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15.08.2025 08:20
Unfaire Erfassung von Armut in unserer Gesellschaft?  

Eine Forschergruppe wirft dem Statistischen Bundesamt vor, eine umstrittene Methode zur Erfassung von Betroffenen anzuwenden. Das berichten Tim Szent-Ivanyi und Markus Decker in der heutigen Frankfurter Rundschau (S. 11):

„Insgesamt 30 teilweise sehr bekannte Armutsforscherinnen und -forscher, wie der langjährige Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, oder der Kölner Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge, werfen dem Statistischen Bundesamt vor, die Armutsquoten in Deutschland kleinrechnen zu wollen.

In einem Protestbrief an die Präsidentin des Statistischen Bundesamtes, Ruth Brand, der dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) vorliegt, beklagen sie, dass die Statistiker:innen ihre Berechnungsmethode auf eine Variante (EU-SILC/MZ-SILC) reduziert und die Ergebnisse einer anderen Variante (MZ-Kern) von der Homepage gelöscht hätten. Schneider sagte dem RND, der Vorgang sei „brisant“, da nach der verbliebenen Berechnungsmethode die Armutsquote deutschlandweit 2023 bei 15,5 Prozent lag, nach der nun gelöschten aber bei 16,6 Prozent. „Das heißt, nach den nun nur noch ausgewiesenen Zahlen ist die Armut mal eben um mehr als eine Million Menschen geringer. Da drängt sich schon die Frage nach Manipulation oder doch zumindest einem interessengeleiteten Vorgehen auf.“

Dass die Ergebnisse der zweiten Berechnungsmethode nicht mehr veröffentlicht würden und nach Darstellung der Autor:innen rückwirkend gelöscht wurden, betrachten die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner „als einen nicht akzeptablen Eingriff in die wissenschaftliche Freiheit“. Es grenze „an behördliche Willkür, wenn ein Bundesamt Ergebnisse von allgemeinem wissenschaftlichen und öffentlichen Interesse zurückhält und damit die gesamte Fachdiskussion und öffentliche Rezeption beschnitten werden“. Womöglich sollten diese Ergebnisse „in eine bestimmte Richtung gelenkt werden“. Die Autorinnen und Autoren des Briefes fordern Brand auf, die Entscheidung rückgängig zu machen.

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat. Die Berechnungsmethoden unterscheiden sich insbesondere bei der Definition und Erfassung des Haushaltsnettoeinkommens. Das Statistische Bundesamt begründet die Umstellung mit einer EU-weiten Vergleichbarkeit. Bei dieser Methode würden die Einkommensarten jeweils einzeln und ausführlich abgefragt statt nur als Gesamtsumme, so die Behörde. So könne eher als im bisherigen Verfahren vermieden werden, dass auskunftspflichtige Einkommen, die insbesondere nicht aus Erwerbsarbeit stammen, unabsichtlich unberücksichtigt blieben. Das betreffe zum Beispiel staatliche Leistungen wie Kindergeld, Kinderzuschlag, Bafög, Pflegegeld oder Wohngeld.

Die Armutsforscher:innen lassen das nicht gelten. Die Ansicht, wonach die neue Methode methodisch überlegen sei, sei in der Fachwelt speziell unter dem Aspekt der Berechnung von Einkommensarmut nicht ungeteilt, kritisieren sie in ihrem Protestbrief.

Im Jahr 2024 galten rund 13,1 Millionen Menschen als armutsgefährdet. Das war im Vergleich zu 2023 ein Anstieg um etwas mehr als ein Prozentpunkt. 2024 lag der Schwellenwert von 60 Prozent des mittleren Einkommens für einen Alleinlebenden bei 1378 Euro netto im Monat, für Haushalte mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2893 Euro. Die Zahl der „von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedrohten“ Menschen, die über die reine Armutsgefährdung hinausgeht, lag 2024 mit 17,6 Millionen noch deutlich höher. Zuletzt sorgte die Nachricht für Aufsehen, dass sich jeder und jede Fünfte in Deutschland keinen einwöchigen Urlaub leisten kann.

Als besondere Risikogruppen gelten Arbeitslose, Menschen mit niedrigem Bildungsstand, Alleinerziehende und Familien mit vielen Kindern. Zuletzt warnte die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, Gerda Hasselfeldt, ferner davor, dass Pflegebedürftigkeit ebenfalls zur Armutsfalle zu werden drohe, weil die Selbstbeteiligung von 3000 Euro pro Heimplatz für zahlreiche Betroffene nicht mehr zu stemmen sei. Zugleich habe sich die Zahl der Pflegebedürftigen innerhalb der vergangenen 20 Jahre verdoppelt und werde weiter steigen.

Schließlich gibt es regionale Risikofaktoren. So sind Einkommen und Vermögen in Ostdeutschland nach wie vor deutlich geringer als im Westen. Dass die Lebenshaltungskosten dort ebenfalls geringer sind, gleicht das Gefälle nicht aus.

Ende Juni hatte die Mindestlohnkommission beschlossen, den gesetzlichen Mindestlohn bis 2027 in zwei Schritten über zunächst 13,90 Euro auf 14,60 Euro pro Stunde anzuheben. Von dem ersten Schritt werden laut Statistischem Bundesamt zum 1. Januar 2026 deutschlandweit bis zu 6,6 Millionen Berufstätige profitieren. Demnach lag zuletzt etwa jedes sechste Beschäftigungsverhältnis rechnerisch unterhalb des dann geplanten Mindestlohns von 13,90 Euro pro Stunde. Besondere Nutznießer der geplanten Erhöhung: Frauen und Ostdeutsche. Aus der zweiten Anhebung auf 14,60 Euro würden maximal 8,3 Millionen Beschäftigte einen Nutzen ziehen. Die SPD hatte eine Erhöhung auf 15 Euro gefordert.

Überdies arbeitet Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) an einer Reform des Bürgergeldes. Hier geht es unter anderem um die Frage, welche Regeln für Menschen gelten sollen, die eine ihnen zumutbare Arbeit verweigern“.

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