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09.06.2011 17:49
Unfairer Umgang mit Erwerbslosen  

Ist es Unfairness oder Inkompetenz? Beides. Wo inkompetent gehandelt wird, wo es auf Kompetenz ankommt, wird Unfairness praktiziert, wenn Menschen davon unmittelbar betroffen sind. Das zeigt sich sehr deutlich im Umgang mit Erwerbslosen.

Wie Studien an den Universitäten Dresden und Leipzig herausfanden, sind die Anforderungen an Erwerbslose häufig unrealistisch und gesundheitsgefährdend. Im Bericht heißt es: "Von Arbeitslosen werden Veränderungen verlangt, die viele Menschen in stabilen Verhältnissen kaum zu leisten in der Lage sind: finanzielle Einbußen, Veränderungen der Lebensführung, Veränderung zentraler Rollen, Umzüge, Trennung von der Familie bei wohnortfernen Arbeitsangeboten und unsicherer Perspektive“

Professorin Dr. Gisela Mohr und Kollegen fordern daher: "Viele Bewerbungen, hohe Arbeitsorientierung, starke Konzessionsbereitschaft und viel Optimismus sind falsche Forderungen an Arbeitslose." Hintergrund: Verschiedentlich erhalten ALG-II-Bezieher im Jobcenter die Aufforderung, eine möglichst hohe Zahl an Bewerbungsschreiben nachzuweisen, auch wenn die Erfolgschancen minimal sind. Das laufend negative Ergebnis entmutigt die Arbeitssuchenden, beschädigt ihr Gefühl der Selbstwirksamkeit und kann damit die emotionalen bzw. gesundheitlichen Voraussetzungen von Erwerbsfähigkeit ruinieren.

Die Wissenschaftler referieren "Untersuchungen, die zeigen, dass eine mittlere Arbeitsorientierung mit einer besseren psychischen Gesundheit einhergeht als eine hohe. Zu erklären ist dies damit, dass erfolglose Bewerbungen dann besser bewältigt werden können. Auch hier muss es also als Kunstfehler betrachtet werden, wenn sogenannte Motivationstrainings eine hohe Arbeitsorientierung in den Vordergrund stellen, statt die protektive Funktion eines mittleren Niveaus zu sehen. Offenbar stellt die Reduzierung der Arbeitsorientierung eine Anpassung an die gegenwärtige Lebenssituation dar und muss bei Langzeitarbeitslosen als Teil einer positiven Bewältigungsstrategie bewertet werden."

Ist der Arbeitslose bei einer Arbeitsplatzwahl zu hohen Konzessionen bereit, sehen die Wissenschaftler "potentiell die Gefahr einer beschleunigten Abwärtsspirale, da ein erheblicher Teil dieser Wiedervermittelten innerhalb eines Jahres wieder arbeitslos ist... Eine hohe Konzessionsbereitschaft und Arbeitsorientierung von ALG-II-Beziehern muß geradezu als Risikofaktor für eine gelingende Bewältigung von Arbeitslosigkeit betrachtet werden".

Angesichts des Studienergebnisses kommt an zudem auf den Gedanken, dass die praktizierte Inkompetenz gegenüber den Erwerbslosen und die Ignoranz gegenüber ihrer konkreten Situation Methode hat und mindestens latente Unfairness zum Ausdruck bringt. Offenbar sollen die Aktionen der Jobcenter Erwerbslose abschrecken, noch weiter Erwartungen zu haben oder gar ihre Rechte einzufordern. Wenn die Arbeitsagentur und Jobcenter von Kunden sprechen, muss man sich nur wundern. Hier ist der Kunde nicht König, sondern Bettelmensch. Damit er nicht wiederkommt und die rechtlich ihm zustehende Leistung gespart werden kann.

Der vollständige Bericht findet sich in:
Susann Mühlpfordt, Gisela Mohr, Peter Richter (Hrsg.): Erwerbslosigkeit: Handlungsansätze zur Gesundheitsförderung. Pabst, Lengerich/Berlin 2011, 180 Seiten.

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