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01.06.2023 12:13
EU-Parlament stimmt für strenges EU Lieferkettengesetz - für Menschenrechte und Umwelt
Das ist fast nicht zu glauben: Die Regeln sind strenger als ursprünglich geplant. Die Europaabgeordneten haben neue Vorgaben für Unternehmen beim Umgang mit Lieferanten beschlossen. Sie sollen nun auch für kleinere Firmen gelten. Spiegel-Online berichtet am 1.6.2023 wie folgt:

"Das EU-Parlament hat sich für ein verhältnismäßig strenges Lieferkettengesetz ausgesprochen. Eine Mehrheit der Abgeordneten stimmte in Brüssel für Vorschriften, die Unternehmen für die Bekämpfung von Kinderarbeit, Ausbeutung und Umweltverschmutzung entlang ihrer weltweiten Lieferketten verantwortlich machen. Die Vorgaben sollen demnach über die im deutschen Lieferkettengesetz vorgesehenen Maßnahmen hinausgehen und etwa auch für den Finanzsektor gelten.

Die neuen Regeln übertreffen in ihrer Strenge vorherige Pläne. Denn ihnen sollen über alle Sektoren hinweg Unternehmen mit Sitz in der EU unterliegen, die mehr als 250 Angestellte und mehr als 40 Millionen Euro Jahresumsatz weltweit haben. Zunächst war das Lieferkettengesetz nur für Firmen ab 500 Beschäftigten und 150 Millionen Euro Umsatz gedacht. Auch Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU sollen sich an das neue Regelwerk halten müssen, wenn sie mehr als 150 Millionen Euro umsetzen und mindestens 40 Millionen Euro davon in der EU.

Die betroffenen Unternehmen sind künftig verpflichtet, negative Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf Menschenrechte und Umwelt zu ermitteln »und erforderlichenfalls zu verhindern, zu beenden oder abzumildern«, beschloss das Parlament. Außerdem müssen sie die Einhaltung von Umwelt- und Sozialstandards auch bei ihren Partnerunternehmen in der Wertschöpfungskette überwachen. Dazu gehören Lieferanten, Vertriebspartner, Transportunternehmen, Lagerdienstleister oder auch die Abfallwirtschaft.

Die EU-Kommission hatte das Gesetz im vergangenen Februar vorgeschlagen. Die 27 Mitgliedstaaten einigten sich im Dezember auf eine Position, die den Vorschlag der Kommission etwas abschwächen würde. Für die abschließenden Verhandlungen zwischen Mitgliedstaaten und EU-Parlament fehlte noch die Positionierung der Abgeordneten, die nun über die Vorschläge der Kommission hinaus geht. In Deutschland gilt bereits seit Januar ein Lieferkettengesetz, das eventuell an die EU-Vorgaben angepasst werden müsste.
Scharfe Kritik aus der Wirtschaft

Das deutsche und nun entsprechend auch das europäische Gesetzesvorhaben wird von Wirtschaftsvertretern scharf kritisiert. Sie warnen vor überbordender Bürokratie und einer Schwächung europäischer Unternehmen auf dem Weltmarkt.

Die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) kritisierte, dem Gesetzentwurf fehle es an Praxistauglichkeit, Verhältnismäßigkeit und Rechtssicherheit. »Das Lieferkettengesetz bürdet den Unternehmen ein neues und unkalkulierbares Haftungsrisiko auf.« Von ihnen werde eine Kontrolle erwartet, die außerhalb ihrer eigenen Einflussmöglichkeiten liege, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian. Lieferketten bestünden oft aus mehreren hundert, teils mehreren tausend Firmen. In der Regel sei einem Betrieb aber nur der direkte Zulieferer bekannt. Kleine und mittlere Unternehmen würden »komplett überfordert« durch die geplanten Richtlinien.

Der Arbeitgeberverband BDA warnt gar vor einer Abwanderung von Unternehmen durch mehr Regulierung. In Krisenzeiten brauchten Unternehmen Flexibilisierung und Spielräume für Innovationen – »und weniger Bürokratie aus Brüssel«, sagte BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Der Vorschlag des EU-Parlaments zu den Lieferketten bringe mehr Regulierung und keinen zusätzlichen Schutz für Menschenrechte.

Tiemo Wölken, rechtspolitischer Sprecher der Europa-SPD, sieht in dem EU-Gesetz dagegen die Chance, dafür zu sorgen, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen werde, »sondern dass wir dafür sorgen, dass Menschenrechte und Umweltschutz überall auf der Welt gleichermaßen gelten«.

Insbesondere die CDU- und CSU-Delegation im Europaparlament hatte sich bis zuletzt für weniger strenge Vorschriften eingesetzt. Etwa sollten Subunternehmer sowie der Finanzsektor ausgenommen und nur größere Unternehmen betroffen sein. Der CDU-Europaabgeordnete Axel Voss forderte noch am Mittwoch in einer Debatte im Parlament, den bürokratischen Aufwand zu stoppen. Entsprechende Änderungsanträge fanden jedoch keine Mehrheiten.

366 Abgeordnete befürworteten das geplante EU-Lieferkettengesetz, 225 Abgeordnete stimmten dagegen, 38 enthielten sich".

Der Widerstand gegen diese Fassung der Lieferkettengesetzes durch Wirtschaftsverbände im Verbund mit Politikern der konservativen Parteien, allen voran CDU und CSU, war enorm. Um so eindrucksvoller der Entscheid einer starken Mehrheit des EU-Parlaments.

30.05.2023 10:50
Pflegenotstand - Anwerben ausländischer Pflegekräfte ist eine Schande
Der Arzt Dr. Bernd Hontschik ist Chirurg und Publizist. Bis 1991 war er Oberarzt am Klinikum Frankfurt-Höchst, bis 2015 in seiner chirurgischen Praxis in der Frankfurter Innenstadt tätig.

Das Zustand des Gesundheitswesens treibt ihn um. Er nennt das Anwerben von ausländischem Pflegepersonal in der Frankfurter Rundschau (26.5.23) „eine Schande“. Und schreibt weiter:

„Befragungen unter ausgestiegenen Pflegekräften ergaben in letzter Zeit immer wieder, dass die Hälfte von ihnen in ihren angestammten Beruf zurückkehren würde, wenn sie mit verträglichen Arbeitszeiten, Wertschätzung, Respekt und einer angemessenen Vergütung rechnen könnten. Was ist davon verwirklicht worden? Mehr als eine kärgliche Corona-Einmalzahlung für Wenige ist nicht herausgekommen. Ach halt, ich vergaß: Es gab außerdem auch noch sehr viel Beifall, sogar stehende Ovationen der Abgeordneten im Deutschen Bundestag. Das war’s dann aber auch.

Statt sich mit einer grundsätzlichen Reform und Neuorientierung des Pflegeberufes zu befassen, bleibt das Problem seit Jahrzehnten ungelöst. Daher reist man in arme Länder, macht Werbung für die großartigen Arbeitsbedingungen in Deutschland und beraubt diese Länder ihrer qualifizierten Pflegekräfte. Das ist ein alter Hut, keine neue Idee.

Schon als ich vor über vierzig Jahren als Chirurg im Krankenhaus Höchst gearbeitet habe, kamen als Ergebnis großangelegter Anwerbekampagnen etwa ein Viertel der OP-Schwestern und -Pfleger aus Indonesien. Inzwischen sind sechzehn Gesundheitsminister:innen an mir vorbeigezogen, aber niemand hat sich an die Ursachen gewagt. Im Gegenteil. Inzwischen sind etwa die Hälfte der damals noch 4000 Krankenhäuser geschlossen worden, mehr als 50 000 Stellen im Pflegebereich gestrichen, die Anzahl der stationären Behandlungsfälle stieg um ein Viertel an, und diese Mehrarbeit mit immer weniger Personal führte zu unerträglichem Arbeitsdruck. So sind im Laufe der Zeit etwa 300 000 ausgebildete Pflegekräfte aus ihrem Beruf geflohen.

Unter Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) flog dessen Staatssekretärin Sabine Weiss zwecks „Anwerbung ausländischer Pflegekräfte“ auf die Philippinen. Auch Spahn selbst war sich nicht zu schade, in Mexiko und dem Kosovo höchstpersönlich Abkommen über die Anwerbung von Pflegekräften abzuschließen. Das nenne ich Pflegeimperialismus. Die Bundesagentur für Arbeit nennt dieses Programm aber ungeniert „Triple Win“ und ist damit unter anderem in Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Indien, Philippinen, Tunesien, Mexiko und Brasilien unterwegs: Das Herkunftsland gibt arbeitslose Kräfte ab, Deutschland besetzt freie Stellen, die Betroffenen lernen Deutsch und verdienen hiesige Löhne.

Man könnte das Ganze aber auch als „Triple-Lose“ bezeichnen: Das Herkunftsland verliert seine gut ausgebildeten jungen Menschen, in Deutschland erfüllen sie die Funktion von Lohndrückern, und die Betroffenen erhalten häufig skandalöse Arbeitsverträge, ja sie müssen sogar nicht selten „Anwerbekosten“ von mehreren tausend Euro bezahlen, falls sie – desillusioniert – kündigen wollen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Und nun – man glaubt es kaum – werden Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) im Juni nach Brasilien reisen, um wieder Pflegekräfte „anzuwerben“. Heil berichtet schon von solchen Absprachen mit Indonesien und Mexiko. Auch Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze (SPD) steht nicht zurück und hat sich im Februar zusammen mit ihm in Westafrika nach Pflegepersonal umgetan, besonders in Ghana.

Der lächerliche Applaus, die schlechten Arbeitsbedingungen und der verzweifelte Versuch, anderen Ländern qualifizierte Arbeitskräfte wegzunehmen, werden die Probleme im Pflegebereich nicht lösen. Auf diese Katastrophe ist man sehenden Auges und untätig zugesteuert, und die Prognosen sind derart furchterregend, dass die Pflege zu einer Schicksalsfrage der Nation werden wird. Längst hätte es eine nationale Ausbildungsinitiative geben müssen, hätten Krankenhäuser und Pflegeheime mit ausreichenden finanziellen Mitteln zur Einrichtung von Schulen für Pflegekräfte ausgestattet werden müssen. Längst hätte man mit dem Ausbau der universitären Pflegestudiengänge die Attraktivität und Akzeptanz dieses Berufes erhöhen können. Längst hätten Karrierechancen in der Pflege geschaffen werden müssen, endlich verbunden mit einer angemessenen Bezahlung sowie lebens- und familienfreundlichen Arbeitszeiten.

Am wichtigsten aber wäre es, endlich die Privatisierung zu stoppen, auf allen Ebenen, in den Krankenhäusern, in der ambulanten Medizin der „Versorgungszentren“ und in den Pflegeheimen. Für die Arbeitshetze in der Pflege und im ärztlichen Bereich ist in erster Linie der Zwang zur Profitmaximierung, zu möglichst hohen Renditen für Aktionärinnen und Aktionäre verantwortlich. Pflege, Fürsorge und gute Medizin ist unter diesen Bedingungen nicht möglich. Das ist der Grund für den Exodus der Pflegekräfte, von dem inzwischen auch Ärztinnen und Ärzte massiv erfasst werden. Es wird nichts von selbst besser. Das Gesundheitswesen muss gemeinnützig und Teil staatlicher Daseinsvorsorge sein“.

23.05.2023 12:44
Spargel und Erdbeeren aus Deutschland - Miese Arbeitsbedingungen bei der Ernte
Lohndumping, Wuchermieten und keine ausreichende Krankenversicherung: Wer Spargel, Erdbeeren und Gemüse auf deutschen Feldern erntet, wird oft ausgebeutet. Mitverantwortlich sind die großen deutschen Supermärkte, die die Bäuer*innen unter Druck setzen, um die Ware möglichst billig beziehen zu können.

Wie sich der Preisdruck der Supermärkte für die Saisonarbeiter*innen auf dem Feld anfühlt, zeigt die neue Oxfam-Studie „‚Das hier ist nicht Europa.‘ Ausbeutung im Spargel-, Erdbeer- und Gemüseanbau in Deutschland“.
Hier werden alle Spielräume ausgenutzt, Menschen um ihren gerechten Lohn zu bringen

Die Ergebnisse der Recherche sind erschreckend. Mit allerlei Tricks versuchen die Höfe, die tatsächlichen Löhne der Saisonarbeiter*innen zu drücken – zum Beispiel durch horrende Lohnabzüge für die Unterkunft. Arbeiter*innen zahlen für einfachste Gemeinschaftsunterkünfte mehr als die Durchschnittsmieten deutscher Großstädte. Für eine Baracke ohne Küche verlangt einer der Betriebe 40 Euro pro Quadratmeter. Die durchschnittliche Kaltmiete in der Münchner Innenstadt liegt bei 23 Euro.

Besonders ein Betrieb in Brandenburg erweist sich als skandalös: Die Unterkünfte gleichen Baracken, in den Zimmern wächst Schimmel. Eine Küche gibt es nicht, gekocht wird auf mobilen Herdplatten. „Das hier ist nicht Europa“, resümiert ein befragter Arbeiter. Supermarktgigant Edeka pries derweil „Unterkünfte mit Hotelcharakter“ an.

Zehn Stunden schwere und monotone körperliche Arbeit sind Alltag

Viele Arbeiter*innen sind mit einer kaum durchschaubaren Kombination aus Stunden- und Akkordlöhnen konfrontiert und berichten von schwer oder gar nicht erreichbaren Zielvorgaben. „Das sind keine Einzelfälle. Beschäftigte klagen regelmäßig über falsche Angaben bei der Arbeitszeiterfassung, wodurch sie mehr arbeiten müssen, als sie bezahlt bekommen”, sagt Benjamin Luig von der Initiative Faire Landarbeit. „Zehn Stunden schwere und monotone körperliche Arbeit sind Alltag in der deutschen Landwirtschaft. Aber Lohndumping und massiver Leistungsdruck dürfen kein Geschäftsmodell sein!“ Mitgliedsorganisationen der Initiative Faire Landarbeit beraten deutschlandweit Saisonarbeiter*innen zu ihren Arbeitsrechten.
Kündigung bei Krankheit

Die Studie belegt auch die unzureichende Versicherung der Arbeiter*innen. Die meisten haben keinen umfassenden Krankenversicherungsschutz oder geben an, gar nicht versichert zu sein. Ein Großteil wird über das Modell der kurzfristigen Beschäftigung angestellt. Für diese Arbeiter*innen schließen Betriebe meist private Gruppen-Krankenversicherungen ab, die ein weit geringeres Leistungsspektrum als gesetzliche Versicherungen bieten. Manche berichteten, dass sie ihre Behandlungskosten selbst bezahlen mussten. Wegen extrem kurzer Kündigungsfristen von bis zu einem Tag kommt es vor, dass Arbeiter*innen noch krank oder verletzt die Heimreise antreten.

Marktmacht ja – Verantwortung nein: Supermärkte drücken Preise ins Bodenlose

In Deutschland teilen die Big Four – Edeka, Rewe, Aldi und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland mehr als 85% des deutschen Lebensmittel­einzelhandels unter sich auf.

Die Verantwortung für diese unhaltbaren Arbeitsbedingungen liegt nicht nur bei den Betrieben, sondern auch bei den deutschen Supermärkten, die für Spargel, Erdbeeren und Gemüse ruinös niedrige Preise zahlen.

„Die Supermärkte üben einen brutalen Preisdruck aus“, sagt Tim Zahn, Referent für globale Lieferketten, Menschenrechte und Migration bei Oxfam. „Den Preisdruck geben die Betriebe nach unten weiter: an die Arbeiter*innen auf den Feldern. Und er hat weitere Folgen: Viele kleinere landwirtschaftliche Betriebe geben auf. Die Supermärkte stehlen sich hier seit Jahren aus der Verantwortung, sie müssen endlich dazu gebracht werden, angemessene Preise zu zahlen.“

Rechte der Saisonbeschäftigten schützen!

Oxfam Deutschland und die Initiative Faire Landarbeit fordern deshalb, dass der Einkauf unter Produktionskosten verboten wird. Die Bundesregierung muss zudem dafür sorgen, dass Saisonarbeiter*innen grundsätzlich sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden, unter anderem, damit sie vollen gesetzlichen Krankenversicherungsschutz vom ersten Tag an erhalten.

Anders als für frühere Studien hat Oxfam diesmal nicht in Anbaugebieten von Südfrüchten recherchiert, sondern gemeinsam mit dem PECO-Institut direkt vor unserer Haustür. Grundlage der Studie sind eigene Recherchen von Oxfam Deutschland und ein Bericht des PECO-Instituts. Für diesen wurden Arbeiter*innen bei vier Betrieben interviewt, die wir mittels Testkäufen als Lieferanten deutscher Supermärkte identifizieren konnten.

"Die Oxfam-Studie 2023"

19.05.2023 10:09
Missbrauchte Medizin - zerstörte Medizin
„Es ist unerträglich für mich, wenn Medizin missbraucht wird“. Sagt der Mediziner Bernd Hontschick.

Aus Anlass seiner 300. Kolumne in der Frankfuter Rundschau am 13. Mai 2023 sprach der Arzt Bernd Hontschik mit Boris Halva über gierige Pharmakonzerne, autoritäre Strukturen in Arztpraxen – und Briefe, die zu Herzen gehen.

Herr Hontschik, heute erscheint Ihre 300. Diagnose in der FR – und Themen gibt’s nach wie vor reichlich. Wünschen Sie sich manchmal, es wäre anders?

Es wäre schön gewesen, wenn der eine oder andere Missstand zwischenzeitlich behoben worden wäre. Aber in den 16 Jahren, die ich jetzt Kolumnen schreibe, hat sich an den großen Themen überhaupt nichts verbessert. Mir fällt nur eine einzige gute Meldung ein: die Abschaffung der leidigen Praxisgebühr. Mir werden die Themen also nicht ausgehen.

Welches Thema treibt Sie bis heute am stärksten um?

Ich bin entsetzt darüber, wie Medizin kaputtgemacht wird. Im Krankenhaus gehen die Patienten als Menschen unter, werden zu Werkstücken, die durch Produktionsstraßen geschoben werden – ein Horror für die Patient:innen, ein Horror für die professionellen Helfer:innen, die zunehmend auf der Flucht sind. Das finde ich entsetzlich! Im Kern geht es mir immer darum, dass das Gesundheitswesen Teil der staatlichen Daseinsfürsorge bleiben muss, dass private Investoren da nichts zu suchen haben. Ich plädiere immer wieder für die allgemeine Bürgerversicherung und die Abschaffung der privaten Krankenversicherungen. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens treibt mich auch um, weil Datenschutz und Schweigepflicht als vorgestrig diffamiert werden und hinten runterfallen.

Hat das Schreiben Ihren Blick auf die Welt verändert?

Den Blick auf die Welt vielleicht nicht, aber es ist eine Art Filter, mit der ich Nachrichten aufnehme. Ich finde Themen oder Zusammenhänge auch dort, wo man sie erstmal nicht vermutet. So zum Beispiel bei der Kolumne „Brick Lane“, die ich 2008 geschrieben habe. Ich hatte einen Bericht im Radio über diese Straße in London gehört, in der die Laternenpfähle mit Schaumstoff ummantelt wurden, weil immer wieder Menschen dagegen gelaufen sind, die nur aufs Handy geschaut haben, und sich teils so schwere Kopfverletzungen zugezogen haben, dass sie in die Klinik mussten. Das habe ich zum Anlass genommen, in einer Kolumne den Unterschied von Vorsorge und Früherkennung klar zu machen. Ein ernstes Thema, aber dennoch unterhaltsam aufbereitet.

Wer Ihre Kolumnen regelmäßig liest, weiß: „Vorsorge“ ist eines Ihrer Reizthemen...

Ja, und es regt mich bis heute auf, wenn gesagt wird, man solle zur Krebsvorsorge gehen. Gegen Krebs kann ich höchstens vorsorgen, indem ich aufhöre, zu rauchen. Aber wenn ich eine Koloskopie mache oder mir die Brust röntgen lasse, dann ist das keinerlei Vorsorge, sondern Früherkennung – in der Hoffnung, dass ein früh erkannter Tumor behandelbar ist, was leider auch nicht immer stimmt. Und wenn wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass eine Früherkennung auch schädlich sein kann, was die Medien zumeist ignorieren, dann schreibe ich eine Kolumne darüber, und wenn es sein muss, auch noch eine und noch eine. Mein Anspruch ist Information und Aufklärung.

Leitlinien gehören auch zu den Dingen, die Sie umtreiben...

Leitlinien sind nichts Schlechtes, sie waren ja dazu gedacht, dass man einen Behandlungskorridor eröffnet auf Basis neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie werden aber leider allzu oft verwechselt mit Handlungsvorschriften und dazu missbraucht, abweichende Ideen und Meinungen zu diskreditieren. Das regt mich auf, denn die Behandlung von Menschen ist etwas höchst Individuelles. Wenn die Medizin nur eine Anwendung von Leitlinien wäre, dann bräuchte man ja keine Ärztinnen und Ärzte.

Je individueller medizinische Behandlung ist, desto schwerer ist sie zu kalkulieren. Und das wird beim Lesen Ihrer Kolumnen auch deutlich: Geld und Medizin können eine ungesunde Wechselwirkung haben.

Wenn man finanzielle Anreize für bestimmte medizinische Anwendungen setzt, dann ist Medizin korrumpiert. Dann geht es nur noch um Gewinne, und das ist doch nicht das Ziel von Medizin. Seit es Fallpauschalen gibt, haben sich die Zahlen etwa bei Hüft- oder Rückenoperationen teils verdoppelt – und das ganz sicher nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus pekuniären. Die Bezahlung ist ein riesiges, ungelöstes Problem. Da hilft auch die Debatte über eine Bezahlung nach Qualität nichts.

Weil da erstmal zu klären wäre: Was ist Qualität?

Eben, und Qualität kann man nicht messen, denn dann handelt es sich um Quantität! Wenn ich sage, dass es zu meinen besten chirurgischen Leistungen gehörte, Menschen zu empfehlen, sich nicht operieren zu lassen, wie soll mir das vergütet werden? Wie bezahlen Sie mich, wenn ich mit meiner ganzen Erfahrung und Qualifikation und gemeinsam mit meinem Patienten zu dem Schluss komme, dass es am besten ist, nichts zu tun?

Das Thema Bezahlung behandeln Sie auch immer wieder. Ihre 100. Kolumne, in der Sie sich 2011 mit den sogenannten Igel-Leistungen befasst haben, endet mit dem Satz, dass Sie sich angesichts dieser Praktiken für Ihre Zunft schämen. Kommt das öfter vor?


Ja, leider! Ich habe mich in meiner aktiven Zeit als Chirurg in einem Netzwerk von Ärzten und Ärztinnen aller Fachrichtungen bewegt, mit denen ich gut zusammenarbeiten konnte, aber ich habe doch auch immer wieder gehört, dass Patientinnen und Patienten entweder abgezockt oder überhaupt nicht angeschaut, sondern mit Rezepten, Überweisungen oder Einweisungen abgefertigt wurden. Es war teilweise haarsträubend, was mir die Menschen über ihre Erlebnisse berichtet haben. Vor allem hat mich schockiert, dass manchen gesagt wurde, wenn sie sich nicht an die Anweisungen des Arztes halten, würden sie nicht weiter behandelt. Es gibt in meiner Zunft nicht wenige, die total autoritär strukturiert sind und sagen: Wer nicht gehorcht, fliegt raus!

Glauben Sie nicht, dass mit dem Nachrücken der nächsten Generation ein Wandel stattgefunden hat? Sie haben 2009 geschrieben, dass „eine Dominanz der männlichen Symptome in den Köpfen von Ärztinnen und Ärzten“ vorherrscht und viele Frauen daher falsch behandelt würden – aber bei diesem Thema ist im zurückliegenden Jahrzehnt viel Bewegung reingekommen.

Ich habe seit 2009 mehrfach über Gendern in der Medizin geschrieben. Da hat sich viel getan, das stimmt, vor allem bei der Einsicht, dass Frauen keine kleinen Männer sind, sondern völlig andere Symptomatiken haben, etwa beim Herzinfarkt, dass sie auf manche Medikamente ganz anders reagieren und dass sie ganz andere Gelenke haben, also auch ganz andere Gelenkersatzprothesen brauchen als Männer. Frauen sind in der Medizin überhaupt auf dem Vormarsch. Es gibt längst deutlich mehr Medizinstudentinnen als –studenten. Die Medizin wird davon profitieren. In Berlin gibt es einen Lehrstuhl für frauenspezifische Gesundheitsforschung. Und nicht ohne Grund wird an vielen medizinischen Fakultäten inzwischen Kommunikation gelehrt. Männer haben sich all die Jahrzehnte zuvor dergleichen nicht ausgedacht.

Bei welchen Themen wiederum hat sich so gar nichts getan?

Bei der Krankenversicherung hat sich nichts getan, der Weg in die Bürgerversicherung ist immer noch verschlossen und es können sich immer noch zehn Prozent Gutverdienende in der privaten Krankenversicherung aus der Solidarität verabschieden, ein Skandal. Auch beim Thema Privatisierung ist kein Umdenken zu sehen, im Gegenteil, das wird immer schlimmer. Konzerne machen sich nicht mehr nur in Kliniken breit und locken mit hohen Dividenden, sondern auch der ambulante Bereich wird zunehmend privatisiert. Was hat ein kanadischer Lehrerpensionsfond für ein Interesse an unserer Gesundheit? Warum wohl besitzt dieser Fond über 100 Augenarztpraxen und medizinische Versorgungszentren in Deutschland? Und dann gibt es Zweige, die mindestens genauso wichtig sind, die Kinderheilkunde zum Beispiel, aber dort schreibt man rote Zahlen. Um die Kinderheilkunde kümmert sich kein Investor. Auch ein großer Skandal ist die Digitalisierung des Gesundheitswesens, die in der geplanten Form niemand anderem nutzen wird als der IT-Industrie.

Was fühlen Sie häufiger: Wut oder Verzweiflung?

Ich bin schon manchmal verzweifelt über die zunehmende Destruktion unseres Gesundheitswesens. Verhältnisse wie in den USA sind nicht mehr fern, wo Gesundheitsversorgung eine Frage des Geldes ist. Aber es sind trotzdem erstmal andere Dinge, die mich an den Rand der Verzweiflung bringen. Die Verkehrspolitik, die Klimakrise, und jetzt ist auch noch Krieg in Europa! Das sind Anlässe, wirklich verzweifelt zu sein, denn davon sind wir alle betroffen, ob krank oder gesund. Da kann man das Gesundheitswesen hinten anstellen. Aber man kann schon auch wütend werden, wenn man mit anschauen muss, wie Gemeineigentum urplötzlich nur noch dem Reichtum weniger dient.

Apropos Wut: Mit wem legen Sie sich lieber an – mit Pharmakonzernen oder den Verantwortlichen in der Gesundheitspolitik?

Was den Pharmabereich angeht, hat man in der Coronapandemie gesehen, welche unglaubliche Macht die Konzerne haben. Sie haben nicht nur mit Steuergeld die Impfungen entwickelt und dann später die Preise diktiert, sondern haben sich von jeder Verantwortung befreien lassen, für unerwünschte Impf-Nebenwirkungen oder -Schäden zu haften. Das kann man nicht verstehen. Jetzt kommt es zunehmend zu Dokumentationen von Impfreaktionen – aber niemand will zuständig sein, die Patient:innen werden allein gelassen. Die Pharmakonzerne schwimmen in Geld, aber denken nicht daran, sich für die Folgen ihres Tuns verantwortlich zu zeigen. Mit den Verantwortlichen der Gesundheitspolitik ist es ein bisschen anders: Gesundheitspolitik müsste dafür da sein, Medizin möglich zu machen. Aber davon kann keine Rede sein. Gesundheitspolitik ist nach wie vor ein Ergebnis des Kampfes zwischen verschiedenen Lobby-Gruppen, die es in diesem Haifischbecken gibt. Wenigstens hat Gesundheitsminister Lauterbach jetzt eingeräumt, dass die Fallpauschalen nicht das Wahre sind – schade nur, dass er für diese Einsicht 20 Jahre gebraucht hat.

Auf welche Ihrer Kolumnen haben Sie die heftigsten Reaktionen bekommen?

Die gab es während der Coronapandemie, weil ich das, was in der Zeit gemacht wurde, nicht einfach hinnehmen wollte und immer wieder Fragen gestellt habe. Ich bin ja selbst geimpft, und ich habe auch nie geschrieben, dass man sich auf keinen Fall impfen lassen sollte, aber ich habe eben immer wieder gefragt: Was geht hier eigentlich vor? Und da bin ich in den Kommentarspalten aufs Übelste beschimpft worden. Menschenverachtend sei das, was ich da schreibe. Man kann mir ja vieles vorwerfen, aber Menschenverachtung ganz sicher nicht!

Hat das dazu geführt, dass Sie zu bestimmten Themen lieber nichts mehr sagen?

Überhaupt nicht! Aber es kommt vor, dass Menschen mir schreiben, es sei mutig, dass ich dies oder das geschrieben habe. Das ist ja nett, dass man mich mutig findet, aber: Mir kann doch keiner was, man kann mir nichts wegnehmen. So gesehen gehe ich mit dem Schreiben keinerlei Risiko ein, auch wenn ich mich noch so kritisch äußere. Mutig sein, das heißt für mich, dass Menschen etwas riskieren. Es gibt Menschen, die riskieren ihr Leben für ihre Sache. Ich riskiere höchstens, dass ich für die Frankfurter Rundschau keine Kolumnen mehr schreiben darf.

Zum Abschluss wüsste ich gern, ob Sie auch Zuschriften bekommen, die zu Herzen gehen?

Oh ja. Einmal hatte ich über den Einsatz von Robotern im OP geschrieben, angeregt durch den sogenannten Robodoc, den die Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik in Frankfurt angeschafft hatte. Später hatte sich rausgestellt, dass der Robodoc gar keine Zulassung hatte, aber da hatte man ihn schon bei mehreren Hüftgelenksoperationen eingesetzt mit dem Ergebnis, dass bei manchen Patientinnen und Patienten das ganze Nervensystem in diesem Bereich zerstört worden war. Ich kann diese OP-Technik hier nicht erklären, aber etwas Gefühlloseres als einen Roboter kann mich sich ja gar nicht vorstellen. Nach der Kolumne habe ich Zuschriften bekommen von Leuten, die auch mit dem Robodoc operiert worden waren und danach vor den Trümmern ihrer Existenz standen: Beruf verloren, Ehe kaputt, Schmerzen rund um die Uhr. Das ging mir wirklich nah! Wissen Sie, ich bin mit Leib und Seele Chirurg, und mit 40 Jahren Erfahrung kann ich sagen: Die Chirurgie kann Menschen wirklich helfen, selbst in scheinbar ausweglosen Situationen kann man oft noch etwas tun. Aber für mich ist unerträglich, wenn Medizin aus pekuniären Gründen missbraucht wird.


Zur Person
Bernd Hontschik , geboren 1952 in Graz, ist Chirurg und Publizist. Bis 1991 war er Oberarzt am Klinikum Frankfurt-Höchst, bis 2015 in seiner chirurgischen Praxis in Frankfurt tätig. Seine Doktorarbeit über unnötige Blinddarmoperationen erregte großes Aufsehen. Er ist auch Herausgeber der Reihe „medizinHuman“ bei Suhrkamp, die er 2006 mit dem Bestseller „Körper, Seele, Mensch“ eröffnete.

10.05.2023 10:45
Vermittlungsausschuss schwächt Schadensersatzanspruch für Whistleblower
Bund und Länder haben sich im Vermittlungsausschuss auf ein Hinweisgeberschutzgesetz und die damit verbundene, längst überfällige nationale Umsetzung der EU-Whistleblowing-Richtlinie geeinigt. An einigen inhaltlichen Punkten stellt der Kompromiss im Vergleich zum Koalitionsentwurf leider eine Verschlechterung für Whistleblower dar.

Whistleblower weisen auf Missstände und Fehlentwicklungen hin und ermöglichen so frühzeitig Abhilfe. Sie selbst zahlen dafür oft einen hohen Preis und sind schwerwiegenden Repressalien wie Mobbing ausgesetzt. Repressalien, die gravierende und langanhaltende Auswirkungen auf ihr Leben haben, deren Schaden aber aus juristischer Sicht meist von immaterieller Natur ist.

Die EU-Whistleblowing-Richtlinie und der Gesetzentwurf der Regierungsfraktionen (§ 37) haben daher zurecht ein Schmerzensgeld für „immaterielle Schäden“ vorgesehen. Dieser Entschädigungsanspruch ist dem Kompromiss im Vermittlungsausschuss zum Opfer gefallen.
„Die Streichung des immateriellen Schadensersatzanspruches kann gravierende Auswirkungen für Whistleblower haben. Damit fällt ein Schmerzensgeldanspruch für sehr viele Repressalien, von denen Whistleblower betroffen sind, weg. Zudem wird gegen europäische Vorgaben verstoßen, obwohl gegen Deutschland bereits jetzt ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof anhängig ist““, kritisiert Dr. Simon Gerdemann, Leiter eines DFG-geförderten Forschungsprojekts zum Whistleblowing-Recht.

Wie zu erwarten war, konnten CDU/CSU im Vermittlungsausschuss weitere Änderungen zum Nachteil von Whistleblowern durchsetzen:
- Die Anpassungen beim Wahlrecht zwischen interner und externer Meldung (§ 7) sehen vor, dass sich Whistleblower bevorzugt an eine (organisations-)interne Stellen wenden „sollten“. Dies könnte auf Whistleblower wie eine Abschwächung der von der EU-Richtlinie zwingend vorgesehenen Gleichrangigkeit von internem und externem Whistleblowing wirken. Studien und Erfahrungen belegen, dass sich Whistleblower an eine interne Stelle wenden, wenn sie das Gefühl haben, den Ansprechpartner*innen vertrauen und auf diesem Weg Veränderungen bewirken zu können. Eine Gleichrangigkeit der Meldewege schafft einen Anreiz für gutaufgestellte interne Hinweisgebersysteme und eine whistleblower-freundliche Organisationskultur.
- Die Einrichtung anonymer Meldekanäle ist nicht mehr verpflichtend. Die Pflicht anonymen Meldungen nachzugehen, wird zu einer „Sollte“-Bestimmung abgeschwächt. Anonyme Meldekanäle ermöglichen es Whistleblowern, Vertrauen zur Anlaufstelle aufzubauen, bevor sie ihre Identität preisgeben, und ermutigen sie so zu Meldungen. Systematische Befragungen von Unternehmen haben ergeben, dass die Einführung anonymer Hinweisgeberkanäle keinesfalls Denunziantentum fördert. Der Nutzen anonymer Hinweisgeberkanäle überwiegt die (überschaubaren) Kosten bei weitem.
„Der Kompromiss zeigt, dass es bei den Unionsparteien und Teilen der Wirtschaft nach wie vor große Vorbehalte gegen Whistleblower gibt, obwohl diese im Interesse von Gesellschaft und Wirtschaft handeln“, so der Geschäftsführer von Whistleblower-Netzwerk, Kosmas Zittel. „Erfreulicherweise hat sich wenigstens die Erkenntnis durchgesetzt, dass mit einer Einschränkung des sachlichen Anwendungsbereichs keinem gedient gewesen wäre.“

Der sachliche Anwendungsbereich beinhaltet nach wie vor Hinweise zu Straftatbeständen und bestimmten Ordnungswidrigkeiten. Die von CDU/CSU geforderte Beschränkung des Anwendungsbereichs auf möglichst wenige Rechtsbereiche hätte deutlich mehr Aufwand für Unternehmen und Behörden zur Folge gehabt. Nach Eingang einer Meldung hätte jedes Mal geprüft werden müssen, ob der Verstoß in den Anwendungsbereich fällt oder nicht. Eine Abgrenzung, die bereits erfahrenen Jurist*innen in vielen Fällen schwer gefallen und für juristische Laien, wie die meisten Whistleblower, fast unmöglich gewesen wäre. Dies hätte zu Rechtsunsicherheit geführt und Whistleblower abgeschreckt.

Bedauerlicherweise hat der Gesetzgeber diese wahrscheinlich letzte Chance nicht genutzt, die Mängel des Gesetzentwurfes zu beheben. Whistleblower-Netzwerk bemängelt u.a. die restriktiven Vorgaben für Offenlegungen gegenüber den Medien und die weitgehenden Ausnahmen für Whistleblower aus dem Geheimschutzbereich. Außerdem fordert WBN eine Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereichs auf sonstiges erhebliches Fehlverhalten oder Missstände unterhalb der Schwelle eindeutiger Rechtsverstöße (s. Pressemitteilung mit Reporter Ohne Grenzen).

Weitere Informationen
• Bundesrats-Pressemitteilung zur Einigung im Vermittlungsausschuss (09.05.2023)
• Gesetzesbeschluss des Bundestags (16.12.2022)
• WBN-Pressemitteilung und Stellungnahme für die zweite öffentliche Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses (27.03.2023)
• WBN-Pressemitteilung zur ersten Lesung des Bundestags (15.03.2023)
• WBN-Pressemitteilung zum Bundestagsbeschluss (16.12.2022)
• WBN-Pressemitteilung zur ersten öffentlichen Anhörung des Bundestags-Rechtsausschusses (19.10.2022)
• Podcast-Interviews zum Regierungsentwurf

04.05.2023 08:13
Die Kreislaufflasche mit Günther Jauch
Der Moderator Günther Jauch bewirbt Einweg-Flaschen als ökologisch. Unter dem Motto: „Die Kreislaufflasche“. Ist das Irreführung? Ja, und damit keine faire Werbekampagne, denn nun gibt es auch heftige Kritik daran und – und eine Gegenkampagne. Die Frankfurter Rundschau dokumentiert das heute (4.5.23) wie folgt:

Immerhin beim Bier ist die Welt noch wie früher, zumindest wenn es um die Flaschen geht: Die Deutschen greifen nach wie vor meist zu Mehrweg. Aber sonst? Beispiel Mineralwasser: 1991 lag die Mehrwegquote noch bei 93 Prozent, heute beträgt sie kaum 43 Prozent. Und Limos gibt es auch immer häufiger in Einwegpullen aus Plastik. Die Bundesregierung will gegensteuern, auch die EU-Kommission.

Aber stimmt das überhaupt: Einweg ist böse, mitverantwortlich für wachsende Müllberge? Darüber ist Streit entbrannt.

Auf der einen Seite steht: der Discounter Lidl mit Fernsehmoderator Günther Jauch. „Es lohnt sich, manchmal etwas genauer hinzusehen“, sagt er in einer Werbekampagne des Discounters für seine Einweg-Plastikflaschen. Das Unternehmen aus Neckarsulm verkauft darin zum Beispiel Wasser der Marke Saskia, nennt sie selbst Kreislaufflasche, behauptet, diese sei eine der ökologischsten Getränkeverpackungen, die es gibt.

Jauch gibt sich skeptisch, investigativ, geht der Frage nach: Wie kann das sein? Antwort: Aus alt werde neu, die Flasche bestehe zu 100 Prozent aus Recyclingmaterial, sei 50 mal leichter als Glas. Und für ihren Transport seien weniger LKW nötig. Schon seit einigen Tagen hängen allerorten dazu Plakate, laufen Spots im Internet, Radio, Fernsehen.

Mehrweg-Allianz kritisiert Jauch und Lidl für Einwegplastik

Auf der anderen Seite: die „Mehrweg-Allianz“. Zu ihr gehören die Deutsche Umwelthilfe, die Stiftung Initiative Mehrweg sowie Verbände des Getränkegroß- und -einzelhandels und der Privatbrauereien. Die Allianz startete Mittwoch eine Gegenkampagne. Es ist ein Gewinnspiel: „Wir verlosen einen Jahresvorrat an Freigetränken im Wert von 800 Euro. Und das 20 Mal. Egal ob Wasser, Limo, Saft oder Bier – Hauptsache in regionalen Mehrweg-Pfandflaschen!“

Die Allianz hält Lidl entgegen: Mehrwegflaschen aus Glas könnten bis zu 50 Mal wieder befüllt werden. Im Gegensatz dazu würden die 16,4 Milliarden Einwegplastikflaschen, die in Deutschland jährlich geleert werden, nur ein Mal benutzt und direkt zu Abfall. Auch Getränkedosen seien ein Problem: 4,5 Milliarden Stück gingen davon jährlich über die Ladentheken und verbrauchten 76 000 Tonnen Metall. Und nun?

Einweg-Plastikflasche von Lidl entspricht nicht den Anforderungen des Umweltbundesamts

Nachfrage bei Gerhard Kotschik, Experte für Verpackungen beim Umweltbundesamt. Er erklärt: „Lidl hat seine Flasche sehr, sehr optimiert, der Rezyklateinsatz ist hoch.“ So schneide die Flasche in der von Lidl beauftragten Ökobilanz gut ab. Aber die Flasche löse die Probleme nicht. Und das Vorgehen bei der Ökobilanz entspreche nicht den Mindestanforderungen des Umweltbundesamtes.

Es sei eben noch lange nicht gang und gäbe, dass jede Flasche so wie in der Lidl-Werbung wieder zu einer Flasche wird. In Deutschland würden bisher nur um die 45 Prozent aller Einwegflaschen aus Rezyklat produziert. Und selbst beim besten Willen werde das Lidl-Modell auch nie auf alle Einwegflaschen übertragbar sein.

Kein echter Kreislauf bei Einweg-Plastikflasche von Lidl

Damit die Lidl-Flasche zu 100 Prozent aus Rezyklat hergestellt werden kann, müsse immer an anderer Stelle neues Plastik eingesetzt werden. Den perfekten Kreislauf gibt es nicht. Das Problem, so Kotschik, erstens: „Verbraucher bringen nie alle Flaschen zurück. Da gehen welche verloren.“ Zweitens: „Im Recyclingprozess gibt es Materialverluste. Es braucht immer mehr als eine alte Flasche, um daraus eine neue zu machen.“ Sollen in Deutschland immer gleich viele Flaschen produziert werden, muss also irgendjemand neues Plastik nutzen. Entscheidend sei, sagt Kotschik, „möglichst wenig Abfall entstehen zu lassen, ihn zu vermeiden, auch um Ressourcen zu schonen. Dafür ist Mehrweg besser geeignet.“

Eigentlich sollen Mehrwegverpackungen bei bepfandeten Getränken laut Gesetz heute schon 70 Prozent ausmachen. Nur halten sich die Handelskonzerne nicht daran. Zur Rechenschaft gezogen werden sie dafür nicht. Lidl bietet gar keine Getränke in Mehrweg an. Konkurrent Aldi übrigens auch nicht.

Kotschiks Tipp für den Einkauf: „Mit Mehrweg-Flaschen, die in der Region abgefüllt werden, so dass lange Transportwege vermieden wurden, sind Sie auf der sicheren Seite.“

"Günthers Jauchs und Lidls Kreislaufflasche"

28.04.2023 09:40
Für Fairness im Job kämpfen - gegen jetzt illegale Leiharbeiterbehandlung
Leiharbeitskräfte verdienen häufig weniger als die Stammbelegschaft. Das regeln Tarifverträge. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs stellt diese Praxis nun infrage. Steffen Herrmann schreibt dazu in der Frankfurter Rundschau am 23.4.23:

„Seit 2011 arbeitet Marvin Hüther bei Volkswagen in Wolfsburg. Anders als seine Kolleginnen und Kollegen war der heute 28-Jährige aber viele Jahre nicht direkt bei VW angestellt. Hüther war Leiharbeiter. Die Folge: Für die gleiche Arbeit verdiente er deutlich weniger. Damals war das der Mindestlohn, acht Euro die Stunde. „Als Leiharbeiter ist man der letzte Mann in der Kette“, erzählt Hüther heute. Er habe sich benachteiligt gefühlt, der Druck sei groß gewesen. „Du kannst jederzeit rausgeworfen werden.“

Wie Hüther geht es rund 781 300 Menschen in Deutschland (Stand April 2022). Als Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter verdienen sie je nach Branche bis zu 40 Prozent weniger als die Stammbelegschaft. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linkspartei hervor, die der FR vorliegt.

„Es gibt eine starke Ausgrenzung“, sagt Wolfgang Däubler. Der renommierte Arbeitsrechtler kämpft seit vielen Jahren gegen die Diskriminierung der Leiharbeit. Und das erfolgreich: Im Dezember urteilte der Europäische Gerichtshof (EuGH): Leiharbeitende dürfen zwar schlechter bezahlt werden als die Stammbelegschaft – aber nur wenn sie dafür einen angemessenen Ausgleich bekommen. „Das ist ein großer Erfolg für Leiharbeiter“, sagt Däubler, der die erfolgreiche Klage beim Gang durch die Instanzen begleitet hatte.

Geklagt hatte eine Frau, die Anfang 2017 bei einem Leiharbeitsunternehmen angestellt war. Dieses überließ sie einem Einzelhandelsunternehmen, wo sie für 9,23 Euro pro Stunde arbeitete. Die Stammbelegschaft erhielt dagegen 13,64 Euro brutto. Die Frau klagte und forderte eine zusätzliche Vergütung in Höhe der Differenz. Nach dem Gang durch die Instanzen legte das Bundesarbeitsgericht (BAG) den Fall schließlich dem EuGH vor.

Der EuGH entschied nun, dass Leiharbeiter:innen den gleichen Schutz verdienen wie die Stammbelegschaft. Weichen Tarifverträge wie in Deutschland davon ab, müssen diese Tarifverträge den in der EU-Leiharbeitsrichtlinie vorgesehenen „Gesamtschutz“ der Leiharbeiter:innen einhalten. Das heißt: Wer weniger verdient, hat Anspruch auf Ausgleich, zum Beispiel in Form zusätzlicher Urlaubstage.

„Die bisherige Praxis in Deutschland ist damit nicht mehr legal“, sagt der Jurist Wolfgang Däubler. Seit 2004 sehen die deutschen Gesetze für Leiharbeitende Equal Pay und Equal Treatment vor, gleichen Lohn und gleiche Bedingungen. Doch die Gewerkschaften und die Arbeitgeber nutzen eine gesetzliche Öffnungsklausel, um in Tarifverträgen niedrigere Löhne zu vereinbaren. „Das geht künftig nur noch, wenn die Tarifverträge eine gleichwertige Kompensation vorsehen“, sagt Däubler.

Die Arbeitgeberverbände geben sich betont gelassen: Man werde abwarten, wie das Bundesarbeitsgericht auf die EuGH-Entscheidung reagieren werde, teilt der Bundesarbeitgeberverband der Personaldienstleister (BAP) mit. Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), mit dem die Arbeitgeberverbände die Tarifverträge verhandeln, lehnt ein Gespräch mit der FR zu dem Thema ab: Die zuständige Fachkollegin sei im Urlaub.

Die IG Metall lobt die EuGH-Entscheidung zwar als „gut für die Rechte und den Schutz der Leihbeschäftigten“, betont aber auch, dass der Europäische Gerichtshof „zur speziellen gesetzlichen und tariflichen Situation in Deutschland“ keine Stellung genommen habe. „Hier erwarten wir Konkretisierungen des Bundesarbeitsgerichts mit Blick auf Anforderungen an das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und Tarifverträge“, sagt ein Sprecher. Ähnlich ist die Position der Bundesregierung, wie Kerstin Griese, parlamentarische Staatssekretärin im Bundesarbeitsministerium, im Bundestag sagte.
Wolfgang Däubler kritisiert die abwartende Haltung der Gewerkschaften. „Es gibt einzelne Gewerkschafter, die es ganz gut finden, dass Leiharbeiter schlechter gestellt sind beim Lohn und beim Bestandsschutz. Sie sehen die Leiharbeiter als Polster für wirtschaftlich schlechte Zeiten, weil sie da als erste nach Hause geschickt werden. Solidarität sieht anders aus.“

Die Idee der Leiharbeit – auch Zeitarbeit oder Arbeitnehmerüberlassung genannt – kommt aus den USA. Seit 1972 ist sie hierzulande durch das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) geregelt: Arbeitskräfte werden von einem Verleihunternehmen, bei dem sie angestellt sind, einem anderen Unternehmen für eine bestimmte Zeit überlassen.

Mit den Hartz-Gesetzen flexibilisierte die rot-grüne Bundesregierung Anfang der 2000er-Jahre den deutschen Arbeitsmarkt und lockerte auch die Regeln für Leiharbeit. Daraufhin stieg die Zahl der Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter stark an, ihre Löhne lagen meist aber deutlich unter der jeweiligen Stammbelegschaft. „Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gib“, lobte sich Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 in Davos.

Und heute? Heute arbeiten knapp 61 Prozent der Leiharbeitskräfte in Vollzeit für ein Einkommen unterhalb der Niedriglohnschwelle, sie verdienen weniger als 2344 Euro pro Monat. In der Gesamtwirtschaft beziehen dagegen nur knapp 18 Prozent der Beschäftigten einen Niedriglohn. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Susanne Ferschl (Linkspartei) hervor, die der FR vorliegt.

Die Daten zeigen außerdem: Der Anteil ausländischer Leiharbeitskräfte ist deutlich gestiegen, von 26,6 Prozent im Jahr 2016 auf 43 Prozent im Jahr 2022. Ausländische Leiharbeiter:innen verdienen im Schnitt auch 470 Euro pro Monat weniger als deutsche Leiharbeitskräfte.

Für Susanne Ferschl ist nun die Ampel-Koalition gefordert: „Die Bundesregierung muss eine gesetzliche Klarstellung auf den Weg bringen und die Tariföffnungsklausel im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz streichen.“ Theoretisch bedeute das EuGH-Urteil für die einzelnen Beschäftigten zwar eine Verbesserung, sagt die Politikerin der Linkspartei zur FR. Ohne eine gesetzliche Klarstellung werde das aber in der Praxis kaum eine Auswirkung haben, denn jede und jeder Leiharbeitsbeschäftigte müsste individuell auf Gleichbehandlung klagen. Aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis passiere das allerdings so gut wie nie. „Das Nicht-Handeln der Bundesregierung verlängert die europarechtswidrige Ausbeutung der Leiharbeitsbeschäftigten.“

Das Bundesarbeitsgericht soll sein Urteil zur Leiharbeit am 31. Mai fällen. Aber auch dann werden einige Fragen offenbleiben: Wie könnte der Ausgleich aussehen, damit der Gesamtschutz bei niedrigeren Löhnen gewahrt ist? Jurist:innen rätseln auch, welche Folgen der konkrete Vergleich im Einzelfall hat, den der EuGH fordert. Und, vielleicht die wichtigste Frage: Verliert die Leiharbeit durch die Kompensation an Attraktivität für Unternehmen?

Marvin Hüther jedenfalls hat den Absprung geschafft. Seit 2017 arbeitet er festangestellt bei Volkswagen. Unter seine Zeit als Leiharbeiter zieht er ein gemischtes Fazit, trotz Druck, niedrigerem Lohn und Angst vor dem Jobverlust: „Die Leiharbeit ist nicht schlecht für Leute mit wenig Bildung, um in Firmen wie VW hineinzurutschen".“

14.04.2023 08:09
Gesetz gegen digitale Gewalt und gegen Hass im Internet
In rechten Kreisen kursieren Handbücher für Hassrede, die erklären, wie man Menschen online systematisch zerstört und zum Schweigen bringt. Jede Äußerung im Internet kann eine Welle von Hass nach sich ziehen. Jana Ballweber kommentiert in der Frankfurter Rundschau die Vorschläge des Bundesjustizministers Marco Buschmann:

„Ein Gesetz gegen Hass im Netz ist zwar überfällig, doch Buschmanns Entwurf verteilt Schritte gegen digitale Gewalt mit der Gießkanne, statt maßgeschneidert gegen die verschiedenen Vergehen vorzugehen. Der Kommentar.

Digitale Gewalt hat viele Ausprägungen. Rechte Trolle verabreden sich zu Shitstorms; Männer spielen ihren Partnerinnen Überwachungssoftware aufs Handy, um sie zu kontrollieren; private Daten werden veröffentlicht, um Menschen zu gefährden. Der Justizminister will Opfer digitaler Gewalt besser schützen. Ein Gesetz, das allen Formen mit maßgeschneiderten Mitteln etwas entgegensetzt, ist überfällig, um den digitalen Raum und damit die demokratische Teilhabe für alle zu sichern.

Doch stattdessen verteilt der Entwurf politische Maßnahmen mit der Gießkanne. Account-Sperren dürften in den meisten anonymen, organisierten Hasskampagnen wirkungslos sein. Das Recht, Auskunft über IP-Adressen von „Täter:innen“ zu erlangen, könnte in gleichem Maß für Todesdrohungen wie für gefälschte Restaurantbewertungen gelten. Messenger-Dienste werden ähnlich behandelt wie soziale Netzwerke, obwohl es deutliche Unterschiede bei den Dynamiken digitaler Gewalt gibt.

Gleichzeitig schwächt der Entwurf die Anonymität im Netz, was Opfer benachteiligt, die sich selbst schlechter schützen können, und ein mögliches Einfallstor für staatliche Überwachung wäre. Auf eine wirksame politische Regulierung müssen Betroffene also weiter warten.

Fachleute halten die Eckpunkte des Bundesjustizministers gegen Gewalt im Netz für nicht besonders wirksam. Denn Menschen hätten ohnehin mehrere Online-Profile“.

Markus Decker von der Frankfurter Rundschau erläuterte den Kontext:

„Das Eckpunkte-Papier von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) für ein entsprechendes Gesetz zur Eindämmung von Hass im Netz ist bei Fachleuten auf prinzipielle Zustimmung gestoßen. Allerdings fordern sie Nachbesserungen.

Aus den Eckpunkten ergibt sich, dass Betroffene von „schwerwiegenden Persönlichkeitsverletzungen“ unter gewissen Voraussetzungen per Gericht die Sperrung eines Accounts verlangen können. Eine Sperrung müsse laut Entwurf freilich verhältnismäßig sein und dürfe nur erfolgen, wenn andere Möglichkeiten wie die Löschung eines Beitrags nicht ausreichten. Zuvor soll der Inhaber oder die Inhaberin des Accounts von der jeweiligen Plattform auf ein Sperr-Ersuchen hingewiesen werden und Gelegenheit zu Stellungnahme haben. Buschmann will es Betroffenen ferner erleichtern, die Identität des Menschen zu erfahren, der Hass-Beiträge gegen sie verfasst hat.

Er betonte, bei dem Vorhaben gehe es nicht darum, die Meinungsfreiheit einzuschränken. „An den Spielregeln des demokratischen Diskurses wird das Gesetz nichts ändern. Was heute geäußert werden darf, darf auch künftig geäußert werden.“ Verringert werden solle aber der Aufwand für diejenigen, die im Internet bedroht, verleumdet oder beleidigt würden. Betroffene hätten es „oft unnötig schwer, ihre Rechte selbst durchzusetzen“, sagte der FDP-Politiker.

SPD, Grüne und FDP hatten in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, Opfer digitaler Gewalt mit einem Gesetz besser zu schützen. Viele Politiker:innen sind auch selbst betroffen und versuchen, mit juristischen Mitteln gegen entsprechende Posts und ihre Urheber vorzugehen – so etwa die Grünen-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Verbraucherschutzministerin Renate Künast. Die Sprecherin der Nichtregierungsorganisation Hate Aid, Josephine Ballon, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland:

„In der aktuellen Ausgestaltung gehen wir nicht davon aus, dass die Accountsperren eine besonders große praktische Relevanz haben werden.“ Schließlich müsse man sich „vergegenwärtigen, dass viele Menschen ohnehin mehrere Profile haben und sich innerhalb von wenigen Minuten mit anderen Daten auch einfach einen neuen Account anlegen können. Insofern ist bereits der konkrete Nutzen einer solchen Sperre fraglich.“

Aus prinzipiellen Gründen seien die hohen Hürden aber richtig, so Hate Aid. Dabei plädiert die Organisation nur dafür, dass bei Bedarf nicht allein Einzelpersonen, sondern auch NGOs gegen Accounts vorgehen können.

Bei der Erteilung von Auskünften über die Daten von Inhaber:innen der Accounts müsse noch „konkretisiert werden, wie Betroffene letztlich an die Daten gelangen“, so Ballon weiter. Ansprüche müssten möglichst in einem Durchgang geltend gemacht werden können. Und um die Kosten für Betroffene zu reduzieren, wenn sie juristisch tätig würden, sei es ratsam, den Gegenstandswert der Verfahren pauschal festzulegen, zum Beispiel auf 250 Euro. „Das würde die Kosten wenigstens senken, da aktuell von zirka 5 000 Euro pro Äußerung ausgegangen wird.“

Hate Aid fordert die Einführung eines gesetzlichen Schmerzensgeldanspruchs sowie einheitlicher elektronischer Anzeigenformulare. Es sei „nicht mehr zeitgemäß“, dass ein schriftlicher – sprich: analoger – Strafantrag gestellt werden müsse, heißt es.Der Kampf gegen Hass im Netz wird von wechselnden Bundesregierungen seit Jahren mit durchwachsenem Erfolg geführt. So sieht das Netzwerkdurchsetzungsgesetz zwar die Löschung rechtswidriger Inhalte vor. Messengerdienste wie Telegram oder digitale Netzwerke kommen dem indes nur ungenügend nach“.

"Hilfe bei Cyberattacken"

"Welche Cyberattacken es gibt und was sie bedeuten"

03.04.2023 10:05
Autobahnpläne der Bundesregierung ein Desaster
Die Prüfer des Bundesrechnungshofes gehen mit den Reformideen des Finanz- und Verkehrsministerium für die bundeseigene Autobahn GmbH hart ins Gericht. Sie sehen die Kontrollrechte des Bundestags in Gefahr. Der Spiegel (13/2023, S. 62) berichtet am 24.3.23:

„Die von Finanz- und Verkehrsministerium geplante Änderung des Gesellschaftsvertrags der bundeseigenen Autobahn GmbH stößt auf heftige Kritik des Bundesrechnungshofs (BRH). Die Prüfer aus Bonn nehmen in einem aktuellen Gutachten Anstoß daran, dass die Mitwirkungsrechte des Aufsichtsrats beschnitten, die Befugnisse der Geschäftsführung im Gegenzug gestärkt werden sollen.

»Einzelne Zustimmungsvorbehalte, wie zum Beispiel zum Erwerb von Unternehmen sowie zu Abfindungen bei der Beendigung von Arbeitsverhältnissen, sollen künftig ganz entfallen«, kritisiert das Gutachten, das dem SPIEGEL vorliegt. Die BRH-Experten bemängeln zudem, dass die Pläne des inhaltlich zuständigen Verkehrsministeriums darauf hinauslaufen, die Kontrollrechte des Bundestags ein­zuschränken.

Auch wollen sich die Prüfer nicht damit abfinden, dass sie künftig nicht mehr dafür zuständig sein sollen, die gesamte Haushalts- und Wirtschaftsführung der Autobahngesellschaft zu untersuchen. Sie sehen die Gefahr, »dass die präventive Kontrolle der Autobahn GmbH schwindet«.

Den Haushaltsausschuss fordert der BRH auf, die geplanten Änderungen abzulehnen, solange das Verkehrsministerium »nicht in jedem einzelnen Punkt überzeugend darlegt, weshalb sein Vorschlag im Interesse des Bundes ist«. Stattdessen empfehlen die Rechnungsprüfer, »die Kontroll- und Einflussmöglichkeiten des Bundes auf die Autobahn GmbH eher zu stärken«.

Gigantische Fehlkonstruktion

Die haushaltspolitische Sprecherin der Linksfraktion, Gesine Lötzsch, bestärkt das Gutachten in ihrer Auffassung, dass die Autobahn GmbH »eine gigantische Fehl­konstruktion« sei. Sie koste ein Vermögen. »Schon jetzt ist für den Bundestag nicht nachvollziehbar, wie diese Firma ar­beitet«, sagt sie.

Besonders pikant sei, dass Zustimmungen zu Abfindungen bei Beendigung von Verträgen ganz entfallen sollen. »Da arbeiten wohl schon einige Manager an ihren eigenen Abfindungen.« Die Autobahn GmbH brauche mehr Kontrolle, nicht weniger.

Die Gesellschaft verwaltet im Auftrag des Bundes das mehr als 13.000 Kilometer umfassende Autobahnnetz in Deutschland. Von ihrer Gründung versprach sich die Politik Effizienzgewinne bei Verwaltung, Planung und Bau der Autobahnen“.

27.03.2023 11:48
Banken und ihre Lobby finanzieren die Erderwärmung massiv
Schon 2012 zeichnete die Fairness-Stiftung die NGO Finance Watch in Brüssel mit dem "Fairness-Initiativpreis" aus. Nun macht sie auf schwerwiegende Akitivitäten der Banken aufmerksam, die mit ihrer Lobbyarbeit erfolgreich die Decarbonisierung verhindern. Deswegen führt die EU nun keinen Klima-Risikoaufschlag für den Klimaschutz ein. Die taz recherchierte und berichtete durch Christian Jakob und Jonathan Rap am 20.3. auf S. 4 wie folgt:

Kredite für Fossilenergie-Projekte sind eine Gefahr für die Welt. Der Bankenlobby gelang es, überfällige Regulierungen der EU abzuwehren.

Von Ugandas Ölfeldern an den Großen Seen zum tansanischen Hafen Tanga am indischen Ozean soll die East African Crude Oil Pipeline (EACOP) führen. Die Ölfelder liegen teils im ugandischen Murchison-Falls-Nationalpark, nicht weit von dort, wo eine der größten Schimpansen-Gruppen weltweit lebt. Und große Teile der 1.445 Kilometer langen Pipeline führen durch oder vorbei an Natur- und Landschaftsschutzgebieten.

Im Januar wurden am Albertsee die ersten Bäume gerodet. Ugandas Präsident Yoweri Museveni gab nach über zehn Jahren Verhandlungszeit den Startschuss für den Bau durch ein australisch-chinesisches Konsortium. Ab 2025 soll dann Öl fließen, 246.000 Barrel pro Tag, aufgeheizt auf 70 Grad, sonst wäre es zu zäh. Alles in allem werden dadurch bis 2050 rund 380 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente in die Atmosphäre gelangen, schätzt das Climate Accountability Institute. Rund 5 Milliarden Dollar soll der Bau kosten. 2 Milliarden bringen die Regierungen von Uganda, Tansania, der französische Energiekonzern Total und die China National Offshore Oil Corporation selber auf. Den Rest sollen externe Kreditgeber beisteuern.

Die EACOP ist nur eines von hunderten Projekten, mit denen Energiekonzerne die noch verbleibenden globalen Fossilvorkommen ausbeuten wollen. Sagenhafte 857 Milliarden Dollar wollen sie dafür allein bis 2030 ausgeben, so eine Studie der NGOs Global Witness und Oil Change International. Die Summe kommt zu den 4,6 Billionen Dollar hinzu, die internationale Banken nach Zahlen der Banking-on-Climate-Chaos-Studie zwischen dem Abschluss des Pariser Abkommens 2015 und 2021 schon an Krediten für fossile Projekte bereitgestellt haben. Kaum etwas trägt so viel dazu bei, die Ziele des Pariser Abkommens zu verfehlen, wie die Allianz aus Finanz- und fossiler Energiewirtschaft.

„Ermöglicher des Klimawandels“

„Die Banken sind die Ermöglicher des Klimawandels“, sagt Thierry Philipponat. Er war einst Manager bei der Eunext-Börse in Brüssel und der Londoner Future-Börse LIFFE. Heute ist er der Chefökonom der NGO Finance Watch in Brüssel. Dass sich ein womöglich einmaliges Zeitfenster öffnen würde, um

Das Wissen über die Klimakrise ist da, das gesellschaftliche Bewusstsein auch. Was fehlt, sind Konsequenzen: politische Entscheidungen, die die nötigen Veränderungen vorantreiben. Für diese Blockaden gibt es Verantwortliche. Es sind Akteure, die die Interessen klimaschädlicher Industrien vertreten, an diesen weiter verdienen oder die nicht aufgeben wollen, was keinen Bestand haben darf.

In einer vom Weltklimastreik am 3. März 2023 bis zur Klimakonferenz COP 28 in Dubai im Dezember laufenden Serie fragt die taz: Wer sabotiert die Entscheidungen, die das Klima und unsere Lebensgrundlagen retten? Wer blockiert, was nötig ist –und warum? Wer führt uns in die Krise?

An jenem Tag veröffentlichte die EU-Kommission ihr „Arbeitsprogramm“ für das angebrochene Jahr. Im Anhang, unter Punkt 21, findet sich darin ein unscheinbarer Eintrag: „Überprüfung der Rechtsvorschriften über Eigenkapitalanforderungen“ steht dort. Es geht, kurz gesagt, darum, die Lehren aus der Finanzkrise von 2008 in aktuelle Regeln für Banken zu gießen – unter anderem mit Blick auf die Folgen des Klimawandels. Das Schlagwort lautet „Basel III“ – ein internationales Regelwerk, um Bankenpleiten zu verhüten, das die EU in eigenes Recht umsetzen muss.

Nur Fachleute erkannten, welche politischen Möglichkeiten das dröge Reformvorhaben bot. Wie Philipponat. „In Anbetracht der kurzen Zeit, die zur Verfügung steht, ist spätes Handeln leider gleichbedeutend mit Nichtstun.“ Und so handelt Philipponat schnell. Vier Monate bevor die Kommission ihren Gesetzentwurf präsentiert, bringt er ein Papier heraus. Der Name: „Breaking the Climate-Finance-Doom-Loop“.

Sinngemäß soll das so viel heißen wie: „Den Teufelskreis zwischen Klimawandel und Finanzierung stoppen“. Die Annahme: Wenn Banken weiter Geld für klimaschädliche neue Fossilprojekte verleihen, gefährden sie dabei nicht nur das Klima – sondern auch sich selbst. Denn erstens drohen die Fossilprojekte durch die grüne Transformation ökonomisch zu scheitern, die vergebenen Kredite deshalb auszufallen. Zweitens gefährden die durch die Nutzung fossiler Energiequellen angeheizten Extremwetterereignise die Wirtschaft insgesamt. Und drittens drohen den Banken zunehmend Haftungsklagen.

Rot gekleidete Protestierende vor Konzernzentrale

Philipponats Vorschlag lautete: Die sogenannte Risikogewichtung für neue Fossilprojekte soll all das berücksichtigen – und deshalb drastisch angehoben werden. Vereinfacht gesagt: Wer Geld für neue Öl- und Gasfelder verleiht, soll künftig pauschal die gleiche Summe an Eigenkapital vorhalten müssen. Das soll die Bank bei Zahlungsausfall schützen. Bislang sind es teils nur 1,6 Prozent.

Der Energiekonzern Total, der Hauptbetreiber der East African Crude Oil Pipeline, etwa wird von der Ratingagentur Fitch in der zweithöchsten Kategorie AA- und damit auch von der Finanzaufsicht als „sichere Anlage“ eingestuft. Unter der heute geltenden Regelung müsste eine europäische Bank, die Total die 3 Milliarden für die Pipeline leiht, deshalb gerade einmal 48 Millionen Euro an Eigenkapital dafür vorhalten. Philipponats Vorschlag folgend müssten es bei neuen Projekten wie der Ostafrika-Pipeline künftig 3 Milliarden sein. Die Kreditvergabe würde so höchstwahrscheinlich unrentabel werden.

Viele Bemühungen um eine effektive Emissionsbegrenzung, vor allem durch einen höheren CO2-Preis, waren politisch bisher nicht durchsetzbar. Philipponats Vorschlag ist eine Chance, die Weiternutzung fossiler Energien trotzdem effektiv einzudämmen. „Ich war sehr enttäuscht, dass die Kommission sich in ihrem Entwurf nicht mit dem wohl größten Risiko für Finanzinstitute befasst hat“, sagt er – eine verpasste Gelegenheit. „Unsere Empfehlungen sind weit weniger radikal und viel billiger als die Maßnahmen, die als Reaktion auf die Covid-19-Krise ergriffen wurden. Aber sie zielen auf eine weitaus größere Bedrohung ab.“

Harte Maßnahmen waren nicht vorgesehen

Das leuchtete auch Parlamentariern ein. Nachdem Philipponat sein Papier an EU-Institutionen und Fachpolitiker verschickt hatte, brachten immerhin fünf MEPs auf seinen Vorschlägen fußende Änderungsanträge ein. Für die Grünen war das der Finne Ville Niinistö, für die Liberalen die Franzosen Pascal Canfin und Gilles Boyer und für die Sozialdemokraten Aurore Lalucq aus Frankreich und Paul Tang aus den Niederlanden. „Der Kommissionsvorschlag war schwach in Bezug auf den Klimaschutz“, sagt Tang. Denn im Gesetzentwurf der Kommission ist zwar ausführlich von der grünen Transformation die Rede. Harte Maßnahmen gegen das „Klimarisiko“ hatten von der Leyens Beamte aber nicht vorgesehen. Stattdessen sollte die Europäische Bankenaufsichtsbehörde EBA bis 2027 Vorschläge machen, wie das Klimarisiko für die Banken berechnet werden soll.

Die Verhandlungen im Ausschuss sind schwierig. „Die beiden Liberalen hatten ihre eigene Fraktion nicht hinter sich, die Konservativen und die extreme Rechte waren gegen die Klimarisiko-Aufschläge“, sagt Tang. Am 24. Januar 2023 lehnt der Ausschuss alle Änderungsanträge zu den Klima-Aufschlägen ab. Philipponats Vorschlag ist damit vom Tisch. „Er hatte im Ausschuss keine Chance“, sagt Tang. Der Entwurf geht nun in die sogenannte Trilog-Beratung von Rat, Parlament und Kommission. Dass dabei noch ein fester Klimarisiko-Zuschlag eingebaut wird, glaubt Tang nicht. „Da wird jetzt nichts mehr kommen.“

Die Chance, auf diese Weise zumindest europäische Kredite für klimazerstörende Energieprojekte in aller Welt zu erschweren, ist perdu. „Sehr enttäuschend“ sei das Votum des Ausschusses, sagt Thierry Phi­lip­ponat. „Der Bankensektor tut alles, was er kann, um sich gegen eine Erhöhung der Eigenkapitalanforderungen zu wehren.“

Die NGO Finanzwende hat untersucht, wie. „Der sogenannte Basel-III-Kompromiss ist das Ergebnis einer jahrelangen, intensiven Lobbykampagne von Banken und ihren Verbänden“, heißt es in einer Stellungnahme der NGO Finanzwende. „Banken und ihre Interessenvertreter gingen bei EU-Parlamentariern und der EU-Kommission ein und aus.“ So hätten sie zentrale Kapitalregeln für Banken verwässern können. „Gut für die Profite der Banken, schlecht für ihre Krisenfestigkeit.“

Zwischen November 2021 und dem Tag der Abstimmung, am 24. Januar 2022, gab es nach Transparenzangaben des EU-Parlaments 190 Treffen der Abgeordneten mit „Interessenvertretern“. Vier dieser Treffen waren mit NGOs: Der deutsche Grüne Rasmus Andresen traf sich einmal mit Fridays for Future, zwei Abgeordnete trafen sich insgesamt dreimal mit Finance Watch. Die übrigen 186 Treffen waren mit Vertretern von Banken, Bankenverbänden und Vermögensverwaltern, vereinzelt auch von Kammern und öffentlichen Körperschaften.

368 Lobbytreffen

Bei den Lobbytreffen mit der EU-Kommission, die den ursprünglichen Entwurf formuliert hatte, sieht es fast genauso aus. Nach Zählung von Finanzwende gab es zum Thema Basel III seit Amtsantritt von Ursula von der Leyen 178 Treffen mit Interessenvertretern – davon ganze zwei mit Vertretern der Zivilgesellschaft, also NGOs. 176-mal hingegen sprachen von der Leyens Kabinett, EU-Kommissare und Generaldirektoren in Sachen Bankenregulierung mit der Finanzindustrie.

Die Treffen an sich sind völlig legal und politisch legitim. Das Missverhältnis, welche Stake­holder, wie es so schön heißt, sich aber in welchem Maß Gehör zu verschaffen vermögen und welche nicht, ist eklatant – und schlägt sich zweifellos in den Beschlüssen nieder.

Vor allem zwei Abgeordnete hatten sich nach taz-Informationen gegen die Klima-Aufschläge starkgemacht: der Ausgburger CSUler Markus Ferber und der österreichische ÖVP-Abgeordnete Othmar Karas.

„Kapital ist der Lebenssaft der europäischen Wirtschaft. Wir müssen sehr genau aufpassen, dass die neuen Eigenkapitalvorschriften für Banken den europäischen Unternehmen nicht die Kreditversorgung abdrehen“, hatte Ferber, ein ehemaliger Siemens-Ingenieur und Vorsitzender der Hans-Seidel-Stiftung, während der Beratungen auf seiner Webseite geschrieben. „Das Bankenaufsichtsrecht ist nicht der richtige Ort für Klimaschutzdebatten.“ Es ist exakt das Argument, das auch die Banken selbst immer wieder vortragen werden.

Schon die zahnlosen Vorschläge der EU-Kommission für eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsaspekten hatte Ferber vehement abgelehnt: „Die Bankenaufsicht muss sich allein am Risiko orientieren, andernfalls droht sich eine Finanzkrise wie im Jahr 2008 zu wiederholen – nur diesmal mit grünem Vorzeichen. Der Weg in die nächste Krise ist gepflastert mit guten Vorsätzen“, sagte Ferber 2021.

„Let's talk Finance“

Ein Interview lehnt er ab – und verweist an den für das Thema zuständigen Berichterstatter Karas. Auch der will sich nicht öffentlich äußern. Sein Mitarbeiter verweist darauf, dass die EU-Bankenaufsicht nun bis 2025 Vorschläge für die Behandlung der Klimarisiken machen soll.

Karas hat 14 Jahre in der Bank- und Versicherungswirtschaft gearbeitet, bevor er Vollzeitpolitiker wurde. Heute ist er Vorsitzender des European Parliamentary Financial Services Forum, einer Arbeitsgruppe aus EU-Parlamentariern und Vertretern der EU-Finanzwirtschaft. „Let’s talk Finance“ ist das Motto. Auch Markus Ferber ist hier im Vorstand. „Chair“ der Gruppe ist der Niederländer Wim Mijs, der Manager des Europäischen Bankenverbandes EBF. Und der hat eine tragende Rolle dabei gespielt, die schärferen neuen Bankenregeln zu verhindern.

Gewiss ging es bei den Lobbytreffen auch um andere Aspekte der Regulierung als nur um die Klima-Aufschläge. Doch die zu kippen war den Banken wichtig. Mindestens vier Positionspapiere zur Eigenkapitalrichtlinie brachte der Bankenverband EBF heraus. Unter anderem heißt es darin: „Auch wenn die Banken die EU-Ziele unterstützen und von ihnen erwartet wird, dass sie ihre Strategien daran ausrichten, müssen Geschäftsmodell und Geschäftsstrategie in der Verantwortung der Leitungsgremien der Banken bleiben.“ Soll heißen: An Gas- und Ölverfeuerung weiter mitzuverdienen, ist unser Recht. Weiter schreibt der EBF: Jegliche Kapitalzuschläge, die die EU allein beschließt, würden „die Wettbewerbsfähigkeit sowohl der EU-Industrie als auch des Finanzsektors gegenüber den Volkswirtschaften außerhalb der EU untergraben“.

Beim EBF leitet Gonzalo Gasós die Abteilung für Bankenaufsicht. Gasós nannte strengere Eigenkapitalanforderungen für Banken durch die EU schon 2016 einen „Schuss in den eigenen Fuß“. In öffentlichen Auftritten wandte er sich mehrfach gegen die Risiko-Aufschläge beim Eigenkapital, unter anderem bei einem Podium der Florence School of Finance and Business im Juni 2022. Höhere Eigenkapitalanforderungen für bestehende Fossilkredite würden die Banken zu höheren Rücklagen zwingen. Die Folge sei fehlendes Geld zur „Finanzierung des Übergangs europäischer Unternehmen zu kohlenstoffarmen Produktionsmethoden“, behauptete Gasós dort. Der Übergang würde schließlich rund 500 Milliarden Euro kosten. „Wir brauchen also alle unsere Mittel, um dieses ehrgeizige Projekt zu finanzieren.“
Fossile Kredite „sehr stark mit Risiken behaftet“

Gleichzeitig hält der EBF aber daran fest, dass die Banken weiter günstig Geld für Fossilprojekte verleihen dürfen sollen. Von „Lobby-Mythen“ sprach Finance Watch nach der Veranstaltung. „Viele Argumente sind technisch unsinnig, werden aber so oft wiederholt, dass sie geglaubt werden und als Argumente des öffentlichen Interesses erscheinen“, sagt Thierry Philliponat dazu.

Eine Interviewanfrage lehnt auch Gasós ab. Über eine Sprecherin lässt er ausrichten, dass es nicht Ziel der Bankenaufsicht sei, „eine Klimapolitik festzulegen, und auch nicht der Wunsch, bestimmte Unternehmen unrentabel zu machen“, eine Rolle spielen dürfe. Zudem sei ein erhöhter Risikoaufschlag innerhalb der EU unwirksam, weil dann Banken von außerhalb der EU das Geschäft machen.

Laura Mervelskemper ist bei der GLS Bank in Bochum für „Wirkungstransparenz & Nachhaltigkeit“ zuständig. „Fossile Energien sind sehr stark mit Risiken behaftet, die aktuell wenig eingepreist werden“, sagt sie. Müssten die Risiken angemessen eingepreist werden, würde sich „vieles nicht mehr lohnen.“ Das Risikomanagement auszuweiten sei deshalb richtig. Dass dies nicht geschehe, „könne an einem Lobbying liegen.“ Mervelskemper sagt, dass Beratungen und Lobbyismus natürlich stattfinden dürfen. „Aber die Meinungen, die eingeholt werden, sollten möglichst objektiv, faktenbasiert und auf jeden Fall divers sein und nicht nur die Meinung weniger.“

Viele Positionen der konventionellen Banken deckten sich nicht mit jenen der Wissenschaft zu ökologischen Fragen – sonst gäbe es einen „ganz anderen Blick auf die Risiken, die wissenschaftlich bereits großflächig erfasst wurden und erwartbar sind“, sagt Mervelskemper. Dann würde viel stärker dafür gesorgt werden, dass „diese Risiken auch integriert werden – dazu sprechen wir auch mit anderen Finanzinstitutionen und der Politik.“ Doch noch werde „viel zu viel außerhalb transparenter und geregelter Formate abgesprochen, was nicht dem gesellschaftlichen Zweck dient“. Allzu oft gehe es dabei um finanzielle Interessen zu Lasten von Umwelt und Gesellschaft. „Das darf nicht passieren.“

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