In einem Gastbeitrag der Frankfurter Rundschau zeigt Peter Neher, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, dass wir Vielfalt als Chance begreifen müssen und Integration Gegenseitigkeit voraussetzt:
„Walid ist vor fünf Jahren nach Deutschland geflohen – ohne Deutschkenntnisse. Heute engagiert er sich als Dolmetscher, übersetzt vom Arabischen ins Deutsche. Lorin hat mittlerweile ihr Abitur gemacht und Ammar macht eine Ausbildung in der Gastronomie. Der Satz „Wir schaffen das“ von Kanzlerin Angela Merkel steht wie kein anderer für die Herausforderungen und Chancen des Jahres 2015 – aber auch für die Versäumnisse. Hunderttausende Schutzsuchende sind damals nach Deutschland geflüchtet. Seither ist viel passiert.
Die deutsche Gesellschaft ist ein Stück vielfältiger geworden, die staatlichen Strukturen und Sozialsysteme haben gut funktioniert und viele Beispiele zeigen, wie gut die Integration – aller Kritik zum Trotz – bisher funktioniert hat. Nicht vergessen aber dürfen wir auch den Höhenflug einer populistischen Partei, welche die Ängste von Menschen für sich zu nutzen wusste.
Die grundsätzlich positive Einschätzung hat nichts mit der rosaroten Brille zu tun, die uns als „Gutmenschen“ zugeschrieben wird, sondern speist sich aus den Erfahrungen der vielen Einrichtungen, Dienste, Beratungsstellen, ehrenamtlichen Helferkreise der Caritas, die tagtäglich mit der Realität, ihren Herausforderungen und Glücksmomenten konfrontiert sind. Dies ist nur wenigen bewusst.
Die Hochschule Macromedia in Hamburg hat kürzlich die Berichterstattung der Fernsehnachrichten, TV-Boulevardmagazine und überregionalen Tageszeitungen im Jahr 2019 zum Thema eingewanderte und geflüchtete Menschen ausgewertet. Sie fand heraus, dass Erfolge dort kaum eine Rolle spielen. Risiken – zum Beispiel Rechtsverstöße, Kosten, Angst vor Überfremdung – werden doppelt so häufig thematisiert wie die Chancen der Integration. Geflüchtete Menschen selbst kommen in den Beiträgen kaum zu Wort. Chancen sind aus dem Blick geraten. Prägend scheinen hingegen Ängste geworden zu sein, Sicherheitsbedenken oder das Gefühl, selbst vergessen zu werden. Geschichten wie die von Walid, Lorin und Ammar gehen unter. Obwohl in den vergangenen Monaten weitere Geschichten des Zusammenwachsens dazugekommen sind; zum Beispiel von Geflüchteten, die in Gelsenkirchen Mund-Nase-Masken für Einrichtungen der Altenhilfe genäht und Einkäufe für Risikopatienten getätigt haben.
Die Anstrengungen, die hinter jedem einzelnen dieser Schicksale liegen, sind enorm. Zahlreiche damals geflüchtete Menschen hatten nie eine Schule besucht, konnten nicht lesen und schreiben. Jetzt tun sie das in einer Fremdsprache. Viele von ihnen sind traumatisiert, müssen schreckliche Erfahrungen verarbeiten und sich gleichzeitig ein neues Leben in einem fremden Land aufbauen. Umso beeindruckender ist die Bilanz. Ist es dann vielleicht so, dass „sie“ es dank unglaublicher Anstrengungen geschafft haben, und nicht „wir“? Keinesfalls. Wer Integration so wahrnimmt, dass Menschen in eine bestehende Gesellschaft eingegliedert werden, missversteht den Prozess. Integration setzt Gegenseitigkeit voraus.
Wir, die schon immer oder lange hier leben, müssen dafür Vielfalt als eine Chance begreifen, auch wenn das dann und wann ziemlich herausfordernd sein kann. Anders gesagt: Die Geschichte einer motivierten jungen Frau aus Syrien wird nur dann zur Erfolgsgeschichte, wenn sie sich auf unsere (Arbeits-)Welt einlässt und ein Arbeitgeber sie als Auszubildende verpflichtet - trotz Kopftuch. Diese Bereitschaft, sich auf andere einzulassen, war und ist in Deutschland da. Wir vergessen das oft, weil die populistischen Stimmen, die das Gegenteil behaupten, überproportional laut sind. Viele, die sich haupt- oder ehrenamtlich für geflüchtete Menschen einsetzen, kennen es, als weltfremde Gutmenschen verunglimpft zu werden. Diese Stimmen vergiften unser Zusammenleben.
Wir haben vieles geschafft. Ist deswegen alles gut? Nein. Das würde bedeuten, dass all das, was 2015 begonnen hat, bereits ein Ende gefunden hat. Nach wie vor fängt für viele das Leben in Deutschland erst an. Immer noch ist die Zukunft für viele Menschen ungewiss, weil sie auf eine Entscheidung der Behörden warten oder auf Familienmitglieder, die noch auf der Flucht sind. Zudem bestehen die Fluchtursachen immer noch. Tausende Menschen harren in Flüchtlingslagern aus, etwa auf den griechischen Inseln, oder riskieren ihr Leben, um nach Europa zu gelangen, und würden doch liebend gerne in ihrer Heimat bleiben.
Eine europäische Migrationspolitik, die diesen Namen verdient, ist auch nach fünf Jahren nicht in Sicht. Wir können alle so oft wir wollen eine „europäische Lösung“ beschwören. Ich denke nicht, dass es sie auf absehbare Zeit geben wird. Das ist bitter – umso bitterer, wenn man sieht, welche Erfolge erzielt wurden. Ohne rosarote Brille“.
FR 18.8.2020, S. 10
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