Das ist möglich, weil die schlechten Einzelnoten durch gute Bewertungen in weniger wichtigen Bereichen („Gibt es im Pflegeheim jahreszeitliche Feste?“) ausgeglichen werden können. Dadurch liegt der bundesweite Durchschnitt bei einem unrealistisch guten Wert von 1,2. Außerdem ist die Schwankungsbreite der Gesamtnoten nicht sehr hoch.

Das entspricht nicht der Realität, wie auch eine aktuelle repräsentative Umfrage der Bertelsmann-Stiftung zeigt. Danach sehen über zwei Drittel der Befragten, die schon einmal nach einem Heim gesucht haben, starke Qualitätsunterschiede zwischen den Einrichtungen. 73 Prozent dieser Befragten meinen, die Personalausstattung der Heime sei „eher schlecht“ oder „sehr schlecht“. Gut die Hälfte befürchtet, im Fall der Fälle nicht das richtige Heim zu finden, weil ihnen durch die gegenwärtigen Pflegenoten wichtige Informationen zur Auswahl fehlen. Die Befragten wünschen sich vor allem Informationen zur fachlichen Qualität der Pflege (94 Prozent), zur Ausstattung und zu den Leistungen der Pflegeheime (92 Prozent) sowie zu Anzahl und Qualifikation des Pflegepersonals (88 Prozent).

Im Rahmen ihres Gesundheits-Internetportals „Weiße Liste“ hat die Bertelsmann-Stiftung ein Konzept erarbeitet, das diesen Anforderungen gerecht werden soll. „Wie bei den Pflegenoten befürchten wir, dass sich Pflegekassen und Anbieter nur auf einen aus Sicht der Verbraucher unzureichenden Kompromiss einigen können“, sagte der Gesundheitsexperte der Stiftung, Stefan Etgeton, der Frankfurter Rundschau. „Im Mittelpunkt einer Reform muss das Interesse der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen stehen.“

Das Konzept für ein Internet-Vergleichsportal sieht daher unter anderem vor, dass neben der eigentlichen Pflegequalität (Ernährung, Vorsorge gegen Stürze oder das Wundliegen) auch Informationen zur Personalausstattung veröffentlicht werden. Konkret geht es um den Pflegeschlüssel, also die Angabe, wie viele Pflegebedürftige ein Mitarbeiter betreut. Zudem soll die Qualifikation der Pfleger durch eine Skala angezeigt werden. Dabei sollen unter anderem der Anteil der Fachkräfte sowie die Spezialausbildungen der Beschäftigten (zum Beispiel für die Betreuung Demenzkranker oder für beatmete Pflegebedürftige) berücksichtigt werden.

Generell soll es keine Noten geben, sondern leicht verständliche Piktogramme, also zum Beispiel einen Haken bei unauffälligen Werten, einen grünen OK-Daumen bei überdurchschnittlichen Bewertungen und ein rotes Warndreieck bei auffälligen Befunden. „Die Ergebnisse werden am besten zusammengefasst, indem vor besonders schlechten Anbietern gewarnt wird und indem besonders gute Anbieter sichtbar gemacht werden, um zusätzlich einen Anreiz für Qualitätsverbesserungen zu geben“, so Etgeton. Dafür seien Grenz- und Schwellenwerte nötig, die entweder fachlich begründet oder statistisch ermittelt werden.

Die Bertelsmann-Stiftung plädiert zudem dafür, Erfahrungsberichte von Heimbewohnern und Angehörigen, verbunden mit einer Zufriedenheitsskala, zu veröffentlichen. Die Heime sollen im Gegenzug eine Möglichkeit bekommen, die Berichte zu kommentieren.

Um dem Wunsch der Betroffenen nach Informationen zur Ausstattung der Heime gerecht zu werden, fordert die Bertelsmann-Stiftung einen verpflichtenden „Strukturbericht“, der die Suche nach einer Einrichtung vereinfachen soll. Darin soll unter anderem festgehalten werden, welche religiösen Angebote es gibt, ob Haustiere oder eigene Möbel mitgenommen werden können, wie groß die Zimmer sind oder ob ein Garten und ein Gruppenraum existieren.

„Was für den einen egal ist, kann für den anderen ein Ausschlusskriterium bei der Suche nach einem geeigneten Pflegeheim sein“, begründete Etgeton den Vorschlag“. So schreibt Szent-Ivanyi in der Berliner Zeitung und in der Frankfurter Rundschau.

Die Zeit drängt, denn die Anzahl der Menschen, die nach einem Heimplatz suchen oder suchen müssen, wächst. Und niemand möchte unprofessionell, sozial karg und unfair behandelt werden. Der Druck auf Politik und Pflegekassen muss zunehmen. Sonst entwickelt sich das System noch unfairer als bisher: . Dabei sind die geringen Gehälter für Pflegekräfte noch nicht einmal ausreichend einbezogen. Die vielen Pflegebedürftige, die privat zuhause gepflegt werden, bedürfen auch erhöhter Aufmerksamkeit. Hinzu kommen nicht „Sklavinnen, die uns pflegen“ (Die Zeit): „Beleidigt, geschlagen, keine Freizeit: Hunderttausende Osteuropäerinnen versorgen in deutschen Haushalten Menschen. Das ist meist verboten, wird aber selten verfolgt“. In Summe ist also die Pflegesituation in Deutschland krass unfair.

2,9 Millionen Pflegebedürftige insgesamt
zu Hause versorgt: 2,08 Millionen (73 %)
in Heimen vollstationär versorgt: 783 000 (27 %)
durch Angehörige: 1,38 Millionen
durch ambulante Pflegebedürftige
zusammen mit/durch ambulante Pflegedienste: 692 000 Pflegebedürftige
"Pflegestatistik 2017")

Was verdienen Pflegekräfte?
Der Mindestlohn für Pflegekräfte wird bis Anfang 2020 in mehreren Schritten auf 11,35 Euro pro Stunde im Westen und 10,85 Euro im Osten erhöht. Das geht aus einer Verordnung von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hervor.
Derzeit beträgt der Mindestlohn-Satz für Pflegekräfte 10,20 Euro in Westdeutschland und 9,50 Euro im Osten. Zum 1. Januar 2018 soll er auf 10,55 Euro (Westen) beziehungsweise 10,05 Euro (Osten) steigen. Die Lohnuntergrenze in der Pflege betrifft rund 908.000 Beschäftigte. In Privathaushalten gilt der allgemeine gesetzliche Mindestlohn von deutschlandweit derzeit 8,84 pro Stunde. ( laut dpa)

"Timot Szent-Ivanyi in Berliner Zeitung"

"Die ZEIT über osteuropäische Pflegekräfte"




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