13.01.2025 10:25
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Biodeutsch? Das krass unfaire Unwort
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Der Begriff „biodeutsch“ ist zum „Unwort des Jahres“ 2024 gekürt worden. Das gab die Jury der sprachkritischen „Unwort“-Aktion am Montag in Marburg bekannt.
Der Begriff sei im vergangenen Jahr verstärkt im öffentlichen und gesellschaftlichen Sprachgebrauch sowie vor allem in den sozialen Medien verwendet worden, „um Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich biologischer Abstammungskriterien einzuteilen, zu bewerten und zu diskriminieren“, begründete die Jury ihre Entscheidung.
Nach einer ursprünglich ironisch-satirischen Verwendung werde der Begriff „biodeutsch“ seit mehreren Jahren sehr gedankenlos und wörtlich gemeint genutzt. „Dabei wird „Deutschsein“ naturbezogen begründet, um eine Abgrenzung und Abwertung von Deutschen mit Migrationsbiographie vorzunehmen“, hieß es in der Begründung. Die mit dem Gebrauch von „biodeutsch“ einhergehende Unterteilung „in angeblich „echte“ Deutsche und in Deutsche zweiter Klasse ist eine Form von Alltagsrassismus“, hieß es.
Auf Platz zwei landete der Begriff „Heizungsverbot“. Der im Zusammenhang mit dem Gebäudeenergiegesetz verwendete Ausdruck sei irreführend und verwendet worden, um klimaschützende Maßnahmen zu diskreditieren.
Die Jury der institutionell unabhängigen und ehrenamtlichen Aktion „Unwort des Jahres“ besteht aus vier Sprachwissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, einer Journalistin sowie jährlich wechselnden Mitgliedern.
„Importierter Antisemitismus“ persönliches Unwort
In diesem Jahr beteiligten sich die Publizistin und Politologin Saba-Nur Cheema sowie Meron Mendel, Publizist, Historiker und Pädagoge sowie Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Sie kürten den Begriff „importierter Antisemitismus“ zu ihrem persönlichen Unwort. Der Ausdruck suggeriere, dass Judenhass vor allem mit dem Zuzug von Migrantinnen und Migranten zu einem Problem geworden sei, hieß es in der Begründung. Der Begriff werde vor allem in rechten Kreisen verwendet, um Musliminnen und Muslime sowie Menschen mit Migrationsbiographie auszugrenzen „und vom eigenen Antisemitismus abzulenken“, erklärte die Jury.
Jüdisches Leben auf dem Rückzug: Weißer Ring empört
Die Zahl antisemitischer Straftaten ist seit dem Angriff der Hamas auf Israel sprunghaft angestiegen – und die Angst und Jüdinnen und Juden vor Gewalt steigt. Längst befindet sich jüdisches Leben in Deutschland auf dem Rückzug, stellt die neue Bundesvorsitzende des Weißen Rings klar und fordert Haltung.
Das „Unwort des Jahres“ wird nach verschiedenen Kriterien aus Vorschlägen ausgewählt, die Bürgerinnen und Bürger jeweils bis 31. Dezember eines Jahres einsenden können. Insgesamt gab es dieses Mal 3172 Einsendungen, das waren erneut deutlich mehr als im vorangegangenen Jahr. Sie enthielten 655 verschiedene Ausdrücke, von denen rund 80 den Kriterien der Jury entsprachen. Als „Unwort des Jahres“ kommen nach Angaben der Verantwortlichen Begriffe und Formulierungen infrage, die gegen die Prinzipien der Menschenwürde oder Demokratie verstoßen, die gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind. Wie häufig ein Begriff vorgeschlagen wurde, ist nicht entscheidend für Kür zum „Unwort“ des Jahres.
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30.12.2024 15:32
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2024 - 2025
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Wir wünschen Ihnen einen guten Jahresausklang 2024 und ein gutes neues Jahr 2025 mit Resilienz wider alle Unfairness und gutes Know How zur Verbesserung von Fairness-Qualität und Fairness-Kultur! Wir werden es alle brauchen können. Gerne sind wir in 2025 wieder für Sie ab 7.1.2025 da!
Jutta Schmidt M.A. und Dr. Norbert Copray
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23.12.2024 09:23
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Fairness-Abkommen eine Chance auf faire Kommunikation
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SPD, CDU, CSU, Grüne, FDP und Linke haben sich auf ein Fairnessabkommen im Bundestagswahlkampf geeinigt. In einer am Sonntag veröffentlichten Erklärung heißt es, man wolle bei aller notwendigen Klarheit, Kontroverse und auch Härte respektvoll miteinander debattieren. Auf persönliche Herabwürdigungen oder Angriffe auf das persönliche oder berufliche Umfeld werde man ebenso verzichten wie auf bewusste Falschinformationen.
Nun müssen sie zeigen, dass sie die Regeln auch einhalten. Die Wählerinnen und Wähler haben einen Wahlkampf verdient, der Inhalte in den Mittelpunkt stellt, kommentiert Alisha Mendgen vom RND.
Nach den Erfahrungen in den Europa- und Landtagswahlkämpfen mit persönlichen Übergriffen auf Plakatkleber unterstreichen die Parteien zudem, dass die Sicherheit der Wahlkämpfe gewahrt und Plakate der politischen Konkurrenten nicht zerstört werden dürfen. Veranstaltungen sollten nicht gegenseitig gestört werden. Im Online-Wahlkampf soll der Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei Bild-, Video- oder Tonmaterial klar gekennzeichnet werden.
Das Letzte, was die deutsche Gesellschaft braucht, ist ein schmutziger und spaltender Wahlkampf. Insofern ist es eine gute Nachricht, dass sich die demokratischen Parteien nach langem Hin und Her auf ein Fairnessabkommen geeinigt haben. Jetzt kommt es darauf an, dass sich SPD, Union, Grüne, FDP und Linke an ihre eigenen Regeln halten – sonst sind sie das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.
Die Parteien verpflichten sich beispielsweise, auf „persönliche Herabwürdigungen“ und auf Desinformation zu verzichten. Plakate des politischen Gegners dürfen nicht beschädigt werden, und von Künstlicher Intelligenz generierte Videos müssen entsprechend gekennzeichnet sein.
Respektvolle Debatten über Inhalte notwendig Am besten legen sich die Politikerinnen und Politiker diese Vereinbarung sichtbar auf den Schreibtisch, falls sie doch einmal in Versuchung geraten sollten, davon abzuweichen.
Die vergangenen Wochen deuteten nämlich eher darauf hin, dass dieser kurze Wahlkampf in Teilen niveaulos werden könnte. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nannte Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz „Fritze“, und CSU-Chef Markus Söder lehnte eine Koalition mit „Heiz-Grünen“ und „Gender-Grünen“ ab.
Bärbel Bas: „Bedenkt, wie unser Auftreten bei den Menschen ankommt“
Bei Ausdrücken wie diesen handelt es sich nicht nur um Verunglimpfungen und Populismus, sie sind auch eine Beleidigung der Intelligenz der Wählerinnen und Wähler: Die Bevölkerung will eine Auseinandersetzung über die besten Lösungen für aktuelle Herausforderungen sehen – davon gibt es genug – und nicht Beleidigungen wie im Kindergarten.
Gewiss: Wahlkampfzeiten sind turbulente Zeiten. Aber ein Grundsatz muss immer gelten: hart in der Sache, respektvoll in der Sprache. Vor allem eine Partei hält davon gar nichts: die in weiten Teilen rechtsextreme AfD. Gerade deshalb müssen die demokratischen Parteien auf Anstand setzen.
Fairer Wahlkampf vor allem durch Social Media gefährdet
Zudem betonten die Unterzeichner der Erklärung: "Mit der AfD und mit Parteien, die nicht auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen, wird es keinerlei Zusammenarbeit geben."
BSW lehnt Abkommen als selbstgerecht ab
Das Bündnis Sahra Wagenknecht lehnt das Fairnessabkommen ab. Generalsekretär Christian Leye sagte, die Vereinbarung habe keinen Sinn, wenn man "diejenige Partei nicht mit an den Tisch setzt, auf die sich diese Problematik hauptsächlich bezieht."
Zudem sei das Abkommen unehrlich und selbstgerecht, wenn die beteiligten Parteien zugleich "Falschbehauptungen über das BSW" verbreiteten. Leye verwies auf einen Tweet von CSU-Chef Markus Söder, wonach das BSW von Moskau gesteuert sei. Leye kündigte an, das BSW werde eine Selbstverpflichtung für einen fairen Wahlkampf abgeben.
Mit Material von MDR/AFP/dpa
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19.12.2024 10:01
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Mehr Fairness im Finanzbereich ist unbedingt nötig
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Die ehemalige Staatsanwältin Anne Brorhilker spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über die Folgen des Cum-Ex-Betruges, die schwierige Suche nach den Schuldigen und das Vorbild Greenpeace. Sie vollzog einen spektakulären Rollenwechsel: Aus Anne Brorhilker, der bekanntesten Staatsanwältin Deutschlands, wurde die Co-Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende. Elf Jahre lang hatte die Ermittlerin zuvor versucht, den Cum-Ex-Skandal, den größten Steuerbetrug der Nachkriegsgeschichte, aufzuklären. Doch sie musste erfahren, dass der politische Wille dazu fehlte. Im Interview mit der FR spricht die 51-Jährige jetzt über die Milliarden-Schäden für die Steuerzahler:innen sowie über Defizite und Fehler von Justiz und Politik:
„Frau Brorhilker, Sie waren durch Ihren Kampf gegen Finanzkriminalität Deutschlands bekannteste Staatsanwältin, bevor sie im Frühjahr 2024 zur Bürgerbewegung Finanzwende wechselten. Haben Sie nicht dadurch stark an Macht und Einflussmöglichkeit verloren?
Ich sehe das nicht so. Auch als Staatsanwältin ermittelt man nicht allein, sondern im Team mit anderen Ermittlern und muss die Anklagen dann noch vor Gericht durchbringen. Effektive Strafverfolgung ist daher auch immer das Ergebnis der gemeinsamen Arbeit vieler. Wenn es jetzt darum geht, über die Bürgerbewegung Finanzwende Druck auf politische Entscheidungsträger auszuüben, um bessere Rahmenbedingungen für eine effektive Strafverfolgung zu schaffen, dann funktioniert das auch umso besser, je mehr Bürgerinnen und Bürger mitmachen. Und ich bin zuversichtlich, dass das gelingt, denn beim Thema Finanzkriminalität haben viele Menschen in Deutschland das Gefühl, dass es nicht gerecht zugeht.
Sie haben elf Jahre lang in Fällen von Cum-Ex und Cum-Cum ermittelt, also bei Finanzkriminalität, durch die der Staat um Milliarden von Euro betrogen wurde. Wie viele Fälle konnten abgeschlossen werden und wie viele Beschuldigte wurden verurteilt?
Nicht nur durch die Staatsanwaltschaft Köln, sondern auch durch die Kollegen in Frankfurt am Main und München wurden bereits zahlreiche Personen angeklagt, alle Anklagen wurden durch die Gerichte eröffnet und führten zu öffentlichen Hauptverhandlungen. Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, diese Ermittlungen in den sehr komplizierten Fällen überhaupt zum Abschluss zu bringen. Ermittlungen im Bereich von Wirtschaftskriminalität sind häufig sehr langwierig, weil sich die betroffenen Banken und Beschuldigten mit Händen und Füßen wehren. Beweismittel wurden systematisch ins Ausland verlagert, so dass die Ermittlungsbehörden die ausländischen Behörden um Rechtshilfe bitten müssen und diese sehr formalistischen Rechtshilfeverfahren dauern oft mehrere Jahre. Zudem müssen häufig riesige Datenmengen ausgewertet werden, was die technischen Möglichkeiten von Ermittlungsbehörden oftmals an ihre Grenzen bringt.
Cum-Ex-Skandal: 1500 Beschuldigte in Deutschland
Bei Cum-Ex und Cum-Cum gibt es gegenwärtig etwa 1500 Beschuldigte bundesweit. Ist das nicht ein riesiges Missverhältnis zwischen der gesamten Bandbreite der Fälle und den tatsächlichen Verurteilungen?
Nicht jeder Beschuldigte wird am Ende auch tatsächlich angeklagt. Die hohe Zahl der Beschuldigten klingt immer so, als wäre da noch ein riesiger Berg abzuarbeiten, aber tatsächlich ist das für eine Staatsanwaltschaft ein relativ normales Volumen. Aber klar, die Fälle sind teils sehr kompliziert und das Dunkelfeld ist noch riesig, gerade bei Cum-Cum. Deshalb braucht es einfach mehr Ermittler bundesweit. Nötig ist auch, dass das Ermittlungspersonal nicht dauernd ausgetauscht wird, sondern die Möglichkeit hat, überhaupt Fachexpertise aufbauen zu können. Derzeit folgen Behörden aber meist noch Konzepten der Personalrotation und das ist für den Aufbau von Fachexpertise kontraproduktiv. Viele der Fälle reichen ins Ausland, viele Beschuldigte sind im Ausland abgetaucht. Das ist richtig. Deshalb gilt: Wir brauchen für Fälle schwerer international organisierter Steuer- und Finanzkriminalität ein zentrales Ermittlungs-Team auf Bundesebene. Wenn diese Fälle nicht mehr auf Behörden in ganz Deutschland verteilt wären, deren Aufgabe es eigentlich ist, lokale Kriminalität zu bekämpfen und die auf internationales und spezielles Fachwissen erfordernde Ermittlungen oft nicht ausgerichtet sind, dann würde man im Ergebnis weniger, dafür aber speziell geschultes Personal einsetzen können. Das würde sicherlich zu viel mehr Effektivität der Ermittlungen führen. Eine solche Einheit könnte beispielsweise beim Bundeskriminalamt angesiedelt werden oder auch bei einer Behörde wie dem geplanten Bundesamt zur Bekämpfung von Finanzkriminalität. Wichtig ist, dass Steuerkriminalität dabei nicht außen vor gelassen wird. Das können wir uns wegen der Milliardenschäden, die durch Steuerhinterziehung verursacht werden, schlicht nicht leisten. Das ist daher eine dringende Aufgabe der nächsten Bundesregierung.
Wie hoch ist der Schaden, der durch Cum-Ex und Cum-Cum für den Staat entstanden ist? Konservative Schätzungen gehen von zehn Milliarden Euro Schaden bei Cum-Ex und 28,5 Milliarden Euro bei Cum-Cum aus. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass es noch mehr ist. Bei vielen Banken waren diese Betrugsmethoden absolut üblich, das haben mehrere Kronzeugen vor den Gerichten bestätigt.
Nicht mal ein Prozent der gestohlenen Milliarden konnten zurückgeholt werden Die Gerichte fordern stets auch die Rückzahlung von hinterzogenem Geld an den Staat. Wieviel Geld konnte denn bisher schon zurückgewonnen werden?
Die Zahlen sind nicht offiziell bekannt. Selbst wenn man bei Cum-Ex großzügig von eine Milliarde Euro ausgehen würde, wäre das immer noch nur ein Bruchteil der insgesamt entstandenen Schadenssumme. Bei Cum-Cum ist die Lage noch viel dramatischer. Das Bundesfinanzministerium hat in diesem Jahr mitgeteilt, dass etwa 200 Millionen Euro zurückgewonnen werden konnten. Das ist nicht mal ein Prozent der geschätzten gesamten Schadenssumme, und diese Summe beruht noch auf sehr konservativen Schätzungen.
Seit Sie Co-Geschäftsführerin der Bürgerbewegung Finanzwende sind, wächst die Organisation.
Ja, das freut mich sehr. Wir wollen unsere Bewegung natürlich weiter ausbauen, noch mehr Experten gewinnen und weiter an Schlagkraft zulegen. Wir haben seit meinem Wechsel zu Finanzwende bereits erfolgreich eine Kampagne gegen das Bürokratie-Entlastungsgesetz der Bundesregierung gefahren und innerhalb kürzester Zeit über 300.000 Unterschriften für eine Petition sammeln können. Das zeigt mir, dass viele Menschen möchten, dass sich bei der Strafverfolgung von Wirtschaftskriminalität etwas ändert.
Wie groß ist der Apparat der Bürgerbewegung Finanzwende derzeit? Wir haben 36 festangestellte Mitarbeitende. Dazu kommen noch externe Experten, sogenannte Fellows und ehrenamtliche Mitarbeiter. Und wir verfügen derzeit über 12.500 Fördermitglieder.
Welche Größe, welche Schlagkraft wollen Sie erreichen? Was ist ihr Ziel?
Wenn wir so groß wären wie Greenpeace, wäre das natürlich super. Aber auch kleinere Hebel können große Dinge bewegen, wenn man sie richtig ansetzt. Es geht mir vor allem darum, ein Bewusstsein für Finanzkriminalität in der Öffentlichkeit zu schaffen. Finanzthemen betreffen uns alle. Aber über Finanzkriminalität wird nicht gesprochen. Und wenn, dann wird seitens der Politiker häufig so kompliziert gesprochen, dass es kaum jemand versteht. Das wollen wir ändern.
Was kann Finanzwende dagegen tun?
Ein wichtiger Teil unserer Tätigkeit ist zunächst einmal die Öffentlichkeitsarbeit. Wir haben zum Beispiel gerade einen Bericht zur Lobbyarbeit der Sparkassen in Deutschland veröffentlicht. Dann verfügen wir über eine Tochtergesellschaft, die wissenschaftliche Studien erstellt – zu Greenwashing bei Anlageprodukten ebenso wie zu Finanzinvestoren in Arztpraxen, das Themenfeld ist da sehr breit. Ein anderer wichtiger Teil unserer Arbeit sind öffentliche Protest-Aktionen, Petitionen und Offene Briefe.
Es geht also um Aufklärung.
Finanzwende will das Gegengewicht zur Finanzlobby aufbauen – und dafür ist Aufklärung der zentrale erste Schritt. Menschen müssen wissen, was da passiert – denn nur wer das weiß, kann sich auch dagegen wehren“.
Zur Person: Anne Brorhilker ist Geschäftsführerin der Bürgerorganisation Finanzwende. Zuvor war die 51 Jahre alte Juristin Oberstaatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Köln. Dort ermittelte sie seit 2013 zu Cum-Ex-Betrug und ließ im Oktober 2014 eine weltweite Razzia durchführen. Brorhilker gilt bis heute als treibende Kraft der Ermittlungen. Im April 2024 verließ sie den Staatsdienst und kritisierte die aus ihrer Sicht zu schwache Aufstellung der Justiz.
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10.12.2024 10:49
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Fairness gegenüber Menschen mit psychischen Belastungen völlig unzureichend
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»Es handelt sich um Menschenrechtsverletzungen, wenn Menschen mit psychosozialen Problemen mit dem Hinweis auf eine Krankheit und ihre Folgen verwehrt wird, in einer eigenen Wohnung zu leben oder einen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt anzustreben. Es ist auch eine Menschenrechtsverletzung, wenn sie sich in akuten Krisen in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik behandeln lassen müssen.« Dirk Richter. Menschenrechte in der Psychiatrie
Genau heute vor 76 Jahren erfolgte die Verkündung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen. Der 10. Dezember wird jährlich von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International genutzt, um auf die Verletzungen der Menschenrechte in den unterschiedlichen Ländern hinzuweisen.
Dass auch die psychische Gesundheit ein Menschenrecht ist, machte António Guterres letztes Jahr zum Welttag der psychischen Gesundheit deutlich: »Psychische Gesundheit ist kein Privileg, sondern ein grundlegendes Menschenrecht – und sie muss Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung sein. Die Regierungen müssen eine Versorgung bereitstellen, die die Gesundung der Betroffenen fördert und ihre Rechte wahrt.«
Wie genau es um die Menschenrechte in der psychiatrischen Versorgung bestellt ist, erörtert Prof. Dr. Dirk Richter in seinem Buch »Menschenrechte in der Psychiatrie« "Richters Buch"
Er ist sicher, dass Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie nicht mit dem Inklusionsansatz der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar sind.
Wie Prävention, Reduktion und Alternativen zu Zwangsmaßnahmen in der Praxis aussehen können, zeigen die Autor*innen Martin Zinkler, Klaus Laupichler und Margret Osterfeld in ihrem Buch »Prävention von Zwangsmaßnahmen«. Bei schwierigen ethischen Situationen in psychiatrischen Arbeitsfeldern bietet das interdisziplinär ausgerichtetes Praxisbuch »Ethik in der Psychiatrie« zusätzlich Hilfestellung. Es informiert über Grundlagen und Rahmenbedingungen und diskutiert Fälle aus dem Arbeitsalltag aller beteiligten Berufsgruppen.
Weitreichende Gedanken über die Zukunft der Psychiatrie machen sich Matthias Heißler und Arno Deister. »Psychiatrie ohne Betten« ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Alternative zur stationären Behandlung. Wie zukünftig eine ethische, soziale und partizipative Psychiatrie aussehen könnte, versucht Arno Deister im Gespräch mit engagierten Expert*innen zu beantworten.
"Zu den genannten Büchern"
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02.12.2024 14:52
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Unfairness gegenüber Menschen mit Handicap - Eine Lösung wäre möglich
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Menschen mit Behinderung finden nur schwer einen Job. 1,6 Millionen Schwerbehinderte in Deutschland haben keinen Arbeitsplatz. In Deutschland sind 1,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung nicht auf dem Arbeitsmarkt integriert, zeigt das neue Inklusionsbarometer.
Aktion Mensch kritisiert, dass jedes vierte Unternehmen gar keine Menschen mit Behinderung beschäftigt. Firmen zahlen demnach lieber eine Ausgleichsabgabe, als sich mit dem Thema Inklusion zu beschäftigen. Menschen mit Behinderung haben am Arbeitsmarkt einer Studie zufolge schlechtere Karten als früher. Aus dieser Gruppe seien im Oktober in Deutschland 177.280 Menschen arbeitslos gewesen und damit sieben Prozent mehr als ein Jahr zuvor, heißt es in einer Untersuchung des Handelsblatt Research Institutes und des Vereins Aktion Mensch. Die Wirtschaftskrise gehe für Menschen mit Behinderung im Hinblick auf Chancengerechtigkeit mit einem deutlichen Rückschritt einher, sagte Christina Marx, Sprecherin von Aktion Mensch.
Bereits im vergangenen Jahr hatte sich die Situation verschärft: 2023 lag die Arbeitslosenquote von Menschen mit Schwerbehinderung den Angaben zufolge bei durchschnittlich 11 Prozent und damit 0,2 Prozentpunkte höher als 2022. Schätzungsweise 46.000 Arbeitgeber hatten keine schwerbehinderten Beschäftigten, obwohl sie sie hätten haben müssen – das waren 1000 mehr als ein Jahr zuvor.
Behinderung am Arbeitsplatz - Inklusion im Berufsleben: Woran hakt es?
Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland im erwerbsfähigen Alter haben eine Schwerbehinderung, doch nur etwa ein Drittel von ihnen geht einer regulären Beschäftigung nach. Dabei gibt es eigentlich gesetzliche Regelungen. Ab 20 Mitarbeitenden sind Arbeitgeber verpflichtet, schwerbehinderte Menschen zu beschäftigen. Das sind den Angaben zufolge rund 179.000 Unternehmen in Deutschland. Erfüllt ein Arbeitgeber die Pflichtquote von fünf Prozent nicht, muss er für jeden unbesetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe bezahlen.
Schlechte Konjunktur sei eine Ausrede, moniert Aktion Mensch
Der Anteil der Unternehmen, die alle Pflichtplätze besetzen, lag 2023 den Angaben zufolge nur bei 38,5 Prozent und damit 0,5 Prozentpunkte niedriger als ein Jahr zuvor. Das sei ein Tiefstwert, heißt es von Aktion Mensch. Insgesamt beschäftigt jedes vierte Unternehmen keine Menschen mit Behinderung. Die Inklusionsbarometer genannte Studie kommt seit 2013 jedes Jahr heraus, sie basiert vor allem auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit. Die meisten Behinderungen entstehen im Laufe des Lebens, nur drei Prozent sind angeboren.
Die Privatwirtschaft stellt relativ wenige Menschen mit Behinderungen ein. Aktion-Mensch-Sprecherin Marx sagt dazu: „Eine schlechte Konjunktur greift als Erklärung nicht weit genug – schließlich klagt die Wirtschaft zunehmend über den Fachkräfte – wie auch den Arbeitskräftemangel allgemein.“ Unternehmen besetzen die Arbeitsplätze aber nicht mit den vielen gut qualifizierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit Behinderung, moniert Marx.
Schwerbehinderte werden häufiger gekündigt als noch vor einem Jahr
Kritisch ist der Studie zufolge auch, dass die Firmen ihren schwerbehinderten Beschäftigten häufiger gekündigt haben als zuvor. Gingen beim Integrationsamt im Jahr 2022 noch rund 17.000 Kündigungen ein, so waren es 2023 schon rund 21.000. Kündigt eine Firma einem Menschen mit Behinderung, so muss dies bei dem Amt beantragt haben. Damit die Kündigung gültig wird, ist die Zustimmung des Amts nötig. Vorher wird geprüft, ob nicht doch eine Weiterbeschäftigung möglich ist, etwa mit staatlichen Zuschüssen.
In Deutschland gibt es den Angaben zufolge 3,1 Millionen Menschen mit einer schweren Behinderung, die zwischen 15 und 65 Jahre alt sind – also weitestgehend in einem Alter, in dem sie arbeiten könnten. Rund 1,1 Millionen dieser Menschen sind bei Firmen beschäftigt, die mindestens 20 Angestellte haben. Schätzungsweise rund 200.000 Menschen mit Behinderung sind bei kleineren Firmen tätig. Abzüglich junger Menschen, die noch zur Schule gehen, und älteren Menschen, die schon in Frührente sind, sind es laut Aktion Mensch circa 1,6 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung, die nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind.
Der Sozialverband Deutschland zeigte sich besorgt. „Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht Vertreterinnen und Vertreter der deutschen Wirtschaft über den Fachkräftemangel öffentlich jammern“, sagte der Verbandsvorsitzende Michaela Engelmeier. Aus Bequemlichkeit, Überforderung und anderen vorgeschobenen Gründen nutze die Wirtschaft nicht das vorhandene Potenzial von gut ausgebildeten Menschen mit Behinderung oder Schwerbehinderung. Staat und Politik schauten einfach zu. „Vom allzu oft propagierten echten „inklusiven Arbeitsmarkt“ ist Deutschland bewiesenermaßen noch meilenweit entfernt“, moniert Engelmeier.
Die Caritas sieht es ähnlich kritisch und fordert mehr Rückendeckung aus den Chefetagen. „Arbeitsuchende mit einer Behinderung haben dann Chancen auf einen Job, der ihren Stärken entspricht, wenn die Betriebskultur Diversität und Nichtdiskriminierung großschreibt“, sagt Wolfgang Tyrychter, der Vorsitzende des Caritas-Bundesverbandes Behindertenhilfe und -Psychiatrie.
RND/dpa
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22.11.2024 08:25
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Mehr Fairness im Internet - Verbot von Tracking und personalisierter Werbung
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Überwachungswerbung missachtet die Privatsphäre und die informationelle Selbstbestimmung. Die neue EU-Kommission soll mit dem angekündigten Digital Fairness Act ein Verbot von personalisierter Werbung auf den Weg bringen. Der Chaos Computer Club CCC schreibt dazu:
Datenschutz ist in Europa ein Grundrecht, die klaren Prinzipien der EU-Datenschutzgrundverordnung gehören durchgesetzt. Personalisierte Werbung mit Tracking, Profilbildung oder Verhaltensanalysen sollte daher endlich als das behandelt werden, was sie ist: ein gefährlicher Manipulationsmechanismus, der nicht normalisiert werden darf. Die Fairness gegenüber den Nutzern und schon gar nicht deren Grundrechte dürfen durch solche Überwachungswerbung weiterhin ausgehebelt werden. Sie schadet dem Einzelnen und der Gesellschaft als Ganzes.
Zusammen mit der Wikimedia Deutschland, dem FifF, Germanwatch und dem Konzeptwerk Neue Ökonomie fordern wir: Die neue EU-Kommission soll ein Verbot von personalisierter Werbung auf den Weg bringen. Der erst kürzlich angekündigte Digital Fairness Act kann dafür genutzt werden, um ein Verbot von Tracking und personalisierter Werbung durchzusetzen.
Wenn sich digitale Angebote fast ausschließlich über personalisierte Werbung finanzieren, birgt das erhebliche Gefahren für die Demokratie, den sozialen Zusammenhalt, die informationelle Selbstbestimmung, das Klima und die nationale Sicherheit. Mit dem Gesetz über Digitale Dienste (Digital Services Act, DSA) und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat die EU wichtige Grundsteine zum Schutz von Online-Nutzer:innen gelegt. Gleichzeitig zeigen Reaktionen großer Unternehmen auf diese Regelungen, dass ein Paradigmenwechsel im Online-Werbemarkt erforderlich bleibt, da die Freiheit vor manipulativen Praktiken durch die Werbeindustrie beharrlich untergraben wird.
Auch der kürzlich veröffentlichte Digital Fairness Check kommt zu dem Schluss, dass das EU-Verbraucher:innenrecht nicht ausreicht, um Bedenken hinsichtlich der kommerziellen Personalisierung im digitalen Raum auszuräumen. Als Teil der digitalen Infrastruktur sollten sich Plattformen von der Überwachung Einzelner zu Vermarktungszwecken lösen. Alternative (z. B. kontextbasierte) Werbemodelle eröffnen Möglichkeiten, Menschen jenseits des allgegenwärtigen Trackings und Targetings zu erreichen und sie dadurch in Datenverarbeitungsprozessen zu schützen. Um alternative Werbemodelle zu stärken, sollte die neue EU-Kommission digitale Fairness ernst nehmen und ein Verbot von personalisierter Werbung auf den Weg bringen.
"Mehr und detaillierte dazu im PDF"
"Wie Sie gegen unfaire Geschäftspraktiken vorgehen können"
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12.11.2024 12:24
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Wenn der Staat Finanzkriminalität nicht ausreichend verfolgt, ist er krass unfair
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Bis April galt sie als mächtigste Staatsanwältin Deutschlands. Dann quittierte sie den Dienst. Am Samstag (9. November) kam Anne Brorhilker in neuer Funktion nach Frankfurt. Als Co-Geschäftsführerin des Vereins Finanzwende rief sie die Menschen dazu auf, sich im Kampf gegen Wirtschaftskriminalität zu organisieren. Die Frankfurter Rundschau berichtet:
„Wenn man sich zusammenschließt, kann man viel erreichen!“, sagte sie bei einer Veranstaltung des Vereins Business Crime Control (BCC). Die 51-Jährige kritisierte scharf, dass die Justizbehörden in Deutschland gegen Wirtschaftskriminelle zu schwach aufgestellt seien. „Wir haben zu wenig Richter und zu wenig Staatsanwälte.“ Anne Brorhilker ermittelte zu Cum-Ex: Schaden der Steuerzahler bei 40 Milliarden Euro Bis zu ihrem Rückzug aus dem Staatsdienst war Brorhilker elf Jahre lang als Vorkämpferin gegen die Cum-Ex- und Cum-Cum-Kriminalität hervorgetreten. Bei diesen Tricks hatten deutsche und ausländische Banken Steuerrückerstattungen vom Finanzamt erschlichen, die ihnen nicht zustanden. Den entstandenen Schaden für die Steuerzahlenden bezifferte die Juristin auf rund 40 Milliarden Euro.
Zu dieser Summe beim größten Wirtschaftsverbrechen der Nachkriegsgeschichte habe sie vom entlassenen Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) „nichts gehört“.
Von dem angerichteten Schaden hätten Gerichte durch ihre Urteile bisher nur weniger als ein Prozent wieder zurückholen können.
Petition von 327000 Menschen gegen das Bürokratieentlastungsgesetz
Mit einer Petition, die bisher von 327.000 Menschen unterzeichnet wurde, kämpft der Verein Finanzwende gegen das neue Bürokratieentlastungsgesetz der Bundesregierung. Dieses soll es Unternehmen ermöglichen, Dokumente zu ihrem Geschäftsgebaren schon nach acht Jahren zu vernichten – während schwere Steuerhinterziehung erst nach 15 Jahren verjährt. Der Gesetzgeber hat allerdings zuletzt für Banken und für Finanzfonds die Gültigkeit dieser Regelung um ein Jahr verschoben. „Das macht Hoffnung!“, sagte sie.
Das Bürokratieentlastungsgesetz sei in Wahrheit „eine Mogelpackung“
Tatsächlich sollten „Beweismittel vernichtet“ werden. Die frühere Ermittlerin ging vor der Veranstaltung im Gespräch mit der FR auf die Motive für ihr Engagement bei Finanzwende ein. „Bei vielen Menschen gibt es ein Ohnmachtsgefühl, dass gegen Finanzkriminalität zu wenig geschieht“. Das sei „eine gefährliche Ausgangssituation.“ Die Menschen lenkten ihre Wut „in andere Kanäle“, so Brorhilker mit Verweis auf die Erfolge rechtsextremer Kräfte in Deutschland. Dagegen helfe nur Öffentlichkeit: „Das scheint mir der einzige Hebel zu sein.“ Die ehemalige Staatsanwältin ist schon mehrfach öffentlich aufgetreten und sprach von einem „Super-Interesse“ für ihre Veranstaltungen. Ressourcen ungleich: So werden Ermittlungen gegen Finanzkriminalität erschwert.
Nach ihren Worten führen die Justizbehörden in Deutschland in Sachen Cum-Ex und Cum-Cum gegenwärtig Ermittlungen gegen 1800 Beschuldigte. „Es gibt allerdings ein riesiges Dunkelfeld.“ Brorhilker hatte 2013 in Köln eines der ersten Ermittlungsverfahren wegen Cum-Ex eröffnet. Zuvor war bereits die hessische Generalstaatsanwaltschaft aktiv geworden.
Die Juristin verwies auf das sehr schiefe Kräfteverhältnis zwischen der Finanzwirtschaft in Deutschland und den Menschen, die sich gegen Finanzkriminalität engagierten. „Die Ressourcen sind ungleich verteilt.“ Die größten zehn Unternehmen der Finanzwirtschaft in Deutschland investierten im Jahr in ihre Lobbytätigkeit nur im politischen Raum 42 Millionen Euro. Dagegen verfüge der Verein Finanzwende beispielsweise gerade einmal über 30 Mitarbeitende. Brorhilker forderte, das öffentliche Register über Lobbytätigkeiten erheblich auszubauen und zu verschärfen. Es brauche mehr Transparenz. So sei es zum Beispiel für die Öffentlichkeit wichtig zu erfahren, wer an Gesetzentwürfen mitgearbeitet habe.
Olaf Scholz bei Cum-Ex verwickelt: Widerstände gegen die Ermittlungen
Die ehemalige Staatsanwältin unterliegt, wie sie in der Veranstaltung deutlich machte, einer dienstlichen Verschwiegenheit über einzelne Ermittlungsverfahren und Fälle. Sie wollte sich daher auch nicht im Detail zu den Cum-Ex-Verfahren im Zusammenhang mit der privaten Warburg Bank in Hamburg äußern. Dabei hatte die Stadt Hamburg der Bank die Rückerstattung einer zweistelligen Millionensumme an den Staat erlassen, die sie mit Cum-Ex-Tricks verdient hatte. Zuvor hatte es offenbar Treffen zwischen dem Sprecher der Warburg Bank, Christian Olearius, und dem damaligen Hamburger Bürgermeister und heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz gegeben. Während Olearius die Kontakte in seinem Tagebuch festgehalten hatte, behauptet Scholz, er könne sich nicht erinnern. Dazu sagte Brorhilker vor dem Publikum im Frankfurter Dominikanerkloster lediglich: „Es stand alles im Tagebuch!“ Und weiter: „Bei der Warburg Bank war offensichtlich, dass sie Rückhalt hatte von der Politik.“ Das Verfahren gegen Olearius war wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Bankiers eingestellt worden, „nicht wegen fehlender Beweise“, so die Juristin.
Sie berichtete zudem über erhebliche Widerstände gegen ihre frühere Ermittlungsarbeit als Staatsanwältin. „Ich wurde persönlich diskreditiert und als komische Person dargestellt, die Probleme mit Menschen hat.“
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05.11.2024 14:18
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Das Gegenteil von Fairness
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Da beschleunigt sich ein negativer Trend: Seit knapp anderthalb Jahrzehnten geht die Schere bei den Einkommen in Deutschland zunehmend auseinander. Schreibt Frank-Thomas Wetzel in der Frankfurter Rundschau am 5.11.24. Nun, von dem Trend habe Viele schon erfahren. Er manifestiert das Gegenteil von Fairness in der Gesellschaft. Doch – so schreibt Wetzel weiter: „diese Entwicklung gab es schon in den 2010er-Jahren. Doch mit Corona und dem anschließenden Inflationsschub hat sich insbesondere die Situation der Haushalte in der unteren Hälfte der Einkommensskala noch einmal verschärft. Auch tief in die Mittelschicht steigt die Angst der Menschen, ihren Lebensstandard nicht mehr halten zu können. Dies geht aus dem aktuellen Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervor, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört.
Das hat auch Auswirkungen auf die Demokratie: Sogar in der Mittelschicht sei mittlerweile die „politische Teilhabe teilweise brüchig“, schreiben die Studienautorin Dorothee Spannagel und ihr Kollege Jan Brülle. Eine zentrale Erkenntnis der Analysen ist, dass die Einkommen immer ungleicher verteilt sind – hier wurde ein neuer Höchstwert erreicht.
Der unter Forschenden international anerkannte Maßstab dafür ist der sogenannte Gini-Koeffizient. Er reicht von null (alle haben das gleiche Einkommen) bis 1 (eine einzige Person bekommt das gesamte Einkommen eines Landes). 2010 lag der Gini-Wert noch bei 0,282 – im Jahr 2021 war es 0,310. Dies ist auch für die Debatte über den Wirtschaftsstandort Deutschland relevant. Denn in Studien über Wettbewerbsfähigkeit spielt der Gini-Wert eine wichtige Rolle. Je niedriger er ist, umso höher wird die ökonomische und politische Stabilität eines Landes bewertet.
Die WSI-Expert:innen haben sich auch intensiv die Veränderungen angeschaut bei armen und prekären Haushalten sowie bei Personen, die zur „unteren Mitte“ der Einkommensskala gehören. Damit werden alle erfasst, die unter dem Mittelwert (Median) der verfügbaren monatlichen Nettoeinkünfte liegen – das sind 2240 Euro für einen Single.
Besonders drastisch ist die Zunahme bei Personen, die unter „strenger Armut“ leiden – also weniger als 1120 Euro monatlich für einen Ein-Personen-Haushalt. 2010 waren das noch 7,8 Prozent der Menschen in Deutschland. Ihre Zahl kletterte bis 2021 auf 11,3 Prozent. Hierbei handelt es sich um Frauen und Männer, die häufig noch nicht einmal mehr abgetragene Kleidung durch neue ersetzen können. Ins Kino gehen oder der Besuch einer Sportveranstaltung ist nicht drin. Es gibt keinerlei Rücklagen für finanzielle Notlagen.
All dies resultiert aus umfangreichen repräsentativen Umfragen des sozio-ökonomischen Panels, das aktuell bis ins Jahr 2022 reicht. Die Böckler-Stiftung hat in den Jahren 2020 und 2023 zudem 4000 Personen zu ihrer Lebenslage befragt. Ergebnis: 55 Prozent der Menschen in Armut äußerten im vorigen Jahr große oder sehr große Sorgen, ihren ohnehin niedrigen Lebensstandard dauerhaft halten zu können.
Breite Verunsicherung Aber auch bei einer Mehrheit (52 Prozent) der Haushalte in der unteren Mitte – mit maximal 2240 Euro pro Person – sind die Abstiegssorgen groß oder sehr groß. Das bedeutet ein Anstieg um 15 Prozentpunkte innerhalb von nur drei Jahren, die durch die Pandemie, einen Energiepreisschock und massive Ausschläge bei der Inflation geprägt waren.
Selbst in der oberen Mittelschicht hat sich Verunsicherung drastisch ausgebreitet. Die Gruppe der Menschen, die um ihren Lebensstandard fürchten, ist zwischen 2020 und 2024 von 32 auf 47 Prozent in die Höhe geschnellt.
Diese Entwicklung ist eng mit einer wachsenden Enttäuschung über die Demokratie verknüpft. Mehr als die Hälfte der Menschen in Armut und in prekären Verhältnissen ist mit der Demokratie nicht mehr zufrieden. In dieser Gruppe stimmt gut ein Drittel der Aussage zu: „Die regierenden Parteien betrügen das Volk.“ Und immerhin jeder und jede Vierte in der oberen Mittelschicht hält dies ebenfalls für zutreffend. Dies geht einher mit einem verbreiteten Misstrauen gegenüber Polizei und Gerichten.
„Es ist entscheidend, das Teilhabeversprechen glaubhaft zu erneuern, das konstitutiv ist für eine demokratische, soziale Marktwirtschaft“, sagt WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch. Dabei müsse die Politik das Rad nicht neu erfinden. Es gelte bewährte Institutionen wieder zu stärken, die leider erodiert seien. Sie zählt auf: „Tarifverträge, eine auskömmliche gesetzliche Rente und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur.“
Wer diesem Trend, der Armut- und Prekariatsentwicklung nicht Einhalt gebietet wie der FDP-Boss Christian Lindner, befördert strukturelle Unfairness, die in individuelle Unfairness umschlägt und die Gesellschaft noch mehr unter Spannung setzt. Das nützt der AFD und ihren Helfershelfern. Will das Lindner, um seine Lobby zu bedienen und seine Macht zu zeigen? Lindner müsste dringend einen Crash-Kurs in Fairness-Denken und -Praxis absolvieren. Er sollte sich mit dem Buch „Freiheit, Fairness, Fortschritt –Zum normativen Profil liberaler Politik“ des kürzlich verstorbenen ehemaligen FDP-Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt befassen. Gibt es bei der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung. Oder gleich das Buch Fairness https://www.penguin.de/buecher/norbert-copray-fairness/ebook/9783641050924.
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