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29.08.2012 12:38
„Unterm Strich zähl ich“ - Fairness platt gemacht  

Allen Wünschen und Beschwörungen zum Trotz: Es geht rücksichtslos zu in dieser Republik. Das reicht vom Benehmen im Zug über das Verhalten im Straßenverkehr und am Arbeitsplatz bis hin zur ungenierten Selbstbedienung der Top-Manager per Gehalt, Boni und Vergünstigungen. Das reicht von zahllosen Nachbarschaftskonflikten, die bis zum Gericht führen, über unfaire Attacken in Schule und Internet bis hin zu Schnäppchenjägern in Polit-Ämtern und Steuerhinterziehern unter den Vermögenden. Nach dem werbewirksamen Motto der Postbank: „Unterm Strich zähl ich“.

Der Spiegel-Journalist Jörg Schindler, 2009 mit dem Wächterpreis für investigativen Journalismus ausgezeichnet, fasst diese und andere Phänomene unter dem Begriff „Rüpel-Republik“ zusammen. Dazu erfasst er in Teil eins seines Buches viele typische Situationen des gegenwärtigen Deutschland, in denen die Rüpelei in unterschiedlichsten Varianten sichtbar wird. Doch gerät ihm das Buch nicht zur Klagemauer. Auch nicht zur Benimmfibel oder zu einem Knigge-Kurs. Denn ihm geht es um Grundsätzlicheres: „dass wir offenbar mehr gegen- als miteinander leben; dass wir der Maxime eines Baumarktes folgen – ‚Mach dein Ding!‘ – und uns nicht darum scheren, wem wir dabei auf die Füße treten“. Was Schindler zu der Frage führt: „Was hat uns so unsozial werden lassen? Und wie wollen wir künftig miteinander auskommen?“.

Dafür schaut er ins Triebwerk der Rüpel-Republik. Er entdeckt, wie und welcher Weise die Deutschen sozial auseinander driften, wie der „Individualismus zur Staatsreligion“ wurde, wie aus einer Aktiv- eine Zuschauergesellschaft wurde. Und wie der sogenannte Fortschritt von der physischen zur elektronischen Kommunikation Beziehungen verhindert, stört, zerstört. Faire, freundliche, direkte, rücksichtsvolle Kommunikation? Wie geht das denn? Mit den neuen, ‚sozialen‘ Medien sind wir uns nur scheinbar nah, „tatsächlich aber haben sie uns, ohne dass wir es merken, immer weiter voneinander entfernt. Wir verlernen, Menschen unter Menschen zu sein“.

Die Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Seit Jahrzehnten betreiben Wirtschafts- und Politikeliten die Individualisierung der Gesellschaft, die Gewinnmaximierung der Unternehmen, die Privatisierung der Gemeineigentümer, den Sozialentpflichtung der Vermögen, Absenkung der Löhne und die Steigerung der Leistungen. Und selbst die von negativen Folgen dieses Vorgehens Betroffenen stimmen auch noch mit ein. Auch sie halten mehrheitlich eine Gesellschaft, die jeden mitnimmt, nicht auf Dauer für überlebensfähig. Die Rüpelei, die Unfairness, die Rücksichtlosigkeit gehört offensichtlich zum Betriebssystem der deutschen Gesellschaft: Unterm Strich zähl nur ich.

Schindler ist perplex, denn neuere Forschungen zeigen, wie hilfsbereit, kooperativ und fair wir grundsätzlich sind. Aber in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die das Gegenteil belohnen und Rücksichtsvolle zu Dummen erklären, hat diese menschliche Konstitution geringe Chance.

Doch schließlich macht er sich auf zu denen, die zwar nicht als dumm, aber doch als naiv gelten. Zu denen, die neue Kooperation ausprobieren, die sich der Gesamtdynamik entgegen stemmen und in Nischen eine wirksame Alternative zur Rüpel-Republik ausprobieren und realisieren. Nicht von „Geiz ist geil“ über „Unterm Strich zähl ich“ noch tiefer in die Rüpel-Republik. Sondern zu einer Miteinander-Republik mit Respekt und Rücksichtnahme.

Jörg Schindler: Die Rüpel-Republik. Warum wir so unsozial sind? Scherz. 253 Seiten
http://www.youtube.com/watch?v=TGrNdbT2qls

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